Heinrich Zschokke
Der tote Gast
Heinrich Zschokke

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Die Erscheinung

Der tote Gast war nun das Gespräch über Tische bei der Mahlzeit. Man freute sich, bald mehr über ihn zu vernehmen und gewisse Auskunft über den Fremden in der heutigen Winterabendgesellschaft beim Bürgermeister zu erhalten, und wenn nicht aus offiziellem Munde des Stadthauptes, doch durch die Frau Amtsbürgermeisterin, die, ohne Hilfe geheimer Polizei, ununterbrochen eine wahre Tag- und Nachtchronik von Herbesheim hielt. Die Frauenzimmer fuhren sogleich nach Beendigung des nachmittäglichen Gottesdienstes zu ihr. Herr Bantes versprach, sobald es dunkel werden wollte, nachzukommen; er hatte noch einige Geschäfte mit Leuten aus seiner Fabrik abzutun, die er gewöhnlich an Sonntagnachmittagen zu sich kommen ließ.

Er war eben im Begriff, den letzten dieser Leute abzufertigen und sich auf den Weg zur Wintergesellschaft zu machen, als plötzlich ein durchschneidender weiblicher Schrei geschah. Herr Bantes und der Fabrikarbeiter erschraken heftig. Es war tiefe Stille.

»Sieh doch einmal nach, Paul, was begegnet ist!« sagte Herr Bantes zum Arbeiter.

Dieser ging, kam aber nach wenigen Augenblicken mit ganz verstörter Miene zurück und konnte kaum halblaut mit bebender Stimme sprechen: »Es verlangt Sie jemand zu sehen.«

»Nur herein!« sagte Herr Bantes ärgerlich. Paul öffnete die Tür und es trat ganz langsam ein Fremder herein. Es war ein hagere, langer Mann, in schwarzen Kleidern; das Gesicht zwar von angenehmen, feinen Zügen, aber bleich. Durch das dicke, schwarze Seidentuch um den Hals ward die Blässe noch gesteigert und recht totenhaft. Die saubere Kleidung, die äußerst feine Wäsche, deren Schneeglanz unter der schwarzen Seidenweste hervorstach, die reichen Ringe, die von den Fingern blitzten, der Anstand in allem Äußern verriet den Fremden als einen Mann von höherem Stande.

Herr Bantes starrte den Unbekannten an. Er sah den toten Gast vor seinen Augen; faßte sich aber, so gut er konnte, und sagte, indem er sich mit etwas erschrockener Höflichkeit gegen den Eintretenden verneigte, zum Arbeiter: »Paul, du bleibst hier! Ich habe dir nachher noch etwas zu sagen.«

»Es freut mich das Glück, Herr Bantes, Ihre Bekanntschaft zu machen!« sagte der Fremde leise und langsam. »Ich würde meine Aufwartung schon am Morgen gemacht haben, hätte ich nicht Ruhe von der Reise nötig gehabt und Furcht gehabt, Sie und die Ihrigen sogleich nach meiner Ankunft unangenehm zu belästigen.«

»Viel Ehre, viel Ehre!« erwiderte Herr Bantes mit einiger Verlegenheit. »Aber...« Es überfiel ihn ein unwillkürliches Grausen. Er traute seinen Augen kaum. Er rückte dem Fremden einen Stuhl hin und wünschte ihn hundert Meilen weit von sich.

Der Fremde verneigte sich langsam, nahm Platz und sprach: »Sie kennen mich nicht; aber erraten ohne Zweifel, wer ich bin?«

Es ward dem Herrn Bantes, als sträubten sich unter seiner Perücke alle Haare bergan. Er schüttelte höflich und ängstlich den Kopf und sagte mit erzwungener Freundlichkeit: »Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen.«

»Ich bin Hahn, der Sohn Ihres alten Freundes!« sprach der tote Gast mit hohler Stimme und lächelte den Alten an, dem das Lächeln das Herz erstarrte.

