Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Einer dieser Höflichen sagte darauf: »Meister Wirri, wir wissen bestimmt, daß Du nicht in guter Absicht hier herumschleichst. Mache also keine Umstände, und gieb die Briefe des Junker Mey von Rued heraus, die Du bei Dir trägst. Wenn die Herren Krieg verlangen, sollen sie ihn vollauf haben. Also heraus den Brief!«
»Was, Brief?« sagte der Meister ganz bestürzt. »Wer sagt Dir, daß ich Briefe bei mir trage? Ich glaube wohl, Du bist ein Fuchs, aber kein Luchs.«
»Der kleine Finger sagt mir, was Du für ein Kamerad bist und was an Dir ist.«
»Nun so laß Dir auch von ihm sagen, an wen ich einen Brief zu bringen hätte.«
»An Jungfrau Fania.«
»Wirklich? Nun denn, so ist er an die, und nicht an Dich gerichtet. Packe Dich also zum Geier mit Deiner Neugierde und lasse einen rechtlichen Mann in Frieden.«
»So ist's nicht gemeint, Meister! Die Zeit ist vorbei, in der die Stadtleute allein das Maul groß aufthun konnten. Gieb den Brief gutwillig heraus, oder ich reiße ihn Dir mit Deinem Wams vom Leibe und die Ohren vom Kopfe dazu.«
Die Drohung schien auf der Stelle in Vollziehung gesetzt werden zu sollen. Zwei Kerle packten den Spielmann und hoben ihn auf, zwei andere machten sich bereit, ihn zu durchsuchen, indem sie erklärten, beim ersten Schrei, welchen er thun würde, sollte ihm die Gurgel zugezogen werden
»Halt!« rief Wirri, und versuchte seine Arme zu befreien. »Gewalt geht über Recht; das weiß ich. Aber wo ist denn der brave Mann geblieben, der mich hierher geführt hat? Er wird nicht gestatten, daß Ihr mich so behandelt. Er wird für mich Zeugnis ablegen. Drei oder vier über einen Mann herzufallen, ist unchristlich. Viele Hunde sind des Hasen Tod, und der Stärkste schiebt freilich den Schwachen in den Sack. Ich glaubte jedoch nicht zu Räubern, sondern zu ehrlichen Christenleuten zu kommen.«
»Du Lästerzunge, schweig!« erwiderte einer der Umstehenden. »Wir sind christlicher gesinnt, als Du und Deines Gleichen. Als Spion und Briefträger verdientest Du, nach Kriegsrecht, am nächsten Baumast zu zappeln. Aus menschenfreundlichem Erbarmen gönnen wir Dir das Leben. Du bleibst aber, bis auf weitere Ordre, Kriegsgefangener, leistest Gehorsam in allem, was Dir abverlangt wird, händigst die bei Dir befindlichen Depeschen ohne weitere Umstände aus, und lässest es nicht zum Äußersten gelangen.«
»Höre, guter Freund,« sagte der Spielmann, »ich würde keinen Pfifferling für Deinen Kanzleistil geben, wenn nicht, statt der Siegel, ein halbes Dutzend grober Fäuste daran hingen. Lasset mir also die Hand los, damit ich den Brief suchen kann. Aber vergesset nicht, das Jahr hat zweiundfünfzig Wochen, und oft kommt über Nacht, woran der Klügste nicht gedacht.«
»Wohlgesprochen!« erwiderte man dem Meistersänger, »Solches erfährst Du heute an Dir, und die Städte werden es mit Dir erfahren. Also nur den Brief heraus.«
Wirri suchte den Brief, indem er einige unverständliche Worte murmelte. Sobald er das verlangte Papier abgegeben hatte, entfernten sich alle, bis auf einen Mann, der, als Wachthabender vermutlich, vor der Schmiede auf- und abging.
Wirri murmelte, sich wieder auf die Bank setzend, zur eigenen Gemütsbesänftigung einige ihm sonst ungewohnte Flüche; vergaß jedoch dabei nicht, den Himmel jedesmal gebührend um Verzeihung zu bitten. Aus langer Weile beobachtete er lange Zeit im Finstern das stumme Hin- und Herwandeln des Wärters; die seitwärts zu seinen Füßen liegenden Hunde; oder die Sterne, welche zwischen den fliegenden Wolken bald sichtbar wurden, bald verschwanden. Es herrschte weit umher eine tiefe Stille; selbst das Hämmern in der Schmiede wurde aufgegeben, und man vernahm nur die Stimmen derer, welche im Gebäude sprachen. Meister Wirri glaubte unter diesen Stimmen auch den heisern Ton seines Führers zu erkennen, und drehte sich um, sich von dessen Anwesenheit zu überzeugen. Unmittelbar hinter seinem Rücken, durch einen breiten Riß zwischen Mauer und Holzwerk, drang ein Lichtstrahl hervor, groß genug, um alles im Innern gemächlich beobachten zu können. In einer finstern Ecke knirschte der Blasebalg, der die blendende Glut der Esse anblies. Eisenstäbe in großer Menge lagen halb vergraben im Feuer. Einzelne Teile der schwarzen, rußigen Werkstätte, Balken, Sparren, Ketten und Zangen, die neben anderem Geschirre an den Wänden hingen, schienen sich, wie lebendig, bald heller an's Licht hervorzubewegen, bald in die Dunkelheit zurückzuziehen. Als ein wahrhafter Fürst der Finsternis saß Wirri's Begleiter breit und riesenhaft auf dem Amboß, wie auf einem eisernen Throne. Weil er den Rücken der Feueresse zugewendet hatte, glich er einem lebendigen schwarzen Schatten, und das struppige Haar seines Hauptes, vom Widerschein des Feuers beleuchtet, glich einer glühenden Krone. In der halbemporgehobenen Rechten trug er, statt des Szepters, ein zugespitztes Eisen, wie man es in jener Zeit auf Spieße oder Piken zu setzen pflegte.
Den Meister Heinrich überlief bei diesem Anblicke ein abergläubiges Grausen; noch mehr aber entsetzte er sich, als er unter den drei Bauern, die vor dem gewaltigen Inhaber des Ambosses standen, leibhaftig die Gestalt des Schweden wahrnahm, welche ihm und dem Junker Mey auf dem Ruederberge begegnet war; nur war an die Stelle der schwedischen Kriegstracht die gewöhnliche Bauernkleidung von rohem Zwillich getreten.
