Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich möchte hier gar nicht umständlich Waldrichs Hermannstaten erzählen. Genug, er war dabei, wenn's galt. Napoleon ward glücklich entkaisert und nach Elba geschickt, Waldrich kehrte nicht zurück, wie die übrigen Freiwilligen, sondern ließ sich gefallen, als Oberleutnant in ein Linien-Infanterieregiment zu treten. Das Leben gefiel ihm im Felde besser, als hinter den Aktenschanzen der staubigen Schreibstube. Sein Regiment machte auch den zweiten Zug gegen Frankreich mit und kehrte endlich, nach vollbrachtem Werk, unter Paukenschlag und Sing und Sang, in die Heimat zurück.
Waldrich, der in zwei Schlachten und mehreren Gefechten gestritten hatte, war so glücklich gewesen, ohne alle Wunden davonzukommen. Er schmeichelte sich, als einer der Vaterlandshelden zur Belohnung bald vorzugsweise eine bürgerliche Anstellung zu erhalten. Er war beim Regimente wegen seiner Liebenswürdigkeit und vielen Kenntnisse sehr geachtet. Allein mit der Anstellung ging es nicht so schnell, als er hoffte. Es waren zu viele Söhne und Vettern von Geheimräten, Präsidenten usw. zu versorgen, die so klug gewesen waren, andere in den heiligen Krieg ziehen zu lassen, aber für ihre Person zu Hause zu bleiben; auch hatten sie wohl vor ihm das Ansehen der Geburt voraus. Denn Waldrich stammte nur von bürgerlichen Eltern.
So ließ es sich nicht ändern. Er blieb Oberleutnant, und um so lieber, weil ihm Herr Bantes, sein gewesener Vormund, längst den winzigen Rest seines väterlichen Erbteils ausgehändigt hatte, und dieses längst schon zu allen Heiden ausgewandert war. Er trieb sich also in der Besatzung umher, machte in den Wachtstuben Gedichte und auf den Paraden philosophische Betrachtungen. Dies gab ihm bittere Langweile, bis einmal die Truppen verlegt wurden. Da traf es sich ganz unerwartet, daß seine Kompanie Befehl erhielt, nach Herbesheim in Besatzung zu gehen. An der Spitze seiner Kompanie – denn der Hauptmann, ein reicher Baron, war auf Urlaub – rückte er als Kommandierender in sein Vaterstädtchen ein. Oh, wie ward ihm beim Anblick der zwei schwarzen, hochgespitzten Türme und des alten, wohlvertrauten, grauen Torturms. Vor dem Rathause schwieg die Trommel. Ein paar Ratsherrn brachten die Quartierbilletts. Der Kommandierende, versteht sich, ward ins vornehmste, das ist ins reichste Haus der Stadt einquartiert, also auch zu Herrn Bantes. Angenehmeres hätte ihm der gesamte löbliche Stadtrat nicht erweisen können.
Die Kompanie schied gar vergnügt auseinander, denn es war um die beliebte Mittagsstunde, und die ehrsame Bürgerschaft, von der Einquartierung zeitig belehrt, hatte sich auf den Empfang der neuen Gäste vorbereitet. Waldrich, der die beiden Ratsherren noch von seiner Knabenzeit her wohl kannte, bemerkte, daß er ganz unkenntlich geworden sein müsse; denn sie behandelten ihn fremd und ehrerbietig, und führten ihn, obwohl er es ablehnte, selbst zum Hause des Fabrikherrn. Hier empfing ihn Herr Bantes ebenso fremd, und führte ihn gar höflich in ein sehr artiges Zimmer.
»Herr Kommandant,« sagte Herr Bantes, dieses und die anstoßenden Zimmer hatte auch Ihr Herr Vorfahre; nehmen Sie vorlieb. Machen Sie sich's bequem, und dann erwarten wir Sie zum Essen und dergleichen. Tun Sie, als wären Sie zu Hause.«
Unseren Waldrich belustigte sein unerwartetes Inkognito. Er nahm sich auch vor, es erst bei irgendeiner passendern Gelegenheit aufzuheben, um dann die Überraschung zu vermehren.. Sobald er die Kleider geändert hatte, ward er zu Tische gerufen.
