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Addrich beschloß mit rastloser Thätigkeit sein Tagewerk erst nach Mitternacht. Schon vor Sonnenaufgang weckte ihn die Ungeduld und das Getöse der im Städtchen umherwogenden Volksmenge. Fabian neben ihm erhob sich schwer vom Lager und verwunderte sich über die seltsame Heiterkeit des Alten und das Fröhliche, Leichte in dessen Bewegungen.
»Du sollst mich noch andere sehen,« erwiderte Addrich. »Ich bin wie die Seemöve, welche verbannt zwischen den Klippen des Meerufers hausen muß; ihr Element ist der Sturm. Laß mich im Aufruhr der Dinge meine Flügel ungestört zwischen Wolken und Wogen schlagen.«
»Nur allzu gut gesagt,« entgegnete Fabian. »Vergiß nicht, daß die beweglichen Wogen das Volk sind, heute wütend, morgen lachend, und daß die Obrigkeit wie die Wolke Blitze trägt.«
»Und wenn das!« sagte der Alte, indem er das nach der Straße gelegene Fenster öffnete und mit Lust in das Getümmel der Leute hinab sah. »Was steht zu fürchten? Der Mensch kennt das Ziel seiner Tage nicht, aber das Ziel seines Willens. Ich möchte die Ketten brechen; ich möchte den Unsinn entthronen: ich möchte das Recht und die gesunde Vernunft in die zum Tier gewordenen Ebenbilder Gottes hineinbringen. Ist das nicht etwas, des Sterbens wert?«
»Brechen wir ab davon!« sagte der Jüngling. »Wir werden uns nie verstehen. Auch bin ich ohne Willen hier, weil ich dem Laban um Rahel diene. Für mich bleibt alles ein bloßes Schaugericht.«
»Und Du wirfst mir damit kein Katzenhaar in die Suppe,« entgegnete ihm Addrich. »Möge mir die Karte zuletzt einschlagen oder nicht, Bursche, das Spielen selbst macht die wahre Lust. Wenn ich mir die Seligkeit des Schöpfers denke, so sehe ich sie blos in der allwirkenden Gewalt, die eine neue Welt erbaut. Ich will eine Welt bauen; darum muß die Zerstörung des alten Wracks vorangehen. Mich belästigt die ungeheure Klugheit des Leuenbergers und seiner vielweisen Ratgeber, welche an den Schleusen des breiten Stroms vorsichtig rütteln, um ihre kleinen, dürren Matten ein wenig zu bewässern. Durchs Maulwurfsloch jedoch bricht die Überschwemmung herein; jetzt ist das Dämmen zu spät . . . Komm, Fabian, erst zum Imbiß, dann zum Acker! Heute soll die Saat eingeeggt werden. Verliere mich nicht aus den Augen, denn mir stehen viele Geschäfte bevor; ich kann mich nicht um Dich bekümmern.«
Sie gingen, und nach flüchtig genommenem Frühstück eilten beide hinaus und verloren sich im Gewühle.
Es war früh um fünf Uhr. Alles strömte, sobald die Sonne hinter den buschigen Höhen hervorblitzte, in die weite Almend. Eine unzählige Volksmenge war aus den Thälern der benachbarten Kantone gekommen, um Zeuge des Schauspiels zu werden. Sie lagerte im weiten Halbkreise am Hügelrain. Etwas tiefer im Wiesengrunde sammelten sich die Volksausschüsse der Landschaften, die längs der Aar von deren Ursprung bis zur Ausmündung in den Rhein, längs den Ufern der Emme und Reuß gelegen sind, oder die in den Hochgebirgen des bernischen Oberlandes in der Nähe der Eisberge wohnen. Es waren dieser Abgeordneten zur großen Landsgemeinde nicht weniger als dreitausend Männer, abweichend in Mundart, Sprache, Sitte, Landestracht und religiösem Glauben; aber insgesamt von starkem, kräftigem Schlage und trotzigem Aussehen. Der Anblick dieser zahlreichen Haufen erregte in der Brust jedes Einzelnen Mut und Stolz. Sie grüßten sich ohne einander zu kennen mit Ruf und Handschlag brüderlich, fragten um die Lage ihrer gegenseitigen Heimat und deren besondere Beschwerden und Lasten. Verschiedenartiger Druck ihrer Vögte und Regierungen, und eine gleiche Begierde nach Freiheit durch gemeinsamen Beistand hatte alle zusammengeführt.