»Woran liegt's?« sagte die heisere Stimme mit einem Ausdrucke von Verdruß. »Nicht dreihundert, sondern dreitausend Stück sollten fertig sein. Wißt Ihr auch, daß die Baseler, Mühlhausener, Berner und Züricher uns schon in einigen Tagen über den Hals kommen?«
Einer der Umstehenden antwortete: »Fünfzehnhundert Stück werden, wie Du weißt, jetzt schon geschäftet und verteilt. Wir können die Spieße wahrlich nicht im Ofen backen, wie der Bäcker die Waffeln und Semmeln, Eisen will gehämmert sein.«
»Genug, rühret die Fäuste!« rief der Mann auf dem Amboß. »Schaffet Tag und Nacht; es ist hohe Zeit; oder alles geht zum Teufel. Was meinst Du, Gideon? Diese Spitzen scheinen mir etwas kurz. Sie sollten einen halben Fuß länger und keine Zahnstocher sein.«
Derselbe, welcher vorher geantwortet hatte, erwiderte auch jetzt: »Sie haben genau das Maß, welches der Hauptmann Gideon hier vor drei Wochen selbst angegeben und befohlen hat. Wurde gefehlt, so ist's seine Schuld; das kümmert mich wenig. Aber bedenke, daß, wenn die Spitze um einen halben Fuß länger wird, sich die Arbeit um die Hälfte verlängert, und Dir, als Zahlmeister, das Geld im Sacke um die Hälfte kürzer macht. Was mich anbetrifft, ich thue, wie Ihr's verlangt.«
Jetzt nahm der Schwede die Eisenspitze aus der Hand des Alten, betrachtete die Arbeit und sagte: »Nein, dabei bleibt. Was dem Eisen abgeht, ersetzt die Länge des Spießschaftes; und wem dieser Zahnstocher durch den Magen fährt, der hört auf zu kauen.«
Der Alte auf dem Amboß entgegnete: »Gideon, nimm die Sache nicht allzu leicht. Der Rat zu Bern hat die Welschen aufgeboten, und rühmt sie gar sehr, als eifrig ergebene, tapfere und wohlgeübte Leute.«
»Mag sein!« versetzte der Hauptmann im Zwillichwams. »Wo der Wein gut ist, da dürfte man keinen Kranz aufstecken. Die Welschen sind am Ende doch nur eilfertig zusammengeraffte neugebackene Soldaten, die nur wenig eingeübt sind, und wir können ihnen ohne Furcht die Spitze bieten. Ich gebe mein Ehrenwort, binnen vierzehn Tagen aus unsern Leuten Soldaten zu machen, die ihr Handwerk verstehen und die welschen Hasenfüße über all Berge treiben.«
»Wer seinen Feind verachtet,« sagte der Alte, »hat's Spiel schon halb verloren . . .«
»Gleichermaßen,« unterbrach ihn Gideon, »wer seinen Feind fürchtet. Lasset uns nur sorgfältig wachen, daß von unsern Mitteln und Vorhaben nicht allzu viel in der Welt bekannt werde, und wir dem Feinde, der uns zu überrumpeln gedenkt, das Prävenire spielen können.«
»Ganz richtig!« entgegnete der Alte. »Bis jetzt ist die Sache unter wenigen und wohlverwahrt.«
»Darum muß eine Kriegsordnung bestehen,« fuhr der Hauptmann fort. »Dem ersten, der sich auf fahlem Pferde erblicken läßt, ohne Pardon den Kopf ab! Wer Briefe trägt, spioniert, ohne Pardon den Kopf ab!«
Bei diesen Worten des Hauptmanns, die derselbe, so oft er »Kopf ab!« rief, mit einer ausgreifenden Bewegung des Armes durch die Lust begleitete, als stände er an Scharfrichters Stelle da, verschwanden dem Spielmanne fast die Sinne, denn er erinnerte sich des ihm gewaltsam genommenen Briefes und bezog die Rede auf seine Person, die hier von aller Welt verlassen saß. Er drehte sich hastig von der Mauerspalte fort und sah sich nach einem Wege zur Flucht um. Der Wachthabende ging in der Dunkelheit noch immer langsamen Schrittes auf und ab. In diesem Augenblicke war er gerade am entferntesten; der Wald, wohin die erste Zuflucht genommen werden konnte, ringsum nahe; auch ließ sich hoffen, die Straße durch das Thal ohne Mühe zu finden, sobald die Füße nur dem natürlichen Zuge bergab folgten. Dies bedachte Meister Wirri mit Blitzesschnelle und rasch lief er auf und davon. Er hatte aber noch nicht drei Schritte gethan, als er sich im Nacken festgehalten fühlte und ihm vorn auf die Brust eine zottige Bestie sprang, welche grimmig bellend vor ihm stehen blieb. Er stieß einen lauten Schrei aus. Es waren die beiden wohlabgerichteten Hunde, welche sich seiner bemächtigt hatten, und die in der Eile von ihm gar nicht mehr beachtet worden waren. Der größte von ihnen hatte ihm die Vorderpfoten, wie zur Umarmung, von hinten auf beide Achsen gelegt, und mit dem Rachen das zufällig durch Mantelkragen und Hutkrämpe wohlgeschützte Genick gefaßt. Schnell lief der Wächter herbei und rief den Hunden zu: »Laß ab! Laß ab!«
Der Spielmann schüttelte sich am ganzen Leibe, als wollte er seiner Befreiung von den reißenden Tieren oder der Unverletztheit seiner Gliedmaßen gewiß werden, und sagte: »Wenn Fluchen keine Sünde wäre, möchte ich dies Mörderloch mit Menschen und Vieh in den tiefsten Abgrund der Hölle hinunter wünschen Es wäre meiner Treu! dort besser am Platze, als in meiner gnädigen Herren und Obern Gebiet.«
»Du Narr, Du!« sagte lachend der Bauer, der ihn beim Arme festhielt und zurückführen wollte. »Warum saßest Du nicht still? Wer hieß Dich davon zu laufen? Kannst von Glück erzählen, daß Dir mein Beißer die Gurgel zum Schreien offen ließ.«
»Kann ich nicht gehen, wohin mir's beliebt?« entgegnete Meister Wirri. »Bin ich Euer Gefangener? Wer darf einen Ehrenmann festhalten? Packe Dich zum Henker, der auf Dich wartet.«
»Halte Dich ruhig,« erwiderte der Bauer, »es wird Dir kein Leides widerfahren. Wir sind keine Gurgelabschneider, sondern so ehrlich, wie Du. Da hast Du mein Wort und dabei bleibt's.«
»Ja,« sagte Wirri, »Du und Deines Gleichen bleiben beim Wort, wie der Hase bei der Trommel.«
Während dieses Gezänkes trat ein dunkler Schatten aus der Schmiede. Der Spielmann erkannte am Umriß desselben sogleich seinen breitschultrigen Geleitsmann.
