Heinrich Zschokke
Addrich im Moos
Heinrich Zschokke

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46.
Die Nacht auf der Bampf.

»Brich auf! Auf!« rief Addrich seinem jungen Freunde zu, als er diesen, nach langem Suchen, in einer großen Scheune hilfeleistend zwischen den Reihen auf Stroh gelagerter Verwundeten fand. »Quäle diese armen Sünder nicht länger mit Deiner Kunst. Selig sind die Toten!«

Fabian erwiderte, ohne aufzusehen: »Dein Feierabend, Addrich, ist vorhanden: nun beginnt meine Arbeit. Ich verlasse diese Unglücklichen nicht, bevor ich nicht den letzten Verband angelegt habe,«

»Gieb Dir nicht die Mühe, Bursche,« sagte Addrich, »Gottes Ebenbilder ausflicken zu wollen. Du hast im Himmel und auf Erden keinen Dank dafür. Komm, lasse ihren armen Seelen die Thore offen, durch die sie zur ewigen Freiheit entrinnen können. Komm, alle unsere Helden laufen davon und denken: weit vom Geschütz giebt alte Kriegsleute. In wenigen Stunden wirst Du mit Raben und Geiern noch allein bei Toten und Sterbenden sein. Morgen feiert der Henker seinen Ehrentag. Gehe ihm aus dem Wege!«

Der Alte fuhr noch lange fort, den jungen Arzt in diesem Ton zu mahnen, in welchem die Verzweiflung über sich selbst sich belustigen zu wollen schien. Fabian antwortete zuletzt nicht mehr, sondern von mehreren Gehilfen umringt, setzte er sein menschenfreundliches Geschäft fort, bis der letzte Mann versorgt und die Dämmerung schon eingebrochen war. Dann wandte er sich zum Alten und sagte: »Nun folge ich Dir. Sprich, wohin? Das Schweizerland hat keine Freistätte für Dich, flüchte über den Rhein.«

»Tropf!« rief Addrich, ergriff ihn beim Arme und riß ihn mit sich fort, zum Dorfe hinaus, auf die Straße nach Lenzburg. »Ein freier Mann hat überall seine Freistätte. Ich und der Tod fürchten weder Kerker noch Henker; wir sind aller Orten Meister. Ich gehe nicht über den Rhein. Komme mit mir hinaus ins Moos, daß ich meine sterbende Tochter noch einmal sehe. Du bleibst mit Deinem Weibe an Lorelis Lager und pflegst die Leidende, bis sie ausgerungen hat. Dann gebe ich Dir und Epiphania das Recht, über Haus und Hof nach Gefallen zu schalten. Ich werde nie dahin zurückkehren. Ich scheide von Euch, möge niemand mehr nach mir fragen.«

»Das ist ein böser Ausgang,« seufzte Fabian und verdoppelte seinen Schritt, denn der Alte ging rasch. »Ich hatte ihn geweissagt. Warum mußtest Du meine Warnung in den Wind schlagen? Es ist alles verloren! Die Städte werden Rache nehmen und auf ihren Richtplätzen so viel Hemden mit Blut tränken, als sie auf dem Schlachtfelde bei Mellingen Scharlachhemden sahen.«

»Es ist manchmal eine Sau im Kartenspiel,« versetzte Addrich, »und diesmal war's der Leuenberger, an dem selbst der Name unehrlich ist, weil er lügt. Der Hase kann Männchen machen, und bleibt doch ein Hase. Er hat uns alles verdorben. Fresse er nun, was er sich einbrockte. Gieb Acht, der wird ganz gottesfürchtig zwischen Pfaffen und Scharfrichtern sterben. Ganz recht so. Auf dem Schlachtfelde eine Kugel durch den Kopf, hätte nur eine neue Lüge in die Welt gesetzt und das alte Weib in Hosen zum Freiheitsmärtyrer gestempelt.«

»Wenn Du ihn kanntest, Addrich, warum hieltest Du's mit ihm?«

»Weil man auch mit Koth mauern kann, wo der Kalk teurer ist. Aber vorwärts, wir Beide haben Eile. Ich muß mein Wort lösen und Dich Deinem jungen Weibe wieder einhändigen. Magst von Glück reden, daß Du nicht schon an einem Mägenwyler Apfelbaum hängst; Bolzen und Scheibe waren nicht mehr weit voneinander. Es verlautete unter den Bauern allgemein, ein Doktor habe dem Wertmüller Schybis Plan verraten und den Anschlag auf Mellingen vereitelt. Schybi nannte geradezu Dich, bis ich ihm bewies, daß Du mich nie verlassen habest. Ich denke, Gideon, der niederträchtige Prahlhans, hat das ausgestreut.«

Unter diesen Gesprächen eilten beide an dem Felsen vorüber, auf welchem die Mauern des Schlosses Lenzburg ruhen, über Äcker und Wiesen nach Seon. Die Sonne war längst untergegangen, aber noch glühte vom Abendrot der Saum einiger Wolken hinter den Solothurner Juragipfeln. Der Himmel war schwarz behangen. Im Westen sah man Wetterleuchten, in welchem die Umrisse der schwarzen Zacken und Zinken des Gebirges plötzlich heller hervortraten und verschwanden, Einzelne Windstöße verkündeten den Anstoß des Gewitters und durchtobten die Wälder umher, daß sie wie fallende Bergströme brausten. Das Gespräch der nächtlichen Wanderer verstummte endlich, als sie hinter Seon den steilen Weg zur Bampf hinabstiegen, Addrich murmelte im düstern Selbstgespräch zuweilen unverständliche Worte; Fabian war im Geist bei Epiphania. Es schienen ihm sechs Jahre, nicht sechs Wochen, seit er sie nicht gesehen. So oft er der Trauung in der Kirche von Kulm gedachte, durchdrang ihn ein wunderbarer Schauer. Er konnte sich nicht au den Gedanken gewöhnen, daß Epiphania sein ihm anvermähltes Weib geworden. Aber je näher er der Höhe des Berges und der Gegend kam, wo er die schönsten und schrecklichsten Augenblicke seines Lebens gefunden hatte, desto ungestümer und ängstlicher wurde die Sehnsucht des Jünglings. Er vergaß die traurigen Geschichten des Tages; er fühlte die Wildheit des Wetters nicht; seine Seele war bei Epiphania.

Es herrschte schon eine so große Finsternis, daß Addrich selbst den wohlbekannten Weg einigemale verlor und seinem Begleiter von Zeit zu Zeit zurufen mußte, damit sie nicht von einander getrennt wurden. Blendende Blitzstrahlen, in deren falbem Scheine unter ihren Füßen das weite Thal mit Dörfern, Seeen und Wäldern plötzlich aus der Tiefe der Nacht wie ein Traum auftauchte, vermehrten anscheinend die Dunkelheit. Sturm und Schlagregen fuhren ihnen immer heftiger ins Gesicht, je höher sie zur Bampf gelangten.