Er fand da, außer Herrn Bantes und dessen Frau Gemahlin und einigen alten Schreibern und Fabrikaufsehern, die er noch alle recht gut kannte, auch ein junges Frauenzimmer, das er nicht kannte. Man setzte sich. Man sprach vom Wetter; vom heutigen Tagesmarsch der Kompanie; von dem Bedauern der ganzen Bürgerschaft, daß die bisherige Garnison, mit der man ungemein zufrieden gewesen wäre, in eine andere Stadt verlegt worden sei.
»Ich hoffe indes,« sagte Waldrich, »Sie werden mit mir und meinen Leuten nicht unzufrieden sein. Lassen Sie uns nur heimisch werden bei Ihnen.«
Um nun heimisch zu werden, war es natürlich, daß der Kommandant, der sich schon gewundert hatte, daß seine Jugendgespielin Friederike im Hause fehle, der er immer die fünfzehn Louisdor schuldig geblieben war – daß er, sag' ich, seine Wirte fragte, ob sie keine Kinder hätten.
»Eine Tochter!« antwortete Frau Bantes, und zeigte auf das junge Frauenzimmer, das bescheiden die Augen zum Teller niedersenkte.
Waldrichs Augen aber gingen voller Verwunderung über Gebühr weit auf. Hilf, heiliger Himmel, welch ein höheres Wesen ist das kleine Riekchen geworden! So rief Waldrich nun eben nicht, aber er dachte es doch bei sich, wie er jetzt die Bescheidene aufmerksamer ansah. Er sagte den Eltern etwas Verbindliches, so gut er es in der ersten Bestürzung aufzubringen wußte, und war herzlich zufrieden, als der alte Papa rief: »Noch einen Löffel Sauce und dergleichen, zu Ihrem trockenen Braten da, Herr Kommandant!«
Frau Bantes sprach von einem Sohne, der ihr schon als Kind früh verstorben war, und noch immer sprach sie mit bewegtem Mutterherzen.
»Laß gut sein, Mama!« rief der Papa. »Wer weiß, er wäre am Ende vielleicht auch ein Windbeutel und dergleichen geworden, wie der Georg.«
Jetzt war die Reihe an Waldrich, die Augen bescheiden auf den Teller niederzusenken; denn mit dem Windbeutel Georg meinte man keinen anderen als seine eigene Wenigkeit.
»Aber wissen Sie denn, Papa, ob Georg wirklich solch ein Windbeutel geworden, wie Sie ihn sich vorstellen?« sagte Friederike. – Die Frage erwärmte den Kommandanten durchdringender, als das Glas alten Burgunders, das er eben angesetzt hatte, um seine Verlegenheit zu verbergen. In der Frage lag noch Spur ehemaliger Jugendfreundschaft, die nicht ganz vergessen zu sein schien. Eine solche interessante Frage, die über so interessante Lippen floß, und zwar mit einer so weichen, herzrührenden Stimme gefragt, konnte billig als Honigseim gelten, dem armen Waldrich die bittern Pillen zu versüßen, die Herr Bantes in vollem Maß spendete.
Denn dieser erzählte, um sein Urteil zu rechtfertigen, dem Gaste, als wenn der nun Schiedsrichter sein sollte, dessen eigene Lebensgeschichte von der Wiege an bis zum Zuge für das Vaterland. »Hätte der Bursch«, so schloß die Historie nutzanwendend, »auf der Universität etwas Rechtschaffenes gelernt, so wäre er nicht unter die Soldaten und dergleichen gegangen. Wäre er nicht Soldat geworden, säße er jetzt irgendwo als Gerichtsrat, Kriegsrat, Kanzleirat, Hofrat und dergleichen; hätte sein gutes Brot und Auskommen.«
»Ich weiß nicht,« entgegnete die Tochter, »ob er auf der Universität fleißig gewesen; aber ich weiß, daß er wenigstens mit guten Herzen ging, sich für eine heilige Sache zu opfern.«