Man sah vom Städtchen her einen neuen Zug langsam gegen die Almend vorrücken. Es war Niklaus Leuenberg, welchen man seit dem Tage von Sumiswald den »Bundesobmann«, sowie die Ausschüsse der Landschaften »Bundesgenossen« nannte. Er erschien in einem roten Kleide, stattlich und mit höherer Sorgfalt angekleidet. Vor ihm her schritten sechs Trabanten mit Hellebarden; ihm nach zog ein Gefolge ausgewählter Sprecher der Kantone.
Leuenberg bestieg eine Erhöhung von Erde, die oben abgeplattet und für ihn und sein Gefolge mit Stühlen und mit einem schwarz behangenen Tische besetzt war. Er selbst nahm den obersten Platz ein; ihm zur Rechten und Linken saßen vier Schreiber. Die Hellebardenträger umringten seinen Stuhl.
Nachdem es still geworden, erhob sich der Obmann von seinem breiten, altertümlichen Lehnsessel, begrüßte in feierlicher Anrede die Versammlung der »edeln, mannhaften, treuen, lieben Bundesgenossen«, und schilderte die Wichtigkeit dieses Tages, der für des gesamten Vaterlandes »Freiheit, Ehre und Wohlfahrt« den spätesten Enkeln heilig bleiben würde. Dann sprach er, mit Anführung vieler biblischer Stellen, vom Widerstand und Hochmut der Städte und von der Arglist ihrer Versprechungen, womit er den Übergang zu den Geschäften des Tages machte. Diese begann er damit, daß er durch seinen Schreiber Brömer eine beträchtliche Anzahl aufgefangener Briefe laut und öffentlich vorlesen ließ. Man entnahm daraus einerseits die furchtsame Verlegenheit der regierenden Städte, andererseits ihre unwiderstehliche Lust, eine schwere Rache an den rebellischen Bauern zu üben. Hier wurde den Landvögten, besonders in gemeinen Herrschaften und freien Ämtern, befohlen, glimpflich und freundlich mit den Landleuten zu verfahren; dort, sich aller Verdächtigen auf jede Weise, durch List und Gewalt, mit Recht und Unrecht, zur Überlieferung in die obrigkeitlichen Hände zu bemächtigen. Hier wurde von kriegerischen Rüstungen zur Unterjochung des Volkes, dort von Mitteln zur Versöhnung desselben gesprochen. Man erfuhr sogar etwas Näheres von den Entwürfen der Tagsatzung in Baden, den großen Aufstand durch die Gewalt der Waffen aller Eidgenossen zu dämpfen, und von allen Richtungen zugleich in die empörten Gegenden einzudringen. General Zweyer von Uri sollte mit Urnern, Unterwaldnern und den Kriegsvölkern des Abts von St. Gallen die Stadt Luzern, die Bergpässe zwischen Entlebuch und Unterwalden, ferner mit Schwyzern und Zugern die Stadt Sursee und die Pässe des obern Frei-Amtes besetzen; General Wertmüller von Zürich das untere Frei-Amt mit Glarnern und Appenzellern decken, an der Spitze der Schlachthaufen von Zürich, Schaffhausen und St. Gallen aber in den untern Aargau eindringen; die Mühlhausener und Baseler sollten über den Jura hinziehen, während von Abend her General Erlach von Bern mit den Waadtländern, Wallisern, Freiburgern und Solothurnern gegen den obern Aargau vorrücken sollte.