»Ists doch, als wollten die Elemente uns den Weg ins Moos verwehren oder uns zurückjagen,« sagte Addrich.

Fabian erwiderte: »Mir wird banger um Herz, je näher wir der Heimat kommen. Ich bin nicht abergläubisch, aber was kann nicht alles in so vielen Wochen geschehen sein, während welcher wir in der Ferne umhergezogen sind? Addrich, ich fühle mich schwer beklommen, Himmel und Erde sind wider uns, als wollten sie wehren oder warnen.«

»Vielleicht ist sie schon zur ewigen Ruhe,« seufzte Addrich.

»Wie?« schrie Fabian erschrocken und blieb stehen. »Warum sagst Du mir das? Weil der Halmenkranz vor der Kirche zu Kulm auseinanderfiel? Weil Epiphania daraus Böses deutete? Epiphania gestorben? Warum redest Du so abscheuliche Dinge, wenn sie Dir nicht ernst sind?«

»Komm!« rief Addrichs Stimme in einiger Entfernung.

»Ich habe Dich verloren, wo gehst Du?« fragte Fabian.

»Überall den Weg zum Tode!« war die Antwort.

In diesem Augenblick fuhr ein Blitzstrahl knatternd, sprühend und betäubend vom Himmel in die Tiefe. Alles war ein Feuer, dann plötzlich schwarze Nacht. Die Erde erbebte im Donner, als wäre die ewige Feste des Himmels zusammengebrochen.

»Hollah!« rief Fabian, »Das traf fast zu nahe.« Er wollte seinen Weg verfolgen, als er seitwärts mit Entsetzen ein ängstliches Stöhnen vernahm. Im ersten Augenblicke glaubte er, Addrich sei erschlagen. Er fühlte, die Haare seines Hauptes sträubten sich im Entsetzen aufwärts. Dies Entsetzen wuchs, als er in dem Stöhnen und Wimmern eine weibliche Stimme zu erkennen glaubte, die ihm wie Epiphanias Stimme klang. Er ging, durch die Gebüsche der Bampf tappend, dem Tone nach. Beim neuen Wetterlicht sah er unter einem alten Ahorn, mit gefalteten Händen betend und weinend, ein Weib sitzen, welches vor der Erscheinung des bewaffneten Jünglings, erschrockener noch als vor dem Blitze selbst, zurückprallte und einen Schrei ausstieß,

»Ist Dir ein Unglück widerfahren?« fragte Fabian bekümmert.

»Unglück?« seufzte das Weib. »O, meine Kinder, die armen Würmer! Des Herrgotts Gerichte sind erschrecklich. Nun habe ich den Tag seines Zornes erlebt. Ich will ja Buße thun mein Leben lang, wenn dies Stündlein nicht das letzte der Welt und seine Gnadenpforte nicht ewiglich verschlossen ist.«

»Fürchte nichts, Weib, das Wetter zieht vorüber,« tröstete sie Fabian.

»Ja, es zieht vorüber, verheerend, zerstörend, wie der Würgengel, der die Erstgeburt Ägyptens schlug. O meine Kinder, die armen Würmer! Unsere Männer sind bei Mellingen erschlagen; wir haben von den Bergen den Rauch und die Flammen der Dörfer gesehen. Morgen kommen die Feinde. Die Züricher schonen des Kindes im Mutterleibe nicht. Herr, mein Gott, vertilge uns nicht in Deinem Zorn! . . . Die armen Würmer sind unschuldig. Die Alten haben sich gegen die gnädige Obrigkeit empört, und wußten doch, daß alle Obrigkeit ist an Gottes Statt. Die armen Würmer sind unschuldig.«

So sprach das Weib und weinte laut. Fabian fühlte Mitleiden mit ihr. Er fürchtete nicht ohne Grund, daß die Furcht den Verstand des Weibes zerrüttet habe und sagte: »Weib, komm' mit mir unter ein Obdach!«

Sie aber fuhr fort: »Wir brauchen eine Obrigkeit, wie das liebe Brot. Wir begehrten ja nur, daß man mit uns armen Leuten umgehe, daß es zu ertragen sei. Aber der Herr Pfarrer drohte mit den Strafgerichten Gottes, und die Männer hätten es besser verstehen sollen, als wir einfältigen Weiber. Nun ist das Unglück da; wer kann der Rache Gottes entfliehen? Er geißelt die sündliche Welt mit den Flammen des Himmels. Er sendet seine Heerscharen mit Schwert und Feuer über uns; Hunger und Pestilenz über unsere Dörfer. Jesus, die Welt geht unter!«

Es fuhr in diesem Augenblick ein gewaltiger Blitzstrahl über die Höhen der Bampf; der Himmel schien als eine einzige, ungeheure Flamme zur Erde zu sinken. Vom Donner erdröhnte der Berg und wie ein Wolkenbruch fluteten, mit wiederkehrender Finsternis, die Regengüsse nieder. Das Weib heulte laut durch den Sturm. Fabian stand da, wie betäubt.

»Fabian, was verweilest Du?« sagte der zurückkehrende Addrich, dem das Geheul des Weibes den Weg gezeigt hatte. »Mit wem redest Du hier?«

»Es ist eine Verlassene,« antwortete der Jüngling, »die wahrscheinlich den Weg verloren hat.«

»Richte Dich auf, Weib,« rief Addrich, »wir begleiten Dich in eine nahegelegene Hütte.«

»Wohin, um Gottes Barmherzigkeit willen?« fragte die Frau.

»Zur Hütte Addrichs im Moos,« erwiderte der Alte.

»Bewahre mich Gott!« schrie das Weib, »Das Haus des Gottlosen, von der Erde vertilgt, muß eine Stätte des Fluches und des Jammers werden. Meine Augen haben den Gräuel gesehen. Da wird kein Kind mehr geboren; kein Wassertropfen wurde zur Flamme getragen, nicht einmal eine Thräne fiel auf eine der glühenden Kohlen.«

»Sie redet im Wahnsinn,« sagte der Alte. Wir können die Unglückliche in dieser Nacht der Schrecken nicht allein auf dem Berge lassen. Hilf mir, Fabian, wir führen sie mit uns hinab.«

