Heinrich Zschokke
Der tote Gast
Heinrich Zschokke

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Die Sage vom toten Gast

Am folgenden Abend war im Hause des Herrn Bantes die gewöhnliche erste Wintergesellschaft; so hieß in Herbesheim, was in anderen Städten auch Kränzchen, Soiree, Tee usw. genannt wird. Unter den besten Familien der kleinen Stadt ging es nämlich der Reihe nach herum, sich jede Winterwoche einmal freundlich und einfach zu bewirten, und mit Musik, Gesang, Gespräch, Spiel und Scherz den langen Abend zu erheitern. Zu bemerken ist übrigens im Vorbeigehen, daß unter Spiel kein Kartenspiel verstanden ward, wie es gewöhnlich die armselige Unterhaltung von Leuten zu sein pflegt, die zwischen Medisieren und Langeweilehaben keinen Mittelweg durch ein erheiterndes Gesellschaftsspiel kennen.

Diesen Abend beim Herrn Bantes war aber weder an Gesang noch Musik, weder an Spiel noch Scherz zu denken. Man sah sich in diesem Kreise und diesen Winter das erstemal. Man hatte sich einander viel zu sagen, und weil in drei Tagen der erste Advent war, kann man denken, daß der tote Gast die Kosten der Unterhaltung bestreiten mußte. Die jungen Frauenzimmer rümpften die Näschen oder stellten sich doch etwas ungläubig. Manche war froh, daß sie keinen Bräutigam hatte, den sie aber vielleicht nach der Adventzeit nicht verschmäht haben würde; in mancher zog sich das arme Herz bange zusammen, wenn sie an jemanden dachte, der dem armen Herzen angehörte. Die ältern Frauen, nach reiflicher Überlegung, stimmten so ziemlich überein, daß die Geschichte vom toten Gaste nicht ganz aus der Luft gegriffen sein möge. Die jungen Herren waren alle ohne Ausnahme ungläubig. Einige wünschten, der tote Gast möge kommen und ihren Heldenmut versuchen. Ein paar ältliche Herren drohten den jungen Großsprechern warnend mit den Fingern. Einige junge Frauenzimmer stimmten ein, und es gab manche Neckerei, manches Witzspiel und mutwilliges Gelächter.

»Aber«, rief Herr Bantes mit drolligem Zürnen, »was ist das für Wirtschaft? Wohin ich den Kopf stecke: toter Gast, links und rechts. Ist das auch eine Unterhaltung für meine lebendigen Gäste? Fort damit, sag' ich. Lebendigere Unterhaltung! Keine Winkelplaudereien, kein Geflüster von den Toten!«

»Der Meinung bin ich auch!« sagte der Kreissteuereinnehmer. »Lieber das gemeinste Pfänderspiel! Wenn Herbesheim von den lebendigen Gästen so wenig zu fürchten hätte als vom hundertjährigen Besuche des toten Gastes, so würden wir sicher sein, daß unseren jungen Schönen nie das Köpfchen verdreht würde.«

»Ich möchte eigentlich nur wissen, wie das alberne Histörchen in die Welt hineingekommen wäre!« sprach ein junger Ratsherr. »Die Sage ist auch so dürr, wie ein Gerippe; kein näherer Umstand davon bekannt, daß sich daraus allenfalls eine Romanze oder Ballade schaffen ließe, damit es doch zu etwas tauge.«

»Umgekehrt,« entgegnete Waldrich, »die Sage vom toten Gaste, wie man sie ehemals kannte und wie ich sie in meiner Kindheit einmal von einem alten Jäger erzählen hörte, ist zu lang und für unsere heutigen Tage zu langweilig; darum hat man sie vergessen und recht daran getan.«

»Wie, wissen Sie die Geschichte noch?« fragten schnell mehrere.

»Ich erinnere mich ihrer noch dunkel!« erwiderte Waldrich.

»Oh, Sie müssen uns erzählen!« riefen die Mädchen und drängten sich zu ihm. »Bitte, bitte, Sie müssen uns erzählen!«

Da half kein Widerstand, kein Entschuldigen. Zu den Frauenzimmern traten die Herren und baten. Man rückte die Stühle zusammen.

Waldrich, gern oder ungern, mußte sich bequemen, die Sage mitzuteilen, wie er sie vom alten Jäger empfangen hatte. Er schmückte, um damit einigermaßen zu unterhalten, die Geschichte so gut aus, als er es sogleich aus dem Stegreif konnte.



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