In diesen vorgelesenen Briefen wurde schon, neben dem alten reichsstädtischen Stolz, die Unbehilflichkeit der schweizerischen Herren und Oberen, das Unzusammenhängende ihrer Maßregeln, die gegenseitige Scheelsucht und Gehässigkeit sichtbar, wie auch bei allen das Bestreben im Hintergrunde sichtbar wurde, sich selbst mit den eigenen Unterthanen, so gut es gehe, abzufinden und für andere Orte und Städte so wenig als möglich zu thun. Deshalb brachten auch die Briefe, als sie das Volk hörte, vollkommen die Wirkung bei demselben hervor, welche Leuenberg vermutlich beabsichtigt hatte. Man spottete, lachte und hielt das große Spiel durch die Zwietracht und Schwäche der Gegner schon für halb gewonnen. Um die Wirkung zu verstärken, erzählte Leuenberg mit lauter Stimme, wie die Tagherren zu Baden ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht hätten; wie das freie Volk in den Bergen Graubündens schon erklärt habe, man werde wohl zur Befreiung, nie aber zur Unterjochung des Landmanns die Hand bieten; wie die Stadt Basel in ihrem eigenen Gebiete nicht mehr Meisterin sei; wie dem Rat von Solothurn die Lust, Krieg zu führen, vergangen wäre, als er rings um die Stadt und in allen Ämtern die ihm drohenden Volkshaufen erblickt hätte; wie die Herren zu Freiburg zweitausend Mann aufgeboten und wieder entlassen hätten, vielleicht weil es ihnen recht wäre, den Stolz der Herren zu Bern ein wenig gedemütigt zu wissen; wie Schaffhausen und St. Gallen zwar alles versprächen, aber nicht geneigt wären, etwas mehr als eidgenössische Redensarten auf's Papier zu bringen.
Nach dieser Vorbereitung wurden die Satzungen des Sumiswaldener Landesbund's dem versammelten Volke vorgelesen. Es herrschte die tiefste Stille. Die Urkunde begann unter Anrufung der heiligen Dreieinigkeit, und gab dann zu erkennen: Es solle der alte Bund der ersten Eidgenossen verjüngt werden, zur Entfernung aller Ungerechtigkeit, also daß zwar den Herren und Obrigkeiten, aber auch den Bauern und Unterthanen verbleiben sollte, was jedem gebühre. Der Bundesleute Recht sei zu schirmen mit Leib, Hab, Gut und Blut, doch ohne Nachteil der Religion. Die Angehörigen jedes eidgenössischen Standes hätten für sich selbst mit ihren Obrigkeiten zu verhandeln; entstände aber Streit mit diesen, sollten die Untertanen sich nicht durch Eigenmacht ihr Recht verschaffen, sondern der Volksbund müsse entscheiden. Würden die Obrigkeiten hingegen fremdes oder einheimisches Kriegsvolk zur Unterdrückung des Bundes herbeiführen, so solle man einander mit aller Macht tröstlich gegen die Unterjocher beispringen; desgleichen auch, sobald nur ein einzelner Angehöriger des Bundes, und zwar des Bundes wegen, an Leib, Gut und Leben beschädigt werden würde. Kein Teil der Bundesgenossen könne sich, ohne Einstimmung aller, mit seiner Regierung aussöhnen und Frieden schließen. Würde aber ein Bundesgenoß vermessen genug sein, wider den Bundesschwur zu reden oder zu handeln, so solle man den Frevler als meineidigen, ehrlosen Verräter abstrafen. Alle zehn Jahre solle der Bund durch einen Schwur erneuert werden.
Darauf wurden in einem langen Verzeichnis diejenigen Ämter und Herrschaften der verschiedenen Kantone namhaft gemacht, welche dem festen Bunde schon beigetreten waren.
Während dessen lächelte Addrich, der hinter des Obmanns Stuhle stand, etwas tückisch vor sich hin. Er hatte, wie schon bei der Beratung im Moos, auch bei der Beratung in Sumiswald gegen die abenteuerliche Gestaltung des Bundes, welche vorzüglich aus Leuenbergs Gehirn hervorgegangen war, gearbeitet. Er hatte mit scharfem und richtigem Blicke die Unhaltbarkeit eines Vertrages durchschaut, der die Unterthanen zu Aufsehern und Richten ihrer Obrigkeit erheben wollte, beide Teile in ewigen Widerspruch und Krieg stürzte, und notwendig entweder mit der Unterwerfung des Volks und der Auflösung des Bundes oder mit dem Umsturz und der Verbannung der Regierungen enden mußte. Doch was er nicht hatte hindern können, ließ er, voll Spott über die Kurzsichtigkeit der Volksführer, geschehen, überzeugt, nichts werde bleiben von allem, was beschlossen sei, sondern früh oder spät auf dem Schlachtfelde mit dem Schwerte das Wahre zwischen Stadt und Land bestimmt werden. Erst dann werde der Sieger so weit schreiten, wie seine Gewalt es gestatte. Darauf gefaßt, war sein ganzes Trachten nur die allgemeine Bewaffnung und kriegerische Besetzung der vornehmsten Pässe gegen Bern und Zürich. Die große Feierlichkeit auf der Almend von Hutwyl blieb in seinen Augen ein, wenn auch nicht überflüssiges, doch lächerliches Kinderspiel.