»Sprich, Weib, wer bist Du? Wo ist Dein Heimwesen?«

»Ach, Gott sei's geklagt!« heulte das Weib. »Wer bin ich, wer kann jetzt wissen, wer er ist? Ich bin vielleicht schon eine elende Wittfrau mit drei armen Waisen. Kommt Ihr aus der Mellinger Schlacht? Ich bin die Käthi Gloor von Seon. Habt Ihr nicht den Karli Marti Gloor, Anken-Jogglis, gesehen? Der war mein Mann. Als ich von Aarau heimkehrte, spät abends, sah ich viele Flüchtende. Da habe ich gefragt Mann für Mann, und ich fragte bis in die Nacht. Gott erbarme sich meiner, niemand wußte von ihm. Er war ein guter Mann, und wir lebten zufrieden, wenn auch in Not und Armut. Aber ein gutes Gewissen ist das beste Leben.«

Ein Widerschein des Blitzes verbreitete plötzlich eine Tageshelle um den Ahorn. Das Weib fuhr mit Entsetzen vom Erdboden auf und schrie entfliehend: »Jesus, mein Heiland, das ist der Addrich selbst! Hebe Dich weg, Du Mensch des Fluches, Du Kind des Verderbens, Du bist gezeichnet, wie Kain. Kehre um, flüchte in die Berge und Wüsten; Dich wird töten, wer Dich findet. Ich sah Dein Haus um Mittag, am Abend die Kohlen. Gott sei Deiner armen Seele gnädig!«

Sie entfernte sich mit diesen Worten weiter in die Finsternis. Aber durch Wind und Regen hörte man noch lange ihre Stimme unverständlich erschallen, bis sie in größerer Ferne erlosch.

Addrich stand schweigend und bewegungslos unter dem Dache aus Ahornzweigen, erschüttert von den verworrenen Reden des Weibes, die er mit Bangigkeit erwog. Fabian lehnte Arm und Kopf nachdenkend an den Stamm und fragte endlich halblaut: »Hast Du dies Weib verstanden?«

Addrich blieb stumm. Die Wetterwolken blitzten am fernen Himmel. Die schwarze Himmelshülle zerriß und ließ den Mondschein durchschimmern. Er gab gerade Licht genug, um die Einöde auf dem Berge noch grauenhafter zu machen.

»Hast Du dies Weib verstanden?« fragte Fabian.

Der Alte stand da, in sich gekehrt und stumm. Fabian richtete die Augen auf ihn, der wie ein schwarzer Schatten in der Luft vor ihm herging, und keine Bewegung zeigte, als das Flattern des Gewandes im Sturmwinde. »Ich fühle die unaussprechlichste Seelenangst, Addrich,« sagte der Jüngling mit gepreßter Stimme, ging dann hastig zu dem Alten, ergriff ihn und schrie: »Komm', komm' hinab! Es hat sich ein Unglück ereignet!«

»Laß die Wahnsinnige! Wir würden sie vergebens suchen,« antwortete Addrich mit tonloser Stimme. »Gehen wir in's Moos zu den Unsrigen. Fabian, es muß um Mitternacht sein.«

Beide wandelten schweigend über den Berg, der entgegengesetzten Seite zu. Sie gelangten zu Gestrüpp und Gebüsch, und irrten lange umher, bevor sie in der Dunkelheit den Fußweg dahin entdeckten. Dann schritten sie, jenseits des Dickichts, über unsichtbare Pfade, die Wiesen hinab zum Moos.

47.
Die letzte Nacht im Moos.

»Alter, wohin rennst Du?« rief Fabian und blieb stehen. »Erblickst Du nicht rechts, ganz nahe in der Tiefe, den Steinhaufen, den man des Selbstmörders Grab nennt, und links am Himmel den Berg und Waldeinschnitt? Wir müssen bei dem Hause schon vorüber sein.«

»Die Nacht ist finster,« erwiderte Addrich, und kehrte um. »Finster ist die Nacht und mein Auge dunkel. Ich bin müde und in Verwirrung, und schaue nach dem Fensterlicht. Doch sie schlafen alle, selbst Leonorens Lämpchen ist erloschen.« Addrich blieb stehen, als mangle ihm der Atem, und setzte hinzu: »Fabian, ihr Lämpchen erloschen.«

Diese Worte sprach er langsam, er hauchte sie nur leise vor sich hin. Der Jüngling ergriff ihn mit Heftigkeit und riß ihn ungestüm mit sich fort. »Laß uns höher steigen, höher, Addrich! In der Höhe am Waldsaum verfehlen wir das Gebäude nicht.«

»Geduld, Fabian, die Nacht ist dunkel; das Wetterleuchten blendet. Die Hütte wird uns nicht entrinnen, aber Hast und Eile verfehlen auch beim hellen Sonnenschein den Kirchturm.«

»Addrich, witterst Du nichts? Es weht mich an wie der Geruch von Kohlenmeilern.«

»Das weht herüber von den qualmenden Düngerhaufen, Fabian, vom frischen Landausbruch, wo Baschis Dornen und Graswurzeln brennen.«

»Alter, ich denke immer an des Weibes Reden. Hast Du sie verstanden?«

»Was willst Du, Fabian? Sei still und sieh hinunter. Ich erblicke Licht.«

»Wir wandern zu hoch, Addrich. Das ist kein Fensterschein. Wie Irrlichter sehe ich's hüpfen.«

»Fabian, Du hast eine helle Stimme. Rufe! Es mag meiner Knechte einer sein mit der Hornleuchte, wie er durch den Wald sucht.«

»Halt, halt, Addrich!« schrie Fabian mit Entsetzen und hielt den Alten. »Schlage Deine Augen auf. Hier ist der Waldweg, hier der Garten, hier der Brunnen. Hier war Deine Hütte.«

»Ich gewahre nichts,« erwiderte Addrich eintönig. »Bin ich erblindet? Sind das nicht Funken am Boden? Dampft da nicht Rauch?«

Fabian senkte schaudernd das Haupt zwischen beide Hände nieder und stammelte: »Unglückseliger Mann!«

Es entstand ein langes Schweigen. Beide starrten in einer Art Bewußtlosigkeit auf den finstern Raum hin, von welchem zuweilen dunkelrote Funken im Windzuge aufsprühten und unter den fallenden Regentropfen zischend wieder verschwanden. Durch die geteilten Wolken zog bisweilen ein Dämmerschein des verhüllten Mondes über die Brandstätte, und zeigte einige übereinander gestürzte halbverkohlte Balken. Dann und wann trat der Gräuel der Verwüstung vom Widerschein fernen Wetterleuchtens aus dem Abgrunde der Nacht in die volle Klarheit des Tages, um wieder zu verschwinden,

Addrich sah zum Himmel auf, zur glimmenden Stätte nieder und streifte mit den Augen längs den dunkeln Rändern der Berghöhen am Himmel hin, als wollte er an ihren bekannten Umrissen erkennen, ob er nicht in ein fremdes Thal geraten sei? Dann ließ er sein widerliches innerliches Lachen hören. »Glaubst Du es nun, Bursche?« sagte er, »oder denkst Du noch immer, es sei schwermütige Einbildung, daß das Schuldloseste und Edelste dem unentrinnbaren Verderben geweiht sei, wenn ich es berühre? Hier stand meine arme Hütte. Das Schicksal hat sein Halsgericht gehalten, und mir den Stab gebrochen und die Stücke zu meinen Füßen geworfen. Was mir angehört, soll von der Erde vertilgt werden. Ich bin auf dieser Brandstätte wieder so arm, als da ich aus Indien kam und mich der Mann aus Algier in Ketten geschlagen hatte. Meinst Du, Bursche, es schmerze mich? Du irrest; ich lache und verachte den Kot des Reichtums, der mich nicht ergötzt hat, als er noch prangen konnte. Fahre hin!«

Er spie, indem er es sprach, in die Asche, und die Funken knisterten.