»Sie haben keinen Brief von meinem alten Freund?« fragte Herr Bantes. Jener wickelte eine prächtige Brieftasche auf und übergab ein Schreiben. Es enthielt nur wenige Zeilen zur Empfehlung und die Bitte, dem Überbringer alles zur Eroberung des Herzens der Braut zu erleichtern. Die Schriftzüge hatten wohl viel Ähnlichkeit mit der Hand des alten Bankiers, doch schien etwas Fremdartiges darunter.

Herr Bantes las lange und las wieder, nur um Zeit zu gewinnen, und zu überlegen. In ihm war ganz natürlich alles Widerspruch und Kampf. Er wollte als ein aufgeklärter Mann, trotz dem unwillkürlichen Grauen, nicht glauben, daß er den berüchtigten toten Gast vor sich habe; aber ebensowenig wollte er und konnte er sich überzeugen, daß der Sohn seines Freundes eben genau in Wesen und Gestalt der aus Sagen vielbekannten Gestalt des entsetzlichen Gastes gliche. Hier war weder Gaukelei der Einbildungskraft noch des Zufalls denkbar. Er sprang geschwind auf, bat um Verzeihung, er müsse seine Brille suchen, die Augen wären ihm etwas dunkel und entfernte sich, um nur in dieser Verlegenheit zur Besonnenheit zu kommen. Wie Herr Bantes ins Nebenzimmer ging, griff auch Paul nach dem Schlosse der Stubentür. Der tote Gast wandte langsam sein Gesicht gegen diesen, und mit einem Sprunge, an allen Gliedern bebend, war Paul zur Stube hinaus und kam nicht wieder, bis er Herrn Bantes vom Nebenzimmer zurückkehren hörte.

Herr Bantes hatte wirklich in der Eile überlegt, und in der Eile einen verzweifelten Entschluß gefaßt. Noch ungewiß, welchen Gast er vor sich habe, wollte er wenigstens die arme Friederike nicht geradezu in die Hände des Zweideutigen ausliefern. – Er trat demselben nicht ganz ohne Herzklopfen näher und sagte mit Achselzucken und Bedauern: »Hören Sie, mein wertester Herr von Hahn, ich hege für Ihre Person alle Hochachtung. Indessen haben sich hier Dinge ereignet, äußerst fatale Dinge, die ich nicht voraussehen konnte. Hätte Sie doch uns die Ehre erwiesen, früher zu kommen! Seitdem hat sich zwischen meiner Tochter und dem Kommandanten der hiesigen Besatzung ein Liebeshandel entsponnen – Verlobung und dergleichen; – das vernahm ich erst vor wenigen Tagen. Der Hauptmann ist mein Pflegesohn; er war einst mein Mündel. Was konnte ich tun? Gern oder ungern, ich mußte mein Ja sagen. Ich hatte mir vorgenommen, morgen Ihrem Herrn Vater die Widerwärtigkeit zu melden, ihn zu bitten, Sie nicht zu bemühen. Es schmerzt mich sehr. Was wird mein alter Freund von mir denken!«

Weiter konnte Herr Bantes nicht reden, denn die Stimme ging ihm vor Entsetzen aus. Der Gast ihm gegenüber hatte nicht nur, wider alle Erwartung, ganz kalt und ruhig zugehört, sondern die Miene desselben, vorher still und düster, heiterte sich sogar bei den Wörtern »Liebeshändel« – »Verlobung« sichtbar auf, als wenn es ihm eben recht um ein Mädchen zu tun wäre, das einem anderen schon Hand und Herz verschenkt hätte. Auch entging Herrn Bantes nicht, daß das bleiche Gesicht, als hätte es sich verraten, schnell wieder den vorigen Ernst, mit sich selbst zufrieden, herzustellen suchte.

»Beunruhigen Sie sich deswegen nicht!« sagte der Herr von Hahn, »weder meines Vaters noch meinetwillen nicht!«

Herr Bantes dachte bei sich: Ich verstehe dich schon! Aber nun war es ihm doppelt darum zu tun, den aus der Sage wohlbekannten schrecklichen Verführer für immer von Friederike abzuhalten.