Indessen war er bald selbst, wider seinen Willen, von der Größe des Schauspiels ergriffen, als der Obmann des festen Bundes das versammelte Volk zur Leistung des Schwures aufforderte, und als die Tausende unter freiem Himmel mit entblößten Häuptern zur Erde niederknieten und die Hände zum Eide emporstreckten. Der Geheimschreiber des Bundes las mit lauter Stimme die Formel: »Allen diesen Worten, wie die Schrift ausweiset, will ich nachgehen und dieselben vollbringen und halten in guten Treuen. Wenn ich das halte, daß mir Gott wolle gnädig sein an meinem End. Wenn ich aber das nicht halte, daß mir Gott nicht wolle gnädig sein. So wahr mir Gott helfe. Alle Gefährde vermieden! Gott gebe Gnade und behüte uns vor Falsch und Untreu!« Satzweise las der Schreiber die Worte vor und satzweise sauseten sie dumpf vom Munde der Landesgemeinde zurück, wie das Rollen fernen Donners. Die religiöse Handlung erschütterte die Gemüter. Leuenberg sah mit nassen Augen auf den Kreis der knieenden Menge nieder und sprach: »Im Grütli haben einst drei Männer geschworen; heute schwören dreitausend. Es gilt die Freiheit und Gerechtigkeit. Bundesgenossen, es gilt das Heil unserer Kinder. Blut und Leben soll geringe werden für das edle Kleinod, welches wir den Nachkommenden erwerben wollen!«
Er war zu bewegt, um mehr zu sagen oder, beim Zittern seiner Stimme, von vielen verstanden werden zu können. Dennoch jauchzte das Volk laut auf, welches, sobald er sein Haupt bedeckte, sich wieder von der Erde erhob.
Eine geraume Zeit mußte vergehen, bis die Wellen dieses aufgeregten Menschenmeeres ruhiger, das Tosen der Stimmen leiser wurde, bis die bald auseinander fließenden, bald sich zusammendrängenden Haufen zum Stillstand gelangten und die Tagesgeschäfte fortgesetzt werden konnten.
Dann wurde die Zuschrift des französischen Botschafters de la Barde vorgelesen, welcher zur Eintracht und Versöhnung mit den Regierungen ermahnte; an das Verderben erinnerte, welches durch innerliche Unruhen und Bürgerkriege über das königliche Frankreich gekommen sei; vor Österreich, dem Erbfeinde der Eidgenossenschaft, warnte, weil Erzherzog Leopold wirklich schon in der Nähe der Schweizergrenzen befindlich wäre, um die allgemeine Verwirrung durch seine Ausgesandten zu vermehren, und einen Vorwand zu bekommen, ein Kriegsheer in das Innere des Landes führen zu können. Dieses Schreiben endete mit dem dringenden Wunsch und Rat des allerchristlichsten Königs, man solle den Obrigkeiten zu billigem Vergleich die Hand bieten.