»Aber warum mir das?« fuhr er, nach einiger Ruhe, mit schrecklicher Stimme und aufgehobenen Armen fort. »Aus dem Schutt meiner Habe und meines elenden Lebens bleibt mir das Recht zur Frage: Warum verfolgst Du mich, finstere Faust des Verhängnisses, mich, von der Wiege rastlos bis zur Gruft? Was habe ich verbrochen? Ist's Verbrechen, daß ich bin, so ist's das Deine. Warum schlägst Du mich? Ich trage ein Zeugnis in meiner Brust, in allen meinem Tagen habe ich nachgejagt dem Heiligen und Wahren, dem Gerechten und Guten. Mein Bewußtsein spricht mich von Verdammung los, warum schlägst Du mich? Ich habe, was göttlich heißt, höher gestellt als das Leben, und bin dem Teufel gleichgestellt. Ich habe Segen gestreut, und mir erwuchs Fluch; ich habe Freuden gesäet, und mir erwuchs Schmerz daraus; ich habe, was Recht ist, geschirmt, und verruchte Willkür zog daraus den Triumph; ich half zur Freiheit des niedergetretenen Volkes, und die Sklaverei ist fester und blutiger geworden. Wie? Bin ich wahnsinnig, so haben die reißenden Bestien Vernunft. Und dieser Wahnsinn ist nicht mein, sondern Dein Verbrechen! Warum verfolgst Du mich? Du hast mir den Sinn der Wahrheit und Gerechtigkeit, wie das Licht des Auges, gegeben, warum wütest Du wieder mich? Du gabst mir das Herz voll Liebe, warum zerreißest Du es? O mein armes Kind! O Du Engel inmitten dieser Hölle! Loreli! Loreli!«

Hier verflossen die Worte des Greises in schmerzliches Wimmern. In schwerer Betäubung, unbeweglich, stand unweit der Jüngling. Es rauschte wie Stromesbrausen durch seine Ohren, und zwischen dem Brausen erschollen die Klagen und der Hader des Alten mit seinem Schicksal. Das erschütternde, nächtliche Schauspiel des großen Verderbens hatte einen wahren Stillstand alles eigenen Denkens und Empfindens in ihm bewirkt. Aber Addrichs wiederholtes, leises Rufen von Eleonorens Namen schreckte ihn plötzlich auf. »Und Epiphania,« rief er, »wohin ist sie geraten? Entflohen? Erschlagen? Verbrannt?«

Er schwieg, über eine schauerliche Reihe von Möglichkeiten Musterung haltend; stieß einen heftigen Schrei aus und rannte dann mitten durch die Brandstätte, daß Glut und Funken unter seinen Fersen hoch aufstoben, gegen die Berghalde aufwärts. Er schrie durch Wald und Nacht Epiphanias Namen. Er würde am Tage einem Rasenden geglichen haben. Er irrte durch die Wildnis umher, bis der Morgenhimmel dämmerte, bis er atemlos und entkräftet eine Hütte an den Dürrenäscher Bergen erblickte, wohin er, um Menschen zu finden, die Richtung nahm. Noch lag in der Hütte, wenn etwas darin lebte, alles vom Schlaf umfangen. Er wollte die Glücklichen nicht stören, und lieber unter dem vorhangenden Strohdach, auf einer Bank, den Tag erwarten, bis wohin er besonnener mit sich zu Rate gehen konnte, was er beginnen müsse? Und er sank bei seiner großen Ermüdung bald in Bewußtlosigkeit zusammen. Der Schlummer, mit seiner weichen Hand, raubte ihm Erinnerung und Schmerz.

Die Sonne durchdrang schon, als er erwachte, seine feuchten Kleider mit wohlthätiger Wärme, und seinen Augen erschien das stille Thal von Aesch, mit dem Wiesengrunde zwischen den waldigen Halden, wie ein blendendes grünes Luftgebilde. In diesem Bilde bewegte sich, um einen Holzpfeiler der Hütte, zwischen wilden Rosen ein Mädchen, neugierig nach dem Schläfer schauend. Er erkannte augenblicklich das regsame Änneli aus dem Moose, und sprang, den Schmerz der halberstarrten Glieder vergessend, zu ihr hin. Änneli trippelte ihm langsam entgegen und weinte laut, indem sie ihm zum traulichen Gruße die Hand reichte.

»Und Epiphania?« fragte Fabian sogleich und auf eine Art, als hätte er die Antwort schon vor der Frage erwartet.

»Sieben Tage nach dem Begräbnis von Addrichs Tochter war sie ja – wißt Ihr's denn nicht? – verschwunden,« schluchzte die Kleine. »Aber noch gestern erschien das Volk, von der verlorenen Schlacht zuückkehrend, und plünderte und zerstörte im Moos alles, was da war; schlug Addrichs Knechte blutrünstig und zündete Haus, Stall und Scheuer an. Ich rettete mein Leben in den Wald. Zwei Stunden nur, und alles lag grausam zur Erde gebrannt. Keine helfende Hand der Nachbarn streckte sich aus, kein Eimer Wasser wurde gereicht. Die Flammen flackerten himmelhoch; aber keine Glocke stürmte. Das hat ein Ende mit Schrecken genommen. Bewahre uns Gott vor bösen Nachbarn! Nichts habe ich gerettet, ich armes Kind, als das Leben und die Lumpen, die ich am Leibe trage. Keine Hütte in Aesch wollte mich barmherzig aufnehmen. Hätte nicht die alte Mutter Walti ein Christenherz gehabt, ich wäre im Unwetter unter freiem Himmel gestorben.«

»Und Epiphania?« rief der leichenblasse Jüngling, der am ganzen Leibe zitterte und das Mädchen mit seinen starren Augen zu durchforschen suchte.