»Was hast Du mit diesem braven Mann? Er ist mir auf der Straße begegnet und hat mich nur aus Gefälligkeit begleiten wollen,« sagte der Alte zornig zum Bauer. »Jockli, ich warne Dich! Deine Lust, Fremde zu necken, könnte Dir einmal einen Bruch in die Rippen machen und Deinen Hunden das Fell kosten. Komm, Meister,« fuhr er fort und wandte sich in sanfterem Tone, indem er dessen Arm ergriff, zum Spielmann, »wir gehen mit einander. Es ist ungeschlachtes Volk in den Bergen, das keine Lebensart kennt. Komm! Gute Nacht! Jockli!«
Der Spielmann, zwar froh, so glücklich davon zu kommen, blieb jedoch nach den ersten zehn Schritten wieder stehen und sagte: »Ich weiß wohl, Schmiedskinder sind der Funken gewohnt und Kohlenbrenner färben nicht weiß; mag ihnen auch nichts übel nehmen, allein das ist Schelmengesindel hier. Sie haben mir, als Du fortgegangen warest, den Brief des Oberherrn mit Gewalt entrissen. Ich muß den Brief wieder erhalten, oder ich erhebe Klage beim Landvogt zu Lenzburg, und dann gnade Gott diesen Kerlen!«
»Still!« flüsterte ihm der Geleitsmann ins Ohr und zog ihn mit sich bergab, ins Gebüsch. »Laß Dich nicht hören! Weißt Du denn nicht, wo wir sind? Willst Du Dich und mich mutwillig ins Verderben reißen? Meuterer, Aufrührer, Rebellen sind's. Wenn die unsere Absicht merken, nehmen sie uns den Schädel unter den Hammer und es kräht kein Hahn danach.«
»Wahrlich, Du sagst mir nichts neues,« antwortete Wirri, der nun erschrocken und geduldig mittrabte und sich im Finstern an seines Führers Arm hielt. »Ich habe die Zeisige am Gesange erkannt, den sie in der Schmiede anstimmten. Aber warum gingst Du auch zu ihnen? Warum verleitetest Du mich, hierher zu gehen, mich armen Mann, der vor dem Junker von Rued mit Schimpf und Schande bestehen muß?«
»Du thust mir leid, aber morgen in der Frühe mache ich's beim Oberherrn wieder gut, Meister.«
»Willst Du wirklich morgen nach dem Schlosse?« fragte Wirri mit einem ungewissen Tone, der seinen stillen Zweifel an der Redlichkeit des Alten verraten konnte.
»Hast Du vergessen, was ich Dir sagte, Meister, als wir hierher gingen? Mußte ich nicht hierher, um dem Junker das Gewisse melden zu können? Mit leeren Vermutungen ist solchen Herren nicht gedient.«
»Wenn ich aber die Ohren recht hielt, hat's mir geschienen, als stimmtest Du in das Lied der gottlosen Rebellen ein wenig ein. Ich will eben nicht gesagt haben, daß ich Dich für einen ihres Gelichters halte, aber wer doch zu einem Dinge schweigt, giebt sich schuldig.«
»Soll ich denn wie das Schaf blöken, wenn ich unter den Wölfen sitze? Was hättest Du gethan, um sie auszuforschen? Würdest Du ihnen die Wahrheit gesagt und den Text gelesen haben? Meister, ich glaube nicht, daß Du von Aarau bist, denn die Herren dort stellen es pfiffiger an.«
»Nun allerdings, guter Freund, wer die Wahrheit geiget, bekommt den Fidelbogen auf den Kopf. Es war ganz gut von Dir gethan; denn beim Spiel lernt man die Leute kennen. Jetzt kenne ich auch den saubern Herrn Gideon! Es ist kein Hinten ohne Vorn, und kein Nachteil ohne Vorteil. Der Junker Oberherr wird sich verwundern, wenn ich's ihm erzähle.«
»Also Du kanntest den Erzschelm Gideon schon früher?«
»Gestern begegnete er mir und dem Junker, als wir beim Schlosse frische Luft schöpften, und er streckte schon da die Klauen vor. Wir gerieten mit Worten hart aneinander; doch Geduld, was versehrt, das lehrt! Dem werfe ich gewiß auch noch einen Stein in den Garten.«
»Nun wundert's mich nicht, woher die Leute sogleich wußten, daß Du in Geschäften des Junkers reisest und Briefe tragest. Der Gideon hat seine Sohlen in Deine Fußtapfen geschoben, Meister, denn er hatte zehnmal mehr von Dir zu sagen, als ich. Du solltest nicht vor jedem sogleich mit Deinen Heimlichkeiten auskramen.«
Unter Fortsetzung dieses Gesprächs waren sie glücklich aus dem Gebüsch wieder ins Freie gekommen. Der Wind strich scharf und kalt das Thal herauf und streifte die Nebel von den Bergen. Wirri unterließ nicht, während des Redens zuweilen die Augen nach allen Seiten herumzuwenden, um zu wissen, wo er sich eigentlich befinde. In der Dunkelheit sah er aber nichts, als seitwärts die Berge, welche schwarzen Wolken gleich ihre Ränder am Himmel abzeichneten. Nirgends verkündete ein Licht das Dasein einer menschlichen Wohnung. Der Alte schien sich um betretene Wege nicht viel zu kümmern. Er wanderte rüstig fort, bald über Steinschutt, bald über Wiesen, bald durch das Bett eines Baches, bald durch ein Stück Wald; dabei sorgte er unaufhörlich für unterhaltendes Geplauder. Als dem Meister nach geraumer Zeit das Wandern endlich beschwerlich wurde und es ihm vorkam, wie wenn sich die Höhen von beiden Seiten enger zusammendrückten und es immer steiler aufwärts ging, blieb er plötzlich stehen und sagte zu seinem Reisegefährten:
»Guter Freund, wenn Du nicht böse Absicht hegst, so mußt Du irre gegangen sein, denn mich dünkt, wir kommen diese Nacht aus der Wildnis nicht heraus. Man hört weder Glocke noch Hund, nichts als den Wind, wenn er durch die dürren Bäume fährt. Ich dächte, wir kehrten um und nähmen mit dem ersten Hause oder Heustalle vorlieb, denn die Kälte setzt mir zu und die Nacht ist keines Menschen Freund.«
»Begehrst Du denn nicht zu Addrich im Moos?« fragte der heisere Alte.