»Komm mir doch nicht immer mit deiner heiligen Sache und dergleichen!« rief Herr Bantes. »Wo sitzt denn das heilige Zeug, frage ich? Die Franzosen sind fortgejagt. Nun ja. Aber das heilige Reich ist dennoch zum Kuckuck und zum Küster gegangen. Die alten Steuern sind provisorisch beibehalten, und neue sind provisorisch zugefügt. Die verdammten Engländer mit ihren Waren läßt man wieder zu, wie vorher, und bekümmert sich nicht darum, wenn wir heilige Deutsche darüber zu heiligen Bettlern werden. Alles ging auf der letzten Messe wieder flau. Die Minister und dergleichen essen und trinken wieder; machen, wie sie es wollen; verstehen den Handel nicht; lassen die Fabrikanten bankrott werden, und hilft kein A und kein O. Die Welt liegt wieder im alten, und noch ärger als im alten. Tut eine ehrliche Seele, die es vielleicht besser versteht, den Schnabel auf, will ein anderes Lied pfeifen, als die Exzellenzen da mit dem Kreuze über dem Knopfloch und der Gleichgültigkeit unterm Knopfloch – hast du nicht gesehen, kurz angebunden! Flugs mit der armen Seele in ein Loch, abgesetzt, inquiriert, abgeschmiert, ist ein demagogischer Umtreiber und dergleichen. Ich sage dir, schweig, Mädel, davon verstehst du nichts. Du muß nicht weiter über deine Teekanne sehen, als in die Tasse, dann schüttest du nicht nebenbei.«
Waldrich merkte aus dieser Unterhaltung, daß der alte Bantes noch immer der ehemalige lebhafte, aufflammende, wunderliche Mann war, dem man doch bei allen seinen Eigenheiten nicht böse werden konnte. Da nun in diesem Streite zwischen Vater und Tochter ein schiedsrichterlicher Spruch gefällt werden mußte, war der Kommandant so klug und gefällig, erst dem Vater vollkommen recht zu geben, im Punkte der heiligen Sache nämlich. Und das ward seinem Verstande allerdings zur Ehre angerechnet. Dann aber, weil er sich doch auch selbst nicht geradezu verdammen wollte, mußte er auch seiner Fürsprecherin recht geben, nämlich im Punkte des guten Herzens, mit dem sich Georg für die vermeinte Sache geopfert habe.
»Merke schon!« rief der Alte. »Der Herr Kommandant ist pfiffiger, als Hans Paris bei den drei törichten Jungfrauen von Troja und dergleichen. Macht sich's bequem; schneidet den Apfel in zwei Hälften und gibt jedem einen Bissen, sagt: wohl bekomm's!«
»Nein, Herr Bantes, Ihr Georg irrte, wenn er irrte, wahrscheinlich wie mehrere Tausend anderer deutscher Männer, und wie zum Beispiel ich selbst. Auch ich machte den Kriegsgang für die Befreiung Deutschlands mit, und ließ alles im Stich. Unsere Armeen, Sie wissen es, waren aufgerieben. Das Volk mußte aufstehen und sich selbst helfen, weil die Armeen nicht mehr helfen konnten. Da mußte man nicht rechnen und fragen, sondern zuschlagen, Gut und Blut daransetzen und die Ehre der Nation, den Thron unserer Monarchen retten. Das haben wir getan. Jetzt wollen wir das Heil erwarten. Unsere bessergesinnten Staatsmänner können auch nicht zaubern und das verlorene Paradies durch ein Taschenspielerstückchen sogleich wieder verjüngen. Ich wenigstens bereue meinen Schritt noch nicht.«
»Allen Respekt,« sagte Herr Bantes mit tiefem Verbeugen, »allen Respekt, Herr Kommandant, für Ihre Ausnahme von den Regeln. Dünkt mich übrigens spaßhaft oder ernsthaft, daß wir Bürger, Bauern, Kaufleute und Fabrikanten zwanzig Jahre lang unser Geld hergeben müssen, um im Frieden eine Armee von einigen Hunderttausend müßigen Beschirmern des Thrones zu ernähren, zu kleiden in Samt, Seide und Gold, und daß wir anderen dann im einundzwanzigsten Jahre, wenn die Beschirmer des Thrones zusammengehauen sind, selbst aufstehen und das Rad wieder ins Gleis bringen müssen und dergleichen.«
In solchen Gesprächen ward man schon beim ersten Mittagsmahl vertraulicher untereinander. Herr Bantes selbst gab dazu den Ton; denn er war ein Mann, und setzte einen Wert darauf, es zu sein, der kein Blatt vors Maul nahm, wie er sich gern auszudrücken pflegte. Dem Kommandanten war sein Inkognito zuweilen ganz behaglich dabei, doch wünschte er sehr, es zu enden.