»Alle Tage war sie nach Kulm hinab zu Lorelis Grab gegangen; am siebenten kam sie nicht wieder,« antwortete Änneli. »Wißt Ihr noch, wie der Halmkranz vor der Trauung auseinanderfiel, und Fanelis Worte beim Abschiede? O mein Lebtage vergesse ich die thränenvolle Hochzeit nicht. Begräbnisse sind fröhlicher. Wäre ich nicht so traurig, ich müßte über den Bettelschmuck der Brautjungfer noch heute lachen. Aber auch der ist verbrannt, oder vom Volke geplündert. Mag es ihnen Gott verzeihen!«

»Und Epiphania!« rief der junge Mann heftiger. »Wo ist sie? Rede doch!«

»Das fraget den allwissenden Himmel,« erwiderte das Mädchen. »Wir haben sie gesucht, ihren Namen von Höhen und Wäldern gerufen den ganzen Tag, die ganze Nacht, dann wochenlang, und kein Stäubchen von ihr gefunden. Wir haben alle Thäler, alle Höfe durchfragt, die Dörfer bis Aarau, die Stadt selbst. Sie war von niemandem gesehen worden. Niemand hat sie am siebenten Tage wie sonst auf dem Wege nach Kulm, niemand im Dorfe, oder wie sonst auf dem Kirchhofe bemerkt. Die Leute sprechen üble Dinge. Faneli war ein heiliger Engel, o gewiß, ein ganz heiliger Engel. Es sind nicht alle Heilige, die in der Kirche beten und singen, und unter Addrichs Dach sind wir nicht allesamt Kinder der Finsternis gewesen. Als ich gestern aus der Feuersbrunst vor dem Kriegsvolke zu den Äschern floh, stießen sie mich von ihren Thüren hinweg und riefen: Poch' an das Höllenpförtchen, da wird Dir aufgethan, da wartet man Deiner. Es ist der Wirtschaft des Teufels im Moose der Garaus gemacht. Erst holte er die Besessene ab, dann sieben Tage darauf die Kräutersucherin; nach sieben Tagen nimmt er Dich beim Genick. Und wie sie mich aus ihrem Dorfe trieben, schrieen Buben und Mädchen: Satansbuhle! Belialsmagd! Hexen-Änni!«

Der ungeduldige Jüngling wiederholte seine Fragen nach Epiphania vergebens. Er erfuhr nicht mehr als er schon wußte, wie geläufig ihm auch das junge Mädchen alle übrigen Begebenheiten mit den unwichtigsten Nebenumständen, um sich das Herz zu erleichtern, erzählte.

Während dieser traurigen Unterhaltung vor der Hütte war auch Mutter Walti, die Eigentümerin derselben, hervorgetreten. Die alte Frau weinte laut über das Los ihrer beiden Söhne, welche in die Mellinger Schlacht gezogen und noch nicht zurückgekehrt waren. Indessen vergaß sie über ihr Leid die Sorge der Gastfreundlichkeit nicht, und lud den Jüngling, sowie Addrichs gewesene Magd, zur Teilnahme am bereiten Frühstück ins Stübchen ein. Hier vernahm er bei der warmen Milchsuppe und dem groben Brote durch Ännelis Geplauder wenn auch nicht das, was ihm das wichtigste blieb, doch vieles, was ihm von nicht geringer Bedeutung war. Er hörte, daß Addrichs Tochter schon seit Jahr und Tag den Hauptmann Renold heimlich geliebt habe; auch da noch, als sie sein verdorbenes Gemüt erkannt und ihn nie mehr vor sich gelassen hatte. Er hörte, daß sie ihrem Vater, der für das geliebte Kind alles gern that, bei seinem Abschiede zur Pflicht gemacht habe, Fabian nicht mit sich zu nehmen, ohne ihn zuvor mit Epiphania in der Kirche zu Kulm trauen zu lassen. Sie hatte die Neuvermählte bei deren Heimkehr von Kulm mit wahrer Seligkeit empfangen und ihr bekannt, daß die Überraschung und Trauung ihr Werk, ihr letzter Wunsch vor dem Tode gewesen sei. Ohne die Überraschung, hatte sie gesagt, würdet Ihr beide, ich kenne Euch, noch lange nicht, vielleicht nimmer vor Gott verbunden worden sein, und Gideons Ruchlosigkeit hätte Macht über Euch beide behalten, Euch vielleicht ewig zu trennen.

Ferner berichtete Änneli, wie Epiphania seitdem nie wieder frohen Sinnes geworden, oft heimlich geweint und bis zum Tode Leonorens nie das Haus verladen hätte. Dieser wäre am zwölften Tage nach der Abreise Addrichs erfolgt und ein ruhiges Entschlummern gewesen. Niemand wäre aber, außer den Bewohnern des Mooses, dem Sarge der Verstorbenen zur ewigen Ruhestätte gefolgt. Selbst als der Leichenzug durchs Dorf gekommen, hätte sich, außer Pfarrer und Sigrist, niemand angeschlossen. Jeden Morgen nachher wäre Epiphania, in tiefer Trauer, mit frischen Blumen zum Grabe der Schwester gewallfahrtet, bis sie nicht mehr zurückgekehrt sei.

Fabian, um sich das Verschwinden seiner jungen Gattin zu enträtseln, hatte auf Raub und Entführung geargwöhnt, und abwechselnd seinen Verdacht bald auf den Mann gerichtet, dem Epiphania einst auf der Bampf so viele Liebe und Vertrauen gewähren wollte, bald auf den Hauptmann Renold, dessen Leidenschaft für Epiphania und dessen Gewalttätigkeit er kannte, dessen ausgestoßene Drohungen ihm in frischer Erinnerung waren, die durch das Entsetzen des bösen Gewissens, welches Gideon in der Waldbruderhütte nicht verhehlt hatte, eine schreckliche Glaubwürdigkeit erhielten. Da erinnerte er sich der damaligen Worte des Schweden. »Du sollst noch sehen, wie ich Deine Dirne meiner ganzen Mannschaft preisgebe!«

»Das hat der Schurke nicht aus der Luft gegriffen,« dachte Fabian, in sich schaudernd. »Damit konnte der Schurke nicht drohen, wenn er sie nicht schon in seinen Klauen hatte.«

Mit hundert Fragen an Änneli forschte er nun, ob sich der Hauptmann nach Addrichs Abreise nie im Hause gezeigt, ob man nicht dort, oder im Moose, oder ringsum in der Gegend, unbekannte, verdächtige Leute gesehen habe.