»Bewahre mich der Herrgott!« rief der Meistersänger. »Wo denkst Du hin? Du weißt, doch mein Brief ist geraubt; ich glaubte also, Du würdest von selbst einsehen, daß ich nicht hin könne und wolle, wo ich nichts mehr zu verrichten habe. Warum führst Du mich nicht ins Dorf oder in Dein Haus?«
»Meister, Deine Schuld ist's und nicht meine, wenn Du nicht zum Addrich verlangtest und doch schwiegst.«
»Aber der Brief ist ja in den Klauen der Schmiede.«
»Nun ja, was thut's? Das Maul haben sie Dir gelassen, und wer weiß denn, ob das Fanely Geschriebenes lesen kann? Mache ihr Deine Anträge mündlich; vielleicht sieht sie Deine runden Backen lieber, als das magere Papier.«
»Thue mir den Gefallen, guter Freund, und kehre um. Ich lade den Teufel nicht zu mir ins Haus, noch weniger kehre ich ohne Not bei ihm ein.«
»Wenn Dir der böse Feind einst so gutes Nachtquartier giebt, als wir beim Addrich finden, so wirst Du nicht zürnen. Ich meinesteils ich kehre nicht mehr zurück, denn noch zehn Schritte jenseits des Busches und wir sind am Orte.«
»Halt, guter Freund! Es geht jemand im Dunkeln hinter uns. Hörst Du nichts?« rief Heinrich Wirri mit Entsetzen, und fühlte in dem Augenblicke lebendige Tiere, die um ihn streiften.
»Es sind nur Addrichs Hunde.«
»Die verdammten Bestien bellen nicht einmal; thun ganz bekannt mit mir.«
»Du siehst daraus, Meister, wie der Eigentümer derselben menschenfreundlich denkt. Nur vorwärts, umkehren müßte Verdacht erregen.«
Langsam und schüchtern folgte Wirri, denn die Hunde umschnoberten und umwedelten ihn, ohne daß er sie erblicken konnte. Nach wenigen Schritten schon schimmerten Lichtstrahlen durch die Tannenzweige. Als die Wanderer jedoch ins offene Land hinaustraten, leuchteten ihnen die Fenster eines großen Bauernhauses entgegen.
Der Alte hatte beim Eintritt in die Wohnung mehr das Ansehen eines hier wohlbekannten Hausfreundes oder des Herrn, als eines seltenen Gastes. Zwei Knechte, die am Kochherde plauderten, gingen ihm sogleich grüßend entgegen. Er unterhielt sich leise mit ihnen, während der Spielmann ihren Platz am Feuer einnahm, über welchem am eisernen Haken der Kessel hing, der ihm einen nicht unbehaglichen Speiseduft zuhauchte.
»Begleite mich,« sagte einer der Knechte, welcher mit einer angezündeten Lampe zu Wirri kam. »Du bist bei uns wohl aufgehoben. Addrich wird Dich heute kaum sprechen; er hat eine kranke Tochter.«
Wirri sah sich in der Küche mit dem Knechte allein, und hatte, während er sich an der auflodernden Flamme des Herdes wärmte, nicht bemerkt, daß sein bisheriger rotäugiger Begleiter verschwunden war. Durch mehrere kleine Stuben wurde er nun vom Knechte in einen schmalen Gang geleitet, welcher zum hinteren Teile des Hauses, nach einer verschlossenen Thür führte. Durch diese kam er in ein kleines Gemach, welches von einem großen gemauerten Ofen, einem hohen Bett, das fast an die Stubendecke reichte, einem alten Tisch von Tannenholz und einigen hölzernen Sesseln fast gänzlich angefüllt war. Der Knecht Addrichs setzte die Lampe nieder und sagte: »Man wird Dir Abendessen bringen, und dort ist Dein Lager, wenn Du den Schlaf suchst.« Damit entfernte er sich.
Wirri, solcher Aufnahme in dem vielgefürchteten Hause nicht gewärtig, ließ sich's im warmen und saubern Stübchen ganz wohl sein. Das Gebäude war zwar, wie damals jede Wohnung des Landmanns, nur von Holz gebaut, mit einem Strohdache, zeigte sich aber innen durchweg mit Tafelwerk versehen und ungemein reinlich gehalten. Jedes Gerät, obgleich äußerst einfach, sprach für des Eigentümers Ordnungsliebe und Wohlstand. Mit besonderem Wohlgefallen betrachtete der Meister sein hochgetürmtes Bett, dessen Bezug vollkommen sauber, wenngleich nur von ungebleichtem, grobem Stoff gewebt war. Ihn befremdete nur das starke Eisengitter vor dem Fenster und daß die Thür nur von außen, aber nicht von innen mit Riegeln versehen war. Das gab seinem Aufenthalte für die Nacht ein fast gefängnisartiges Ansehen.