Den schriftlichen Ermahnungen fügte der Schreiber der französischen Gesandtschaft noch einiges mündlich hinzu. Obgleich er seinen Vortrag, um ihm mehr Wirksamkeit zu verschaffen, im Geschmack damaliger Zeit mit den besten Blumen geistlicher Beredsamkeit verzierte, verfehlte er nichts desto weniger das Ziel. Nachdem über den Antrag der französischen Gesandtschaft einzelne Volksredner ihre Stimme erhoben und immer auf den eben beschworenen Bund hingewiesen hatten, erklärte die Landgemeinde durch Handmehr ihren Willen. Der Obmann des Bundes sprach denselben ungefähr in folgenden Worten gegen den Boten des königlichen Ministers aus: »Wir sind keine Rebellen, denn wir wollen unsern Herren und Obern unterthänig bleiben und denselben gehorchen, wie unsere Vorfahren es gethan haben. Doch widerstreben wir billig ungerechter Eigenmacht und Willkür, und verlangen, daß man uns bei alten Freiheiten und Herkommen lasse, gleichwie wir Freiheiten, Rechte und Herkommen der Städte ehren. Nichts anderes will der von uns vor Gott geschworene Bundeseid, den Ihr vernommen habet. Wir mußten zusammentreten, weil wir keine Bürgschaft für unser Recht gegen die Städte finden, als in unserer Eintracht. Doch zweifeln wir keineswegs, daß zwischen uns und den Obrigkeiten ein billiger Vergleich zu Stande kommen werde. Also bitten wir den französischen Herrn Gesandten, er wolle durch Schrift und Mund mithelfen, und die Völkerschaften des Schweizerlandes und deren Schritte bei der königlichen Majestät zu Frankreich und bei den Herren seines Hofes rechtfertigen, sintemal uns nicht unbewußt ist, daß man unser Beginnen in aller Welt fälschlich verschreit und mit Unwahrheit verlästert.«
Diese Antwort, welche in solchen Verhältnissen selbst gewandten Staatsmännern zur Ehre gereicht haben würde, empfing der Bote des Gesandten auch schriftlich zur Erwiderung von de la Barde's Sendschreiben. Dann wurde das Patent der eidgenössischen Tagherren zu Baden vorgetragen, welches der Untervogt von Baden überbracht hatte. Die Antwort darauf war eine Abschrift des beschworenen Bundesbriefes, mit den lakonischen Worten: »Dabei wollen wir bleiben.« Auch ließ man noch für das Volk der Kantone Bern, Luzern, Solothurn und Basel den Bundesbrief in vier gleichlautenden Urkunden ausfertigen und mit dem Landessiegel vom Entlebuch bekräftigen.
So endete die Versammlung, nachdem sie von morgens fünf Uhr bis abends fünf Uhr gedauert hatte.
»Nun haben wir ihnen den Knoten stark genug geknüpft,« sagte Addrich triumphierend zu Fabian, als er mit diesem, den er den ganzen Tag nicht gesehen, des Nachts in der engen Schlafkammer zusammentraf.
»Ich sah das Gegenteil,« erwiderte Fabian. »Ihr habt den morschen Knoten zerrissen; alles fällt auseinander und Ihr insgesamt werdet's nicht wieder binden können.«
»Nicht wahr, Fabian,« sagte Addrich lächelnd, »Du denkst an Deine Haut, und weit davon, ist gut für den Schuß? Fürchte nichts, das Spiel ist unverlierbar, weit wir nicht rückwärts können. Jeder weiß, es geht an Kopf und Kragen; also muß es durchgehauen sein. Der Stärkste aber wird Meister; und der Stärkste ist der Verzweiflungsvolle, dem gesagt wird: Vogel friß oder stirb. Ich gebe für des Leuenbergs Verstand keinen Angster; er weiß zur Stunde nicht, wohin er rennt Aber man muß ihn vorwärts schieben, wohin er soll. Ihm bleibt keine Wahl. Das soll meine Sache sein. Morgen ziehen wir ins Berner Oberland. Bern muß fallen, so oder so!«
»Davon ist aber in Euren Bundesartikeln keine Rede,« entgegnete Fabian. »Ihr wollet die Obrigkeit ehren und ihr gehorchen.«
»Allerdings,« versetzte Addrich, »wenn sie den Hutwyler Landesbund anerkennt. Du Narr, sie wird sich aber lieber beschneiden lassen und türkisch werden, als unsern Glauben annehmen. Folglich . . . das Übrige zähle Dir an den Fingern ab! Wir eilen morgen Beide ins Oberland. Das Volk ist in diesem Augenblick zu allem aufgelegt. Man muß das Eisen schmieden, so lange es warm ist. Die Städte sind unter sich uneinig. Ehe sie einander verstehen, haben wir sie im Sack. Wenn sich die Hirten zanken, hat der Wolf leichten Einkauf bei der Herde.«
Wirklich reiste Addrich, von Fabian begleitet, des folgenden Morgens ins Oberland. Er war unermüdlich. Wo Beratung gehalten, wo die Treue einer Gegend verdächtig wurde, wo man von einem Auflauf hörte . . . überall sah man ihn. Mit unglaublicher Gewandtheit schmiegte er sich den entgegengesetzten Denkungsarten und den einander widersprechenden Entwürfen an, um sie in sich selbst zu zerstören, wenn sie ihm mißfielen, oder um sie seinem Hauptplan dienstbar zu machen. Er wollte die Einmütigkeit aller, zur Freiheit aller; daher die gänzliche Vernichtung aller städtischen Vorrechte; Vereitelung jedes Antrages der Regierungen zu freundlicher Ausgleichung, Er fürchtete die rasch zu täuschende Leichtgläubigkeit der Bauern, ihre durch lange Gewohnheit erblich gewordene Ehrfurcht vor den Städten: und daneben auch die tiefeingewurzelte Neigung des Schweizervolkes, sobald es unabhängig handeln konnte, sich nicht nur von Kanton zu Kanton, sondern von Landschaft zu Landschaft, von Thal zu Thal, von Dorf zu Dorf gegen einander, als besondere unabhängige Republiken, mit eigenen Verfassungen, Gesetzen und Vorstehern zu vereinzeln, ja selbst jedem Dorfe nur das Ansehen eines kleinen Bundesstaates von Haushaltungen zu geben.