»Nein,« erwiderte das Mädchen, »nie, erst am gestrigen Unglückstage, wo das Volk aus der Schlacht kam, in's Haus drang und alles raubte. Mich aber machte der Schrecken flink, als ich die brüllenden Haufen hörte, und ich war in den Wald entsprungen, ehe die wilden Bauern einbrachen. Wie alles brannte und Baschi mit blutigem Gesicht in den Wald floh und mir begegnete, – ich erkannte ihn kaum an den Kleidern, – sagte er: allesamt wären es Fremde, doch er glaube, sogar den Schweden bei ihnen gesehen zu haben. Doch thut er dem freundlichen. hübschen Hauptmann, der uns so lieb war, den wir ja auf den Händen getragen haben, offenbar Unrecht. O, wäre er nur erschienen in der gräßlichen Stunde, wäre er nur gekommen. Ach, alles würde noch ungeschehen sein. Nun . . . o, wie wird Addrich sein graues Haar über Lorelis Grab, über dem Schutt seines Hauses zerreißen, wenn er lebt, wenn er das Erschreckliche mit seinen wunden Augen schauen muß!«

Lange noch klagte und jammerte Änneli erzählend weiter. Fabian achtete nicht mehr auf ihre Worte, er hatte genug gehört. Denn daß Baschi den Schweden im Gewühl der mordbrennerischen Bande erkannt zu haben glaubte, war ihm ein unverwerfliches Zeugnis, daß Gideon Renold der Anstifter des Gräuels gewesen sei. Er sprang auf und wollte den verlassenen greisen Addrich suchen; er wollte weitum nach Epiphanias Spuren spähen, er wollte dem Hauptmann Renold nachsetzen, bis er ihn gefunden habe. Hundert Vorsätze drängten sich in ihm durcheinander, und jeder schien dringender zur Ausführung aufzufordern, als die andern.

»Aber ich,« schrie das junge Mädchen kläglich, und warf sich, ihn mit Angst umklammernd, an seine Brust, als er, dankend und Lebewohl rufend, davon wollte, »aber ich – um der himmlischen Barmherzigkeit willen! – muß ich arme Waise im Elende verderben und sterben? Ich stehe allein unter'm Himmel, mich kennt und mich will ja niemand mehr!«

Fabian, voller Mitleiden, nahm einige Silberstücke, gab sie ihr und sprach: »Wähle Deinen Weg nach Aarau; bringe dem frommen Dekan Nüsperli meinen Gruß, die Botschaft unseres ungeheuren Unglücks und die Bitte, sich Deiner anzunehmen. Er wird Dein Helfer sein. Gehe, Kind, gehe mit Gott!«

Er riß sich los, eilte zur Hütte hinaus und die Höhe hinauf, von der er vergangene Nacht in Verzweiflung und Verwirrung seines Gemütes herabgekommen war.

48.
Das Gefecht bei Herzogenbuchsee.

Sein Gang war in's Moos; ihn rief das Mitleiden für Addrich dahin.

Doch Addrich war nirgends zu erblicken. Als Fabian die Umgegend durchstreifte, und den schmalen Pfad vom Moos nach Teufenthal im Tannenhain verfolgte, fand er am Wege Addrich's runden hochgespitzten Hut, daneben das dünne Gras des Rasens eingedrückt, wie von einem Menschen, der dort gelegen hatte. Mit heimlichem Schauder hob der Jüngling den noch vom Regen schweren Hut auf, der ihm anzudeuten schien, daß diese Stätte wohl eine der Stationen des Greises am Kalvarienberge des Leidens gewesen sein möge. Er ließ sich durch eine dunkle Ahnung auf dem Fußwege bis zum Dorfe führen.

Und wirklich vernahm er schon bei der ersten Teufenthaler Hütte, wie Addrich, bei Tagesanbruch, die schlafenden Bewohner derselben mit Pochen und Rufen erschreckt und um das Unglück seines Hauses befragt habe. Schweigend, ja, ohne daß er einen Seufzer ausgestoßen hätte, sei von ihm angehört worden, was man vom Tode seines Kindes, vom Verschwinden seiner Nichte, vom Untergange seines ganzen Hauses zu erzählen wußte. Dann habe er sich schweigend entfernt und, soviel sich in der Dämmerung des Morgens erkennen ließ, die Richtung nach Kulm genommen.

Auch dahin eilte ihm der Jüngling mit großen Schritten nach. Einige Kinder und Weiber, welche still lauschend am Eingange des Kirchhofes standen und das Antlitz gegen die Gräber gerichtet hatten, verhießen schon durch ihre furchtsame Neugierde in den Gesichtern die Nähe des Gesuchten. Fabian erblickte ihn wirklich, sobald er auf den Kirchhof trat. Der Unglückliche lag mit zur Erde gekehrtem Gesichte unbeweglich über den jüngsten der Totenhügel hingestreckt. Fabian, zitternd für das gebrechliche Leben des Greises, umfaßte ihn leise und richtete ihn auf. Addrich öffnete die Augen, einem Schlaftrunkenen gleich, nahm, an das Grab gelehnt, eine sitzende Stellung, sah halb träumend auf den jungen Mann, auf die ganze Umgebung, auf den Erdhügel, der ihn stützte; er beantwortete aber keine von Fabians mit kummervoller Zärtlichkeit wiederholten Fragen.

»Es schläft sich bei den Toten süß,« sagte er endlich wie für sich.

Fabian redete ihn von neuem an. Addrich ließ ihn aber, wie vorhin, vergebens Antwort erwarten, während dessen der Jüngling einige der verblichenen Blumen, die Epiphanias Hand berührt und zu Totenopfern geweiht hatte, sammelte und bewahrte. Endlich führte Fabian den halb erstarrten und entkräfteten Alten mit einiger Gewalt zum Wirtshause, wo er ihn mit einer kräftigen Weinsuppe erquickte, dann entkleiden half und in ein Bett brachte. Addrich hielt einen totenähnlichen Schlaf von beinahe vierundzwanzig Stunden und erwachte erst am folgenden Morgen, gestärkt und mit voller Besonnenheit. Fabian, der ihn voll kindlichen Mitleidens bewachte, hatte indessen die traurige Muße mit Säuberung des verdorbenen Reisegewandes und mit Nachforschungen über die Ereignisse im Moose so gut er konnte verkürzt. Alle Nachrichten bestätigten den schrecklichen Verdacht, daß Hauptmann Gideon Renold Epiphanias Entführung und den Mordbrand veranstaltet habe.