Unter diesen Betrachtungen erschien das versprochene Abendessen. Ein Knecht, dem ein sehr schönes Mädchen folgte, trug Habermus, Schinkenschnitte, Brot, weiß und locker wie Wolle, Emmenthaler Käse, in dessen Poren Tautropfen glänzten, und Wein in einer schwarzgrünen Glasflasche auf. Mit bewundernswürdiger Gewandtheit breitete die ländliche Hebe das frische, doch ungebleichte Tuch über den Tisch auseinander, daß der zwei Zoll breite, rotdurchwirkte Streifen der Tuchmitte über der Mitte des Tisches hinlief. Im Augenblicke waren die Speisen im besten Ebenmaß darauf zusammengestellt. Sie verrichtete ihr Geschäft, ohne ein Wort zu reden, mit freundlich-schüchterner Miene, niedergesenkten Augen, aber vieler natürlicher Anmut. Die stets wechselnden, anmutigen Wendungen ihres Körpers, selbst wenn sie den Fuß nicht bewegte, sowie ihr leichter, tanzartiger Gang konnten dem Meister nicht unbemerkt bleiben, doch das Habermus und die zarten Fleischscheiben, welche sie für ihn aufgetragen und die in ihrem glänzenden Weiß und Rot wie Lilien und Rosen lachten, nahmen seine Blicke nicht minder in Anspruch, nachdem sich die junge Dienerin mit einem leisen: »Daß es Dir wohlbekomme!« schnell durch die Thür entfernt hatte.
Da erst, als er das Ungestüm seiner irdischen Bedürfnisse angesichts der leeren Schüsseln hinlänglich befriedigt fühlte, kam er mit seinen Gedanken auf die kleine Hebe zurück, deren gefälliges Äußere mit der ungelenken Art einer rohen Bauernmagd durchaus nichts gemein hatte. Je länger er sich das Bild der schlanken, beweglichen Gestalt vergegenwärtigte, desto deutlicher wurde es ihm, daß dies die unglückliche Pate des Dekans Nüsperli gewesen sein müsse, die zu entführen er hierher gekommen war. Er machte sich gerechte Vorwürfe, nicht schon die Einleitung dazu getroffen zu haben.
Nach einem Stündchen öffnete sich abermals die Thür und dasselbe Mädchen erschien, um den Tisch abzuräumen. Er säumte nicht, mit der anfangs Schüchternen ein Gespräch anzuknüpfen und sie genauer zu betrachten.
»Warum denn,« sagte er zu ihr, »warum denn bist Du hier, und weshalb bleibst Du? Gewiß wohnt hier der Addrich selbst? An Deiner Stelle wäre ich längst über alle Berge. Man ist ja in diesem unheimlichen Walde wie von Gott und den Menschen verlassen. Giebt Addrich guten Lohn?«
»Nichts!«
»Nun denn, nichts ist sehr gut für die Augen, aber nicht für den Magen. Ich begreife nicht. warum Du Dich halten lässest?«
»Ich bin eine arme Waise, die Addrich aus Mitleid aufgenommen hat. Wohin soll ich gehen? Gern wäre ich, wenn auch bloß ums liebe Brot, irgend anderswo.«
»Wohin? Ei nun, nach der Stadt zum Beispiel; nach Aarau, wo ich wohne. Ich bin Spielmann, und verdiene mein blankes Stück Geld; bin in allen guten Häusern angesehen. Bei Kindtaufen, Namenstagen, Hochzeitsfesten wird mein Sinnspruch reich belohnt und noch vieles nebenbei gewonnen. Hätte ich eine brave Hausfrau, ich säße wie die Perle im Golde. Du weißt wohl und ich muß es bezeugen, Junggesellenwirtschaft macht nicht reich; und regnete das Gold zum Dache herein. Wenn wir beide, zum Beispiel, mit einander hausen würden, ließ ich mir den Kummer nicht über das Knie wachsen. Wir hätten vollauf und noch für das dritte genug.«
»Du redest mir gar wunderlich und ich verstehe Dich wahrlich nicht,« sagte das Mädchen, und sah ihn mit lächelnder Neugier und Augen voller Unschuld an.
»Ich verstehe mich doch sonst aufs Reden, und Husten und Liebe lassen sich eben nicht gut verbergen. Also, kurz und rund herausgesagt: ich bin entschlossen, wenn Du mit mir gehen willst. Wollte ich in der Stadt meine Hand zum Fenster hinausstrecken, so hinge an jedem Finger ein Mädchen, das meine Braut sein möchte. Aber siehst Du, Deinetwegen bin ich hergekommen in dies abgelegene Nest. Ich hatte sogar einen Brief für Dich vom Junker Mey von Rued, aber das Diebs- und Rebellenpack in der Hammerschmiede hat ihn mir weggenommen. Wir sollten beide mit einander nach Liebegg flüchten.«
»Gehe mir doch mit Deinem Geschwätze,« sagte das Mädchen und hüpfte lachend am Tisch umher. »Was weiß Junker Oberherr vom armen Änneli hier?«
»Änneli?« murmelte der Meister Wirri sehr betroffen. »Da klopfte ich an die unrechte Thür. Alter Esel! Laß Dir die Ohren stutzen, wenn Du wie ein Füllen aussehen willst.«
»Dachte ichs doch gleich, als ich Dich mit Addrich ins Haus treten sah, Du kämest von Aarau; die Herren von Aarau machen sich gern lustig.«
»Ich mit Addrich?« rief der Meister erschrocken. »Was sagst Du, Änneli? Der Alte, der mit den Augen wie durch rote Frieslappen sieht, ist Addrich?«
Das Mädchen tanzte und lachte wie närrisch und sagte: »Du mußt Dich besser verstellen. Thue nur, als wenn Du ihn nicht kenntest; mir machst Du nichts weiß.«
»Da bin ich wieder garstig angerannt!« murmelte der Spielmann. »Versehen heißt auch verspielt; es ist heute ein Unglückstag. Der Teufel hat mich in die Falle gelockt und ich bin gefangen. Sage mir, herziges Änneli, man lebt übrigens doch im Hause hier, denke ich, mit Gottesfurcht, in Frieden und Einigkeit beisammen?«
