Heinrich Zschokke
Der tote Gast
Heinrich Zschokke

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Gutes Wetter

Frau Bantes hatte wohl bemerkt, daß Riekchen mancherlei in ihrem Herzen gegen den reichen Bankier einzuwenden hatte; daß der Stadtkommandant in diesem Herzen, mehr als es sein sollte, Kommandant geworden war. Nicht um den Kommandanten, so lieb er ihr auch war, zu begünstigen, sondern jede Übereilung und das daraus mögliche Unglück zu verhüten, trachtete sie nun, die förmliche Verlobung des Bankiers mit ihrer Tochter zu verspäten. Sie wünschte, die jungen Leute sollten sich erst kennenlernen; Friederike sollte sich erst an ihr bestimmtes Schicksal in Gedanken gewöhnen. Nebenbei war doch auch erst näher zu erfahren, ob Herr von Hahn durch sein Herz das Herz Friederikens verdiene. Daher hatte die sorgliche Mutter dem Herrn Bantes, obwohl er ihr das auch für sie hochwichtige Verfügen über die Hand seiner Tochter bis zum Geburtstage verheimlicht hatte, nie in seiner Wahl widersprochen, keinen Vorwurf gemacht. Sie kannte Herrn Bantes zu gut; Widerspruch würde ihn noch erpichter auf seine Sache gemacht haben. Darum spann sie jenes Gespräch mit ihm an und schob sie ihm den Dorn ins Gewissen, und freute sich, als sie wahrnahm, es sei nicht ohne Wirkung geblieben. Darum hatte sie auch, schon am Geburtstage selbst, an eine Freundin in der Residenz um Erkundigung über den sittlichen Wert des Herrn von Hahn geschrieben. Die Antwort traf an demselben Tage ein, als das schöne Wetter dem Herrn Bantes Schrecken machte. Herr von Hahn ward in dem Briefe der Freundin als einer der rechtschaffensten Männer geschildert, der jedermanns Achtung und bisher auch jedermanns Bedauern genossen hätte, nicht nur, weil er immer sehr kränklich, sondern bisher auch in fast sklavischer Abhängigkeit von seinem alten, mürrischen, wunderlichen und geizigen Vater gewesen wäre. Seit einigen Wochen aber habe der junge Mann die sämtlichen Geschäfte des Alten übernommen. Der Alte zöge sich nun auf ein Landgut zurück, weil er schon die Altersschwächen zu sehr fühle, schwer höre und selbst durch die Brille nicht mehr gut sehe.

Diese angenehmen Nachrichten machten der Frau Bantes gutes Wetter.

Ein anderer Umstand brachte das gute Wetter für Friederiken und den Kommandanten an demselben Tage.

Waldrich war nämlich, im Auftrag der Frau Bantes, in Riekchens Zimmer getreten. Das Mädchen saß am Fenster, die Stirn auf die neue Harfe gelehnt, die sie vor sich hatte.

»Fräulein Mama wünscht zu wissen, ob Ihnen gefällig wäre, mit uns beim schönen Wetter eine Fahrt ins Freie zu machen?«

Riekchen antwortete nicht, sondern drehte das Gesicht noch ein wenig mehr von ihm ab, gegen das Fenster.

»Ihro Gnaden sind ungehalten?« fragte Waldrich, der da glaubte, sie wolle mit ihm Scherz treiben. »Hab' ich zum Frühstück nicht, auch wider Neigung eine Tasse Schokolade mehr getrunken, bloß weil Ihro Gnaden befahlen? Bin ich nicht pünktlich und zu rechter Zeit von der Parade zum Essen gekommen? Hab' ich bei Tische nicht mein ehrerbietiges Ja gesagt?«

Es erfolgte keine Antwort. Er stand eine Weile schweigend da, ging dann zur Tür, als wolle er fort, kehrte dann wieder um und sagte ungeduldig: »Kommen Sie, Riekchen, das Wetter ist herrlich.«

Darauf ertönte ein dumpfes Nein. Er erschrak bei dem Tone; denn dieser verriet, daß er unter Tränen hervorgegangen sei.

»Was fehlt Ihnen?« sagte er ängstlich, und nahm die unter ihrer Stirn ruhende Hand von der Harfe und zwang sie, aufzusehen.

»Will Mama ihm vielleicht mit uns entgegenfahren? Soll er heut ankommen? Hat sie etwas gesagt?« fragte Friederike hastig und trocknete mit dem weißen Tuche ihre rotgeweinten Augen.