Wie bewundernswürdig aber auch die Geschäftigkeit des Alten aus dem Dürrenäscher Moose war, so hörte man doch nie, daß er einer der Hauptmänner des Aufstandes sei. Nirgends erschien er selbst an der Spitze. Er glich vielmehr bloß einem der vielen ganz untergeordneten Umherläufer, Schreier und Zwischenträger. Was er im Grunde für das gewagte Unternehmen leistete, wurde erst dem deutlich, der, wie z. B. Fabian, wissen konnte, wie er an hundert verschiedenen Orten, überall gleichförmig und seinem Zweck entsprechend, wirkte. Auf jedem einzelnen Punkt erschien sein Thun ganz unerheblich.
Der Tag bei Hutwyl war entscheidend gewesen. Diejenigen, welche an demselben ihre Teilnahme am Bunde beschworen hatten, trugen die Flammen ihrer Begeisterung den entferntsten Thälern zu und verbreiteten die Neigung zum Aufstande. Wehe dem, der ohne Teilnahme bleiben wollte! Er wurde als Vaterlandsverräter von der Partei der Harten bis aufs Leben verfolgt. Der zerrissene Zaum des Gehorsams und der herkömmlichen Sitte ließ jeder Leidenschaft freies Feld. Manche Hütte ging in Rauch auf; mancher Unglückliche fiel verstümmelt durch die Wut des Pöbels. Wie immer bei solcher Entfesselung von allem Gesetz, trieb auch hier bald nur der rohe Eigennutz, der kalte Ehrgeiz, der tückische Parteihaß sein trauriges Spiel durch eine Schreckensherrschaft. Die Hefen schwammen oben: verlumptes Bettelvolk verlangte die Plünderung der Reichen, bestraftes Gesindel suchte Rache an seinen ehemaligen Vorgesetzten zu nehmen.
Die Bauern besetzten alle Pässe mit starken Wachen; hielten die gewöhnlichen Briefposten an, erbrachen die Briefe, besonders die der Obrigkeiten, verschonten selbst die der französischen Gesandtschaft nicht; sie schleppten Reisende in Verhaft und entließen sie selten ganz ungerupft.
Es war in den ersten Wochen des Mai. Aller Orten wurden jegliche Art Waffen gesammelt, neue geschmiedet, obrigkeitliche Gebäude, die nicht ganz fest waren, erbrochen und ausgeleert. Man scharte sich tausendweise zusammen und lebte auf Unkosten der Gegenden, die man durchzog.