Sie zuckte die Achseln und machte seitwärts ein furchtsames Gesicht, indem sie halblaut flüsterte: »Weiß ich denn, was hier vorgeht? Ich bin seit Weihnachten im Hause und kenne es nicht. Es kehrte mancher ein, den ich nicht wieder gehen sah; und mancher ging, der nie wieder kam. Es wird mir oft bange ums Herz, denn hier ists ganz anders, wie bei anderen. Man darf nicht alles hören, nicht alles sagen. Könnte ich in christlicher Leute Dienst kommen, zehn Stunden weit lief ich barfuß über den Schnee dahin.«
»Hältst Du denn die Leute hier im Thale nicht für christliches Volk, herziges Änneli? Sprich doch offenherzig und unverblümt. Komme ich je wieder nach Aarau, mußt Du im besten Hause dort Kindsmagd werden. Dienst um Dienst! Also nicht christlich wären sie, meinst Du?«
»Ach, weiß ichs? Erstlich hat Addrich die Kirche nicht gesehen, glaube ich, seit er getauft ist. Er denkt alle Tage anders und thut alle Tage anders. Die Leute sagen ihm gar zu böse Dinge nach. Wäre Addrich nicht so reich, so schlösse man jede Thür vor ihm, und er würde mit seiner Klugheit keine Katze vom Ofen locken.«
»Allerdings, aber ein silberner Hammer zerbricht eiserne Pforten und goldene Schlüssel öffnen jedes Schloß. Meinethalben, Änneli, so wars in allen Zeiten; doch hunderttausend Jahre dauerndes Unrecht ist darum während keiner Minute Recht. Sage mir doch, sind sämtliche Bewohner dieses Hauses von gleichem Schlage? Es versteht sich, Dich ausgenommen. Es giebt hier eine Jungfrau, genannt Epiphania?«
»Eine seelengute Tochter ist sie, so gut! . . . aber . . . doch ist's mit ihr nicht ganz richtig. Ich habe sie im Sommer auf den Wiesen den Hexenringen nachgehen sehen. Sie hält's mit Kobolden, Geistern und Schrättelein. Wenn sie zuweilen von ihren geheimen Dingen redet, macht sie mir Seelenangst, denn sie ist gut, spricht wie ein Buch und könnte mich doch wohl einmal zum Bösen verführen.«
»Daß Dich Gott bewahre, Änneli! Ich habe genug gehört, um davon zu laufen.«
»Und, Herr, Du solltest erst Addrichs Tochter, das kranke Loreli, sehen! Gewiß und wahrhaftig, es würden sich die Haare Deines Kopfes sträuben. Es kann nicht leben, es kann nicht sterben. Lebt es, so mag es kaum reden. Liegt es bleich und starr wie eine Tote da, dann singt es mit leiser Stimme wunderbare Lieder und Prophezeiungen.«
Meister Wirri schüttelte sich unwillkürlich frostig, als er diese seltsamen Berichte vernahm, und sagte: »Man sollte hier auf alle Dielen Kreuze machen, denn es ruht auf dem Hause ein böser Fluch. Mache Dich auf sobald Du kannst und schüttle den Staub von Deinen Füßen. Frage nur in Aarau nach mir. Jedes Kind zeigt Dir dort die Wohnung des Meisters Wirri am Ziegelrain. Ein guter Dienst soll Dir nicht fehlen, und vielleicht sage ich Dir noch etwas Besseres, denn Du bist gar nett und freundlich, wie sich dergleichen wohl zu einem Spielmann paßt.«
Das Mädchen hatte während des Gespräches das Tischgerät abgenommen und hielt alles im Arm. Es lächelte den Meistersänger zutraulich an und sagte: »Wärest Du doch gekommen, als meine Mutter gestorben und ich von aller Welt verlassen war! Die Bauern im Dorfe haben ein gar hartes Herz und sind arm dazu. Um Gottes willen wollte mich keiner aufnehmen, darum mußte ich zu Addrich; doch wußte ich von ihm alles das, was das ganze Dorf wußte, und ging mit Thränen und Schrecken hierher. Ach, dem Reichen geht alles hin, aber ein armes Waisenkind ist ein niedriger Zaun, über den alles hinwegspringt.«
»Herziges Änneli, führe nicht so traurige Reden!« sagte er, und streichelte leise mit der Hand ihre errötende Wange. »Warum betrachtest Du mich denn mit Zweifel und ziehst das Köpfchen zurück? Ich meine es ehrlich und Du bist reich. Ein schönes Mädchen zahlt mit freundlichen Augen besser als mit harten Thalern. Wenn wir uns beide einmal verstehen, sind wir, denke ich, des Handels bald einig.«
Sie zog sich verschämt zurück und sagte: »Du bist und bleibst der Aarauer Herr. Gute Nacht!«
Mit diesen Worten schlüpfte sie zur Thür hinaus, doch nicht, ohne ihm noch einmal freundlich zugenickt zu haben. Herr Wirri blieb lange auf einer Stelle stehen, die Augen zur geschlossenen Thür hingewandt. Die niedliche Gestalt, ihre leichten Bewegungen, die große Rührigkeit ihres Körpers, ihres Köpfchens, die raschen Übergänge ihres Mienenspiels vom Ernst zur kindlichen Fröhlichkeit, ihre Gewandtheit beim Auf- und Abtragen der Speisen, . . . alles das schwebte anhaltend vor seinen Augen und er mußte sich bekennen, Änneli könnte wohl das artigste Bräutchen für einen Spielmann werden.
Aus solchen hochwichtigen Betrachtungen zog ihn das plötzliche Aufspringen der Stubenthür. Es war jedoch nicht Ännelis zartes Köpfchen, welches mit dem taubenartig beweglichen Halse durch die halboffene Pforte sah, sondern ein Riesenhaupt mit grobgeschnittenen Zügen, dessen Nase, Kinn und Backenknochen gewaltig hervorstanden; Bart und Augenbrauen waren buschig, die Augen in Blutringe eingefaßt . . . kurz, Addrichs Kopf. Sein Mund öffnete sich und er stieß mit heiserer Stimme die Worte aus: »Gute Nacht, Meister Wirri! Morgen sprechen wir zusammen.«
Das Holoferneshaupt verschwand und die Thür fiel zu. Von außen wurde ein Riegel vorgeschoben und man konnte aus dem Geräusche deutlich erkennen, daß noch ein Hängeschloß vorgelegt wurde. Die Schritte entfernten sich darauf durch den Gang hin.