»Ich sollte Sie«, sprach er, »freilich nicht im Wirtshause lassen, sondern bitten, bei mir im Hause vorlieb zu nehmen. Allein eben jene Geschichte mit dem Kommandanten und meiner Tochter und dergleichen – Sie begreifen, wie es da geht, einen zweiten Bräutigam in Abwesenheit des anderen und dergleichen – und dann, Sie begreifen wohl – die Leute in einer so kleinen Stadt schwatzen gleich mehr als sie wissen. Auch hat meine Tochter...«

»Ich bitte, keine Entschuldigung!« sagte der Sohn des Bankiers. »Ich bin im Gasthofe nicht übel. Ich verstehe Sie. Wenn Sie mir nur erlauben, dem Fräulein meine Aufwartung machen zu dürfen.«

»Aber, Sie...«

»Denn in Herbesheim gewesen zu sein und die Braut, die mir bestimmt gewesen, nicht gesehen zu haben, ich könnte es nicht bei mir selbst verantworten.«

»Allerdings, Sie sind...«

»Ich sollte den Herrn Kommandanten beneiden. Alles, was man mir von der seltenen Schönheit und Liebenswürdigkeit des Fräuleins...«

»Sie sind zu gütig.«

»Mir wäre allerdings die größere Ehre widerfahren, in Ihre herrliche Familie aufgenommen worden zu sein, und der Sohn eines Mannes geheißen zu haben, von dem mein Vater nie ohne freundschaftliche Gefühle reden kann.«

»Gehorsamer Diener.«

»Darf ich bitten, dem Fräulein wenigstens vorgestellt zu werden?«

»Tut mir leid, sehr leid. Sie ist mit meiner Frau für diesen Abend in großer Gesellschaft, und – es ist Gesetz da, daß man keinen Fremden, unter keinerlei Vorwand, einführen darf. Also...«

»In der Tat liegt mir für diesen Abend wenig daran, ich fühle mich noch ermüdet. Noch weniger liegt mir daran, sie in großer Gesellschaft zu sehen, wo man mehr oder minder beengt ist. Gern sähe ich sie in ihrem häuslichen Wesen.«

Herr Bantes machte eine stumme Verbeugung.

»Noch lieber, und das gewähren Sie mir doch gütigst? möchte ich dem Fräulein einmal unter vier Augen, wenn ich sagen darf, vertraulich manches mitteilen, was...«

Herr Bantes erschrak. Er dachte bei sich: Da haben wir's, der marschiert in gerader Linie auf sein Ziel los! – Er räusperte sich. Der Fremde schwieg nun und erwartete, ob Herr Bantes reden wollte; da dies nicht geschah, fuhr jener fort: »Ich hoffe, durch meine Mitteilungen das Fräulein vielleicht in betreff meiner auf richtigere Ansichten zu leiten; und vielleicht, indem ich sie über Verschiedenes beruhigen kann, mir ihre Achtung zuzusichern, die mir durchaus unter gegenwärtigen Umständen nicht ganz gleichgültig bleibt.«

Herr Bantes versuchte mancherlei Wenn und Aber zu entgegnen, um dies wahrscheinlich von Folgen begleitete vertrauliche Unter-vier-Augen abzulehnen. Er sprach in der Angst viel, aber verworren und aus Höflichkeit dunkel. Der tote Gast aber verstand ihn gar nicht, oder schien ihn nicht verstehen zu wollen, und ward immer zudringlicher. Desto peinlicher ward die Stellung des Herrn Bantes, der sein schönes Kind schon von jener Scheingestalt und ihren verruchten Künsten umgarnt und mit umgedrehten Köpfchen sah.