»Ich bin reisefertig,« sagte Addrich. »Für mich ist alles in der Welt abgethan. Ich lebe noch und lebe doch nicht mehr. Es widert mich an, im Grabe Bewußtsein zu behalten. Doch fürchte nichts von mir, Fabian, fürchte nichts. Du bist treu geblieben, darum erfülle ich meine Verheißung und scheide nicht, bis ich Dir Dein Weib gegeben habe. Komm! Gideon ist mit seinem Haufen der Oberländer gezogen. Ich setze ihm die Degenspitze aufs Herz; er soll mir Epiphanias Aufenthalt nennen. Komm, früher ruhen wir nicht; dann soll Feierabend sein. Komm'!«

Sie gingen. Weil man erzählte, daß sich der Schlachthaufen der Oberländer, etwa zweitausend Mann stark, nach der Gegend von Langenthal zurückziehe, an ihrer Spitze Leuenberg mit den anderen Häuptern des Aufstandes, schlugen Addrich und Fabian ebenfalls den Weg dahin ein. Doch machten sie nur eine kleine Tagereise, denn Addrichs Kraft, in dem riesigen, nun unter eigener Last zusammensinkenden Körper, schien gebrochen; selbst sein Geist verändert. Nichts erregte seine Teilnahme mehr. Selbst die Botschaft, daß am Tage vorher Schybi mit den Entlebuchern bei Roor am Reußpaß Gisikon siegreich gegen die Luzerner gefochten, deren Hauptmann Krebsinger gefangen und deren Pulvermagazin, das in einer Scheune war, in die Luft gesprengt habe; daß sich dort Schwyzer, Unterwaldner und Zuger geweigert hätten, gegen die tapferen Landleute die Waffen zu kehren; daß Leuenberg und die Oberländer entschlossen wären, aufs neue den Kampf gegen die Städte aufzunehmen . . . nichts erweckte Addrichs Teilnahme und alte Hoffnung. Er glich einer am Tage wandelnden Leiche. Lust und Schrecken hatten ihre Gewalt über ihn verloren. Er sprach nichts, selbst Fabians freundliche Worte fanden keine Erwiderung.

Den schrecklichsten Beweis seiner Abgestorbenheit aber gab er folgenden Tages. Beide waren durch das Flachland von Langenthal, wo man nur im Hintergrunde niedrige Hügel erblickte, zwischen den lebendigen Hagen der Matten, schweigend an dem Dorfe Herzogenbuchsee vorübergegangen, um nach Wangen zu wandern, denn dahin sollte sich Leuenberg gewendet haben. Als sie aber vor Herzogenbuchsee auf das Feld kamen, erblickten sie dort schon einzelne Schildwachen der Oberländer mit Hellebarden bewaffnet, und in geringer Entfernung vor sich die Scharen des bernischen Heeres mit wehenden Fahnen aufgestellt. Fabian erschrak; Addrich warf einen gleichgültigen Blick auf das Schauspiel und setzte seinen Weg gelassen gegen die feindlichen Schlachthaufen fort. Da riß ihn der Jüngling zurück nach dem Dorfe, wohin gerade eben auch der bernische Feldherr Erlach mit seinem Gefolge vorsprengte, weil ihm die Schildwachen gesagt hatten, es sei dort frei von Rebellen. Aber schon bei den ersten Häusern empfing ein so mörderisches Feuer den General und seine Begleiter, daß sie in stürmischer Eile zu den Ihrigen zurückjagten. Während Fabian seitwärts sprang, schritt Addrich gelassen mitten durch den Kugelregen in das Dorf hinein. Fabian suchte ihn sogleich wieder zu finden, allein das Dorf, in welchem noch kurz vorher die tiefste Stille geherrscht hatte, war so plötzlich mit einigen Tausenden von bewaffneten Oberländern angefüllt, als wären sie durch ein Wunder hierher gezaubert. In geschlossenen Haufen drangen sie hervor, dem Feinde entgegen.

Mit Ungestüm warfen sie sich auf die Vorhut der Berner und trieben sie zurück, während Erlach seine Streitmassen langsam entfaltete. Nach einer Stunde sahen die Oberländer nicht nur vor sich, sondern auch links und rechts über die Wiesen hin, lange blaßgraue Streifen von Pulverdampf, in denen sich Erlachs Schlachtreihen näherten. Da bemächtigten sich die Überflügelten eines nahen Gehölzes und setzten das Gefecht mit Wut fort. Endlich auch hier fast von allen Seiten umzingelt und zusammengedrängt, eilten sie wieder hervor, den Rückzug ins Dorf nehmend. Schritt für Schritt machten sie dem Sieger streitig. Von Hag zu Hag wurde gekämpft, bis das Dorf erreicht war. Verteilt in den Häusern, zerstreut hinter den Hütten und in den Gärten, unterhielten sie verzweiflungsvoll den Kampf, bis Haus für Haus in Rauch und Flammen aufging. Nun getrennt, behauptete sich ein Teil von ihnen noch lange auf dem hoch gelegenen Kirchhofe, hinter der Mauer, die als Brustwehr diente. Ein Teil wandte sich langsam, in voller Ordnung. stets kämpfend, gegen den Wald; andere liefen zerstreut, doch fechtend, abwärts durch die Baumgärten nach den Gebüschen und Wiesen von Oenz.

Dahin hatte der Ausgang des Treffens und die Gewalt der Umstände auch den Liebling Epiphanias geführt, der anfangs lange Zeit den verlorenen Alten vergebens gesucht, nachher aber den Tag über seinen menschenfreundlichen Beruf als Wundarzt ohne Unterschied an Freund und Feind geübt hatte, wenn sie verwundet seiner bedurften. Er wandelte, unentschlossen, ob er in der Nähe des Dorfes bleiben oder sich entfernen solle, durch eine üppige Matte. Man sah und hörte hier nichts mehr, weder von Verfolgern, noch von Verfolgten, aber seitwärts, hinter niedrigem Weidengebüsch, ließ sich das Stöhnen einer menschlichen Stimme vernehmen. Er drang durch das Buschwerk dem Klagetone nach, und erblickte jenseits desselben, am schilfigen Ufer eines klaren Weihers, längs welchem ein Fußpfad hinlief, einen Kriegsmann am Boden liegend, der sich vergebens aufzurichten suchte. Das stark mit Blut benetzte Gewand desselben ließ an der Traurigkeit seiner Lage nicht zweifeln. Fabian griff, indem er sich näherte, zu seinem Besteck, welches er stets bei sich führte, und rief, indem er neben den Verwundeten niederkniete: »Mut, Kamerad! Wo fehlts?«

»Zum mindesten nicht an Courage,« erwiderte der Kriegsmann und wandte den Kopf, um den Frager zu sehen. Fabian erschrak, als er in das bleiche Gesicht blickte und den Hauptmann Renold erkannte. »Du hier?« rief er voller Bestürzung und Zorn, setzte aber, indem er auf die blutige Brust des schönen Mannes die Augen warf, mitleidig hinzu: »Es scheint, um Dich stehts übel.«

Gideon aber verzog den Mund mit höhnischem Stolz und sagte: »Nicht wahr, ein gefundenes Fressen für Deines Gleichen! Kannst Rache üben, ohne Widerstand zu fürchten. Jetzt sind wir quitt. Machs ohne lange Umstände mit mir ab.«

»Zeige mir Deine Wunden,« versetzte Fabian, ohne auf ihn zu hören, netzte einen Schwamm im Wasser des Weihers, kniete wieder bei ihm nieder und rollte das wundärztliche Besteck aus einander.