Wirris Schrecken war so gewaltig, daß er weder den empfangenen Wunsch erwidert, noch die Fähigkeit behalten hatte, der Ursache seiner Einsperrung nachzufragen. Das Zufahren der Thür, das Pfeifen des rostigen Riegels, das Klappern des Vorhängschlosses dröhnte ihm in allen Nerven, und verscheuchte die ganze Menge der süßen, wenngleich voreiligen Ehestandsbilder. Er stieß einen tiefen Seufzer aus: »Muß ich also Einer von Denen sein, die man hereinkommen, aber nicht wieder weggehen sieht? Hilf, heiliger Himmel! Gegen diese versteckte Mördergrube war doch Danielas Löwenzwinger eine sehr freundliche Herberge!«
Er warf sich, in den Kleidern bleibend, angstvoll auf's Bett, nahm seine Zuflucht bald zum Beten, bald zum Fluchen, ohne weder im einen, noch im andern Beruhigung zu finden. Diese kehrte von sich selbst erst dann, und wenn auch nicht als feste Zuversicht, doch im Wesen tröstender Hoffnung zurück, sobald das erste gewaltige Herzpochen infolge des Schreckens sich gelegt und der ungestüm aufgeregte Blutlauf sich beruhigt hatte. Er glaubte, keine Gefahr für sein Leben befürchten zu müssen, denn wäre dem Addrich an diesem gelegen, so würde er es ihm in der Hammerschmiede, im Walde, oder auf der nächtlichen Wanderschaft ohne Gefahr haben rauben können. So dachte er, und indem er alle Umstände mit wachsender Besonnenheit zusammenstellte, entdeckte er auch bald den wahrscheinlichen Grund, warum man seine werte Person für diese Nacht hinter Schloß und Riegel gelegt habe. Er erinnerte sich, daß Addrichs heuchlerische Arglist ihm das Geständnis vom Briefe des Junkers entlockt hatte, daß Addrich selbst den Inhalt des Briefes und das Vorhaben des kühnen Spielmanns kannte, Epiphania nach Liebegg zu entführen. Was war natürlicher, als den Plan durch nächtliche Verwahrung des Entführers zu vereiteln? »Morgen schickt er mich mit langer Nase wieder heim,« sprach Wirri zu sich selbst, »und giebt mir einen Sack voll Schimpfreden mit auf den Weg.«
Er war in der Betrachtung seines Zustandes bis zu diesem Punkte gekommen, als ihm ein mattes Aufflammen der Lampe das Verlöschen ihres Mondscheinlichtes verkündete; er eilte zu spät zum Tische, und befand sich beim ersten Berühren des Dochtes in tiefer Finsternis. Ein neues Grauen befiel ihn, er tappte ängstlich zum Bette zurück, kletterte wie an einem Turme mühsam hinauf, legte sich unentkleidet nieder und schloß die Augen; unstreitig das beste Mittel, die Finsternis nicht mehr zu bemerken.
Es mochte schon gegen Morgen sein, als er endlich in einen unruhigen Halbschlaf versank; aus diesem aber wurde er wieder ebenfalls aufgeschreckt, und zwar, wie es ihm vorgekommen war, durch Hundegebell, welches von außerhalb des Hauses hörbar wurde. Er spitzte mit schlagendem Herzen lange das Ohr. Da es jedoch still blieb, legte er das müde Haupt wieder zum Schlummer. Bald aber vernahm er ein sonderbares Geräusch, wie von Menschentritten herrührend, und so nahe, daß er glaubte, man komme zu seinem Bette. Er fuhr mit halbem Leibe in die Höhe; das Herz schlug ihm, als wollte es die Brust sprengen, und er fühlte, wie sich die Haare seines Krauskopfes aufrichteten. Mit Entsetzen bemerkte er eine finstere Gestalt in schwebender Bewegung vor dem Gitterfenster seines Gemaches. Je länger er hinhorchte, desto deutlicher unterschied er die Umrisse eines Mannes, der am Fenster hinaufstieg, mit den Füßen in das Gegitter trat, und endlich in der Höhe verschwand.
Wie unangenehm dem vielgequälten Manne die neue Störung auch sein mochte, so gewährte sie ihm doch eine Art Beruhigung, weil er darin keine Gefahr für seine Person sah. »Ist's ein Dieb, dem nach Addrichs Schätzen gelüstet,« dachte er, »so bin ich wohlgeborgen und verwahrt. Es könnte aber auch ein verliebter Nachtvogel sein, der beim herzigen Änneli zur Chilt geht; dann sucht er mich nicht. Ich wäre viel lieber an seiner Stelle. Das junge Blut weiß also auch schon, daß im Dunkeln gut munkeln ist. Wer hätte den ehrlichen, frommen Augen das glauben sollen?«
Während dieses kurzen Selbstgesprächs zeigten sich die Beine schon wieder auf den Eisenstäben des Gitters. Die Gestalt stieg nieder und verschwand. Doch gleich nach dem erhob sich ein neues Geräusch. Eine Männerstimme rief: »Stehe, Bösewicht!« Meister Wirri horchte mit gespannter Aufmerksamkeit; er vernahm deutlich das Geklirr aneinander fahrender Degenklingen, dazwischen eine Stimme: »Packan, faß, faß!« rufend, worauf Totenstille folgte. Später vernahm er ein dumpfes, gebrochenes Winseln, welches in einem matten Stöhnen erlosch. Nach diesem blieb alles ruhig.
Den Meistersänger überfiel Todesschrecken. Diejenigen, welche draußen handgemein geworden waren, konnten keine Chiltbuben oder Bauernburschen gewesen sein, das verrieten ihre Waffen. Es war bei Addrichs Hause offenbar ein Mord vollbracht worden und von jetzt an kam kein Schlaf mehr in Wirri's Augen. Die Nacht zog sich für ihn in eine unendliche Länge. Seliges Gefühl durchströmte ihn, als endlich die Dämmerung durch's Fenster hereintrat und es im Hause nach und nach lebendig wurde. Nun erst, als wäre er jetzt sicherer, schloß er die Augenlider, um zu versuchen, ob er noch etwas schlafen könne, denn er hatte die ganze schreckliche Nacht den Schlaf entbehrt, aber bald störten ihn wieder Stimmen mehrerer Männer. Aufgeregt und neugierig sprang er vom hohen Bett zum Fenster hinunter. Auf einem freien, schmalen Platze zwischen Haus und Wald zeigten sich drei Männer in lebhaftem Gespräch begriffen, doch redeten sie geheimnisvoll und nur halblaut. Ein vierter war damit beschäftigt, einen Besen auf dem Grase hin- und herzuschwingen, wo man Blut am Boden sah. Zwischen den Bäumen des nahen Waldes erschien noch ein fünfter mit einer Schaufel damit beschäftigt, Erde in eine Gruft zu werfen. Wirri gedachte der Ereignisse, deren Ohrenzeuge er gewesen, und das Bild von draußen erklärte sich ihm von selbst.