Über diese Unterredung, die ziemlich lange dauerte, war es dunkel geworden. Als der Gast sich schlechterdings nicht entfernen wollte, stand Herr Bantes jähling auf und erklärte unter großem Bedauern, daß er ihn verlassen müsse, weil unaufschiebbare Geschäfte ihn abriefen. – So erzwang er den Abschied. Der Gast, etwas finster, empfahl sich, bat aber um die Erlaubnis, wiederzukommen.

Herr Bantes eilte in die Wintergesellschaft zum Bürgermeister, war aber auffallend still und nachdenkend. Man sprach von nichts als vom toten Gaste. Man wollte wissen, er führe eine schwere Kiste voller Gold bei sich; er kenne schon alle Bräute von Herbesheim; er sei ein sehr angenehmer Mann, doch spüre man ihm etwas Verwesungsgeruch an. Alles, was hier geredet wurde, stimmte meistens nur zu sehr mit dem überein, was Herr Bantes an dem, der vor ihm die Gestalt des reichen Bankiers angenommen, bemerkt hatte.

Sobald Herr Bantes mit seiner Frau und Tochter werden zu Hause war, erzählte er von dem Besuche des toten Gastes und wie er ihn hoffentlich ein für allemal abgefertigt zu haben glaube. Anfangs erstaunten beide Frauenzimmer, oder vielmehr, sie erschraken; dann lächelten beide verwundert sich an, als sie den Namen des Bräutigams aus der Residenz hörten; zuletzt lachten sie hell auf, als sie hörten, der Vater habe Friederike förmlich zur Verlobten des Kommandanten erklärt.

»O Papa, süßer Papa!« rief Friederike und fiel ihm um den Hals. »Ich bitte Sie, halten Sie auch Wort.«

»Zum Kuckuck und Küster!« schrie der Alte. »Ich werde doch wohl Wort halten müssen.«

»Auch dann, liebster Papa, wenn der tote Gast zuletzt der Herr von Hahn wäre?«

»Meinst du, ich habe keine Augen? Er ist es nicht. Eine Scheingestalt ist's. Wie käme der junge Hahn auf den Teufelseinfall, sich in die Figur des toten Gastes zu vermummen, von dessen Geschichte er wahrscheinlich in seinem Leben nichts gehört hat.«

Den Frauenzimmern war das Ereignis freilich etwas unbegreiflich; aber doch wollten sie lieber glauben, der Papa habe mit seiner regen Phantasie etwas hinzugefügt, oder der Zufall diesmal drolligen Scherz getrieben, als daß sie an der Persönlichkeit des angekommenen Herrn Hahn gezweifelt hätten. Gerade diese Hartnäckigkeit der Mutter und der Tochter, sich durchaus keines Bessern belehren zu lassen, ängstigte den Herrn Bantes nur noch mehr.

»So muß es kommen, gerade so!« rief Herr Bantes ärgerlich und zaghaft. »So hat er euch beide schon halb in seinen Krallen, hat euch schon betäubt! Ich bin doch wahrhaftig sonst nicht abergläubig, und auch diesmal kein altes wundersüchtiges Weib, aber was mit begegnet ist, das ist mir begegnet. Es ist ein höllischer Spuk, der mich verrückt machen könnte. Die Vernunft begreift's nicht. Aber es mag vieles sein, das die Vernunft nicht begreift. Und sollte ich euch in den Keller sperren, ich sperre euch ein, nur daß ihr mir beide nichts mit dem Teufelsgespenst und dergleichen zu schaffen habt!«

»Schönster Papa!« rief Friederike. »Ich gebe Ihnen ja gern die Sache wohlfeiler. Möge der tote Gast Herr von Hahn sein oder nicht; ich schwöre Ihnen, ich will ihn nicht lieben, ich will Waldrichen nie vergessen. Aber geben Sie mir Ihr Vaterwort, daß Sie Waldrichen nicht von mir trennen, es möge nun der Herr von Hahn oder der tote Gast um mich werben.«

»Wahrhaftig, lieber gäb' ich dich dem ärmsten Bettler auf der Gasse – ist's doch ein lebendiger Mensch! – als dem Gespenst, dem Satan.«


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