»Kommst zu spät, Herr Medikus,« rief Gideon. »Habe die Pillen schon aus Büchsenschmieds Apotheke empfangen, und sie purgieren mir die Seele richtig zum Leibe hinaus. So will ich als tapferer Soldat auf dem Felde der Ehren dieser Welt Ade sagen; krepieret Ihr unterdessen am Schnellgalgen!«

»Ich hoffe, Renold, Du bist noch zu retten,« sagte Fabian. »Lasse Dich untersuchen!«

»Mit Gunst, bleibe mir vom Halse,« erwiderte der Verwundete. »Ich begehre keine Untersuchung: zwei Kugeln fuhren mir in den Leib, und zweifelsohne hinten wieder heraus. denn ich stand den welschen Teufeln nahe genug vor der Mündung. Unsere Sache ist fehlgeschlagen; sie hätte einen glorreicheren Ausgang verdient. Aber der Feind hatte uns mit listigen Händeln und Anschlägen schon bei Mellingen ruiniert. Heute, während der Bataille, schlug sich unsere Mannschaft heldenmütig. Der Feind, welcher eine wohl ausgerüstete Reiterei, Fußvolk und Artillerie gegen uns ins Feld stellte, hätte noch lange nicht Viktoria schießen können, doch uns fehlte die Grundlage aller sicheren Kriegsoperationen: verständige Kriegsräte und streng aufrecht gehaltene Disziplin.«

Fabian, der unterdessen Gideons Wams geöffnet und mit dem Schwamm das Blut von dessen Brust gewaschen hatte, sagte: »Spare Deine Worte für nötigere Dinge, denn Du hast nicht viele Atemzüge mehr zu verschwenden.«

»Danke der Glücksgöttin dafür, Du schelmischer Abenteurer,« sagte Gideon mit matter Stimme, während ihm Fabian zwei Schußwunden in der Brust mit Leinwand und Pflaster bedeckte, um das hervorquellende Blut zurückzuhalten. Der Soldat schien nichts davon zu empfinden, denn ohne auf Fabians Beschäftigung zu achten, fuhr er fort: »Beim ersten Begegnen hätte ich Dich niedergesäbelt und in Gegenwart Deiner Dirne umgebracht.«

»Schweige mit Deinen Prahlereien, Renold,« rief Fabian. »Dein letztes Stündlein hat geschlagen. Der Tod steht vor Dir. Fürchte die Ewigkeit!«

»Was fürchten, was?« entgegnete Gideon. »Ich habe andere Majestäten gesehen. Ich sterbe ehrenvoll, wie ich es jederzeit gewünscht habe. Unterfange Dich nicht, die Verleumdung auszustreuen, daß ich nicht bis an mein Ende ein herzhafter Kriegsmann geblieben sei.«

»Renold, Du stehst bald vor dem Richterstuhl des Allwissenden, bekenne die Wahrheit, erfülle meine letzte Bitte. sage mir noch . . .«

Gideon unterbrach ihn und sagte: »Belästige mich nicht. So schwindet der Ruhm . . . Alles vorbei.«

»Bekenne, Du hast Epiphania aus dem Moose entführt; bekenne, wohin Du die Unglückliche geschleppt hast . . .«

»Wäre das Vöglein nicht ausgeflogen gewesen, ich hätte es, Dir zum Possen und Ärger, in den Sack gesteckt. Aber das Nest war leer.«

»Epiphania ist verschwunden,« rief Fabian mit wachsender Angst, denn er bemerkte Renolds zunehmende Schwäche und fürchtete dessen ewiges Verstummen, ehe das Geheimnis von Epiphanias Lose enthüllt wäre. »Ich beschwöre Dich, rede! Läugne nicht! Versöhne Dich mit Gott und den Menschen durch das Geständnis der Wahrheit. Welches ist der Aufenthalt des unglücklichen Wesens?«

Renold schloß die Augen und versetzte mit leiser Stimme. »Das Weibsbild ist . . . ich weiß es nicht . . .«

»Nenne, Gideon Renold, nenne mir den Ort, um Gottes willen, nenne ihn!«

»Ich weiß es nicht,« antwortete Jener leise stöhnend, während sich die Züge seines bleichen Gesichtes plötzlich entstellten und nach einigen Zuckungen in die kalte Ruhe des Todes zusammensanken.

Fabian wiederholte sein verzweifeltes Rufen; Gideon antwortete nicht mehr. Da trat der Frager schauernd vor der schweigenden Leiche zurück. Er betrachtete sie lange mit den Empfindungen des Entsetzens, des Unwillens und Mitleids. Wie er in düsterer Überlegung dastand mit gefalteten, vor sich hingestreckten Händen, auf die Brust gesenkten Hauptes, die Blicke unter finster zusammengezogenen Augenbrauen auf das noch im Tode schöne Antlitz des Soldaten geheftet, rauschten Schritte hinter ihm durchs Buschwerk. Fabian wandte das Gesicht zurück und erblickte mit froher Verwunderung den lange vermißten Addrich. Er ging ihm entgegen.

»Ich hörte Deine Stimme schon in der Ferne, Fabian,« sagte der Alte. »Mit wem sprachest Du?«

»Gott Lob!« rief der Jüngling, »daß uns der Himmel wieder zusammenführt. Ich suchte Dich lange mit vergeblicher Mühe und hielt Dich für gefangen oder getötet.«

»Leere Sorge!« versetzte Addrich. »Der Tod verlangt mich nicht, und das Leben will mich nicht. So muß ich wie der ewige Jude über die Erde wandern. Mir sind die Kugeln ausgewichen; ich wich nur den Klauen der Berner und ihrer Henkersknechte aus. Gut, daß Du lebst; mit wem sprachst Du?« Addrich trat langsam hinzu, blieb in stummer Beschauung stehen, und kein Zug seines Gesichtes veränderte sich. Zuweilen brummte er ein: Hm! Hm! in sich hinein, wie wenn ihm etwas Unerwartetes eine letzte Verwunderung verursache. Nach einiger Zeit murmelte er, halblaut singend:

Vom rosenfarb'nen Munde
Erlischt die Lebensglut;
Die Jünglings-Purpurwunde
Betaut das Gras mit Blut.

Zu spät eilt deine Hülfe,
Er fühlt nun keine Pein;
Er schläft auf dürrem Schilfe;
Sein Kissen ist der Stein.

Fabian erschrak und fürchtete für den Verstand des Alten. »Auf, auf! Laß uns von hinnen eilen, Addrich,« rief er, »denn für uns ist keine Sicherheit in der Nähe des Schlachtfeldes!«


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