Wiewohl die eingetretene Morgendämmerung nicht ganz deutlich zu sehen gestattete, erkannte Meister Wirri unter den drei Redenden doch ohne Mühe die riesige Gestalt Addrichs. Der andere war der zum Bauer verwandelte Schwede, genannt Hauptmann Gideon. Er trug die rechte Hand verbunden in einem Tuche, das für den Beobachter am Fenster unter den gegenwärtigen Umständen von Bedeutung werden mußte. Der dritte, ein untersetzter, vierschrötiger, bäuerisch gekleideter Mann, obgleich dem Fenster zunächst, ließ sich am schwersten erkennen, weil er dem Fenster den breiten Rücken zuwandte. Dieser dritte aber erregte Wirri's Neugier am meisten, weil Addrich und selbst der stolze Schwede demselben mit einer gewissen Auszeichnung zu begegnen schienen. Doch weder aus dem runden Filzhute, von dem ein kurzer Federbusch herniederhing, noch aus dem braunen, halbtuchenen, weiten Wamms ohne Ärmel, das bis zur Hüfte reichte, und ein kurzes grauwollenes Ärmel- oder Unterwamms bedeckte, noch aus den weiten, faltenreichen Hosen, die sich beim Knie zuspitzten und dann über den lederfarbenen Wollenstrumpf bis zur Mitte der kurzen, dicken Wade reichten, ließ sich etwas Bestimmtes erraten Erst als Addrich mit der Hand eine zum Fortgehen einladende Bewegung machte und der Fremde sich umwandte, konnte ihn Wirri besser beobachten. Er glaubte dies kräftige, ernsthafte Gesicht mit dem kurzen Spitzbart am Kinn, mit dem steif nach beiden Seiten zugespitzten, katzenartigen Knebelbart über den zusammengebissenen Lippen, die breite, hohe Stirn, die bei den Augenbrauen wulstig über die Nasenwurzel niederhing, schon irgendwo gesehen zu haben. Als der Hinweggehende einen trotzig drohenden Blick gegen das Fenster zu werfen schien, da erkannte Wirri den Mann und prallte einen Schritt zurück. Es war kein anderer als der Feldhauptmann der luzernischen Aufrührer, Christen Schybi von Eschlismatt, den er in Wollhausen gesehen hatte.
»Nun weiß ich, was die Glocke geschlagen hat,« brummte der erschrockene Spielmann. »Daß sich Gott erbarme! Wohin der kommt, giebt's ein Unglück! Wenn Junker Mey von Rued es wüßte! Hier wäre ein Vogel auf dem Neste gefangen, woran sich die ganze Eidgenossenschaft erfreuen könnte. Mir gilt's gleich, ich will keinen Spieß für den Krieg kaufen, und gern nichts gesehen haben, wenn sie mich nur lebendig aus ihren Teufelskrallen lassen.«
Nach einer guten Viertelstunde klapperte das Schloß, pfiff der Riegel, ging die Thür auf und Addrich trat herein. Hinter demselben standen zwei Bauern, eisenbeschlagene Dornstöcke in den Händen.
»Hast Du gut geschlafen, Meister?« fragte Addrich, und ein zweideutiges, schadenfrohes Lächeln zog über die harten Gesichtszüge hin.
»Ich kann es nicht rühmen, Addrich,« antwortete Wirri, »denn nun kenne ich Dich. Was habe ich Dir je Leides gethan, daß Du mich gestern getäuscht und diese Nacht gefangen gehalten hast?«
»Narr!« antwortete der Alte. »Es ist Dir doch nicht übel ergangen. Trage künftig keine Uriasbriefe und stecke die Nase nicht in fremden Handel. Ich würde Dich laufen lassen, wenn Dein Maul hier im Moos bleiben würde.«
»Laß mich in Frieden ziehen, Addrich. Mein eigenes Hemd soll es nicht erfahren, daß ich bei Dir gewesen bin. Durch Schaden wird man klug.«
»Wenn Du drei Tage geschwiegen hast, Meister, will ich Dir am vierten glauben und den Weiher über die Eier setzen. Mache Dich jetzt auf, Du hast so weit nicht zur Morgensuppe, meine Leute hier begleiten Dich.«
»Wohin?«
»Über die Bampf hinab, längs den Seen, gen Hochdorf,« antwortete Addrich, indem er den Spielmann aus dem Gemach und durch mehrere Zimmer wieder zur Hausthür führte. »Im Aargau bist Du keine Stunde sicher. Wer Dich findet und kennt, schlägt Dich wie einen Kain tot. Alles ist wider Bern im Aufstande, der um sich greift wie ein Waldfeuer und wie ein angeschwollener Strom über die alten Ufer bricht. Behüte Dich Gott! Über den bereiften Boden ist frisch wandern. Denke nicht an's Entweichen, oder Schreien: Du rufst Dir auf der Stelle zwei Messer zwischen die Rippen. Fort, Ihr Leute!«
Mit diesen Worten schob der Alte den Spielmann aus dem Hause; die Bauern nahmen denselben rechts und links in ihre Mitte und nötigten ihn, das kleine Wiesenthal aufwärts gegen den Bergrücken zu steigen. Addrich sah ihnen nach, bis die Wanderer auf der Höhe seinem Blicke verschwanden. Dann kehrte er ins Haus zurück, blieb eine Zeit lang unschlüssig an der hölzernen Treppe stehen, stieg dann hinauf, und öffnete oben leise die Thür eines Zimmers.