Waldrichs Blick verdunkelte sich. Halb unwillig sagte er: »O Friederike, es ist nicht recht von dir, daß du so fragst. Glaubst du, ich möchte dich noch einladen, wenn ich so etwas nur ahnen könnte? Wollte Gott, er käme nicht, ehe ich davon wäre.«

»Wie, davon?«

»In eine andere Garnison. Ich habe dem General schon an deinem Geburtstag geschrieben und gebeten, und noch keine Antwort.«

Riekchen sah ihn verdrießlich an, stand auf und sagte: »Georg, nimm mir's nicht übel, das war einmal wieder einfältig von dir.«

»Ich kann, ich will, ich darf aber nicht bleiben.«

»Waldrich, ist das Ihr Ernst? Sie werden machen, daß ich Ihnen zeitlebens böse werde.«

»Und wollen Sie meinen Tod, wenn Sie mich zwingen, Ihr Hochzeitsgast zu sein?«

»Sie sollen nie zu meiner Hochzeit eingeladen werden. Wer hat Ihnen gesagt, daß ich mein Jawort schon gegeben?«

»Sie dürfen es nicht verweigern.«

»Und, ach Gott, ich kann es doch nicht geben!« schluchzte das Fräulein und verhüllte ihr Gesicht. Auch Waldrich ward von seinem geheimen Schmerz übermannt. Dies war das erstemal, daß beide unter sich diesen Gegenstand berührten, obgleich er ihnen nie aus dem Sinn gekommen war. Am letzten Geburtstage, als beide zum erstenmal von der Gewißheit oder Möglichkeit erschreckt wurden, sich in Zukunft nicht mehr sehen zu können, was sie bisher in unbefangener Fortsetzung jugendlicher Zusammengewöhnung gewesen waren, hatten sie zum erstenmal in sich erkannt, mit welcher Liebe sie aneinander hingen. Beide betrachtete sich, seit jenen drei verräterischen Festtagsküssen, mit ganz anderen Augen. Beide verstanden sich; wußten, daß sie liebten und geliebt wurden, ohne es weiter einander mit Worten zu sagen. In beiden war plötzlich das ruhige, alles verschönernde Licht der Freundschaft zur Flamme geworden. Beide wollte diese voreinander verbergen, und erhöhten damit nur die innere Macht derselben.

Nach einer Weile trat Waldrich wieder zu ihr und sagte in treuherzigem Tone: »Riekchen, dürfen wir noch miteinander bleiben, wie es bisher war?«

»Waldrich, können wir denn gegeneinander anders werden, wie bisher?«

»Können? Ich? Das ist unmöglich. Ach, ich wußte selbst nicht, Riekchen, was mein Glück gewesen. Nun ich dich verliere, weiß ich erst, daß ich verloren bin.«

»Verloren, Georg! Sage mir das nicht, und mache mich nicht unglücklich. Es ist ein entsetzliches Wort das! Nenn' es nicht wieder.«

»Aber, wenn er kommt?«

»Dann wird Gott sorgen. Da, nimm meine Hand, Georg, zehntausendmal lieber verlob' ich mich dem toten Gaste. Aber du sagst das weder dem Papa noch der Mama. Ich will es ihnen sagen, wenn es Zeit ist. Nimm auf dies Wort meine Hand und sei ruhig für mich.«

Er nahm ihre Hand und bedeckte sie mit heißen Küssen. »Es ist ein Lebenswort, Fräulein!« sagte Waldrich; »ich durfte es kaum erwarten. Aber ich nehme es von Ihnen. Brechen Sie es, so brechen Sie mein Leben.«

»Und sind Sie nun wieder froh und glücklich?«

»Ach, ich war's noch nie so, wie diesen Augenblick!« rief er.

»Fort,« rief Friederike, »die Mama wird dich erwarten. Fort, ich mache meine Toilette und fahre mit euch.« Sie stieß ihn zurück und drängte ihn zur Tür; aber an der Tür erlaubte sie ihm einen Abschiedskuß. Wie ein Trunkener ging er und meldete der Frau Bantes Friederikens Entschluß. Sich selbst nicht empfindend, sank Friederike auf einen Sessel hin und verging im Traum ihrer Seligkeit und vergaß die Spazierfahrt. Der Wagen wartete. Frau Bantes ging endlich selbst, die Tochter zu holen. Diese saß träumend da, das Köpfchen von blonden Locken umringelt auf die Brust gesenkt, die gefalteten Hände im Schoß.

»Was sinnest du? oder betest du?« fragte die Mama.

»Ich habe mit Gott gesprochen.«

»Ist dir wohl?«

»Wie einem Engel bei Gott.«

»Dein Ernst, Riekchen? Du scheinst geweint zu haben?«

»Ja, ich habe geweint. Aber ich bin nun glücklich, Mama. Kommen Sie zum Wagen. Ich nehme nur noch den Hut.«

Sie nahm den Hut und stellte sich vor den Spiegel, unter dem das rosenrote Seidenband lag, das Waldrich um die Geburtstagsharfe geschlungen hatte. Sie nahm es und band es um ihren Leib als Schleife.

Frau Bantes schwieg; aber sie beschloß, dem Kommandanten nie wieder einen Auftrag an das Mädchen zu geben.


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