Die Landleute von Basel versammelten sich mit Ober- und Untergewehr bei Liestal und bedrohten ihre Hauptstadt. Christen Schybi mit den Entlebuchern und dem Volke der übrigen Ämter rückte gegen die Stadt Luzern, schnitt ihr von der Landseite her die Zufuhr ab und drohte mit ihrer Einäscherung Die Landesfahnen von Schwyz, Uri, Unterwalden und Zug rückten noch zeitig genug zum Schutze der Stadt heran; doch die Schwyzer, Zuger und Unterwaldner hatten es kein Hehl: sie wollten die Stadt wohl schirmen, jedoch nicht zur Unterdrückung des Landmanns kämpfen. Oberst Zweyer trieb zwar durch einen mutigen Ausfall, den er mit zweihundert Urnern machte, die Empörten zurück und entriß ihnen den Paß an der Emme. Er verlor dabei einige Gefangene und Tote; wie auch den Aufständischen acht Mann erschossen wurden. Die Zwietracht jedoch innerhalb der Mauern der Stadt Luzern selbst lähmte eine Zeit lang ihre Unternehmungen. Die Bürgerschaft haderte mit dem Patriziat um die ihr durch List und Stärke nach und nach entwundenen Vorrechte bei der Wahl der Obrigkeit, bei Besetzung des großen Rates, der Ämter und Vogteien. Sie benutzte jetzt den günstigen Augenblick, das Verlorne zurückzuerzwingen. Kraftloser noch als Luzern, zitterte die Stadt Solothurn bei ihren verschlossenen Thoren. Ihr gesamtes Volk stand in Waffen, und war, weil es von der Stadt selbst nichts zu fürchten hatte, in ungebundenen Schwärmen teils den Stadtmauern nahe geblieben, teils in starken Banden zu den Bundesgenossen anderer Gegenden gezogen.
Gleiche Gährungen und Verwirrungen herrschten im Aargau. Hier hatten sich die Empörten der Fähre von Windisch, über die Reuß, bemächtigt; vierhundert Mann der Ihrigen standen als Vorposten gegen Brugg, in Königsfelden. Die Bauern aus den Freiämtern hielten die Stadt Mellingen besetzt, während die Reußbrücken von Sins, Gisikon und Bremgarten durch die Zuger bewacht wurden. Die übrigen Städte des Aargau's behaupteten indessen in diesem allgemeinen Sturm noch ihre Selbständigkeit. Aarburg und Lenzburg, am Fuße ihrer hohen Felsenschlösser, waren durch diese gegen die umherstreifenden Banden gesichert; Baden schlug es Freunden und Feinden ab, eine Besatzung einzunehmen; Brugg, innerhalb dessen Ringmauer Berns flüchtige Amtleute Schutz fanden, rüstete zu starkem Widerstande; dasselbe that Zofingen, von dessen Bürgerschaft Niklaus Leuenberg vergebens schweres Geschütz begehrt hatte. Am heftigsten wurde Aarau bedrängt und von unzähligem Volk viele Tage berannt, um den Durchmarsch zu erzwingen; der Mühlenbach, welcher den städtischen Gemeinden mannichfach diente, wurde abgeleitet und alles, was draußen lag, verödet. Als aber, nach vielen gütlichen Versuchen der Aarauer, selbst die Beredsamkeit des greisen Dekans Nüsperli, der an der Spitze einiger Ratsmitglieder in das Lager der Landstürmer hinausgesandt worden und die Gefahr, mißhandelt zu werden und selbst das Leben zu verlieren, bestanden hatte, vergeblich geblieben war, schwor die bewaffnete Bürgerschaft der Stadt, ihre morschen Ringmauern mit ihren Leibern zu decken und bis auf den letzten Mann Gegenwehr zu leisten. Zum Glück wurde das Blutvergießen durch die nach einigen Tagen eintreffende Botschaft verhindert, daß Bern (am 17. Mai) auf dem Murifelde mit dem Obmann des Bundes endlich einen Vergleich getroffen und Frieden geschlossen habe.
Der Rat zu Bern hatte auch nach dem Landtage zu Hutwyl die Unterhaltungen mit Leuenberg fortgesetzt, der zuletzt an der Spitze von 6000 Oberländern und einigem schweren Geschütz gegen die Hauptstadt vorgerückt war. Er lagerte nur noch einige Stunden von ihr entfernt, bei Ostermundingen, während das wenige Kriegsvolk der Stadt bei der Schloßhalde in guten Verschanzungen stand. Bern wollte Zeit gewinnen, die ihm zugesagten Hilfsvölker aus Welschland, Freiburg und dem Fürstentum Neuenburg an sich zu ziehen. Um diesen Preis sah es der Verwüstung der, der Stadt gehörigen Güter, der Plünderung der ringsumher gelegenen Landhäuser gelassen zu. Endlich bemerkte der Obmann des Bundes, daß er von den Bernern mit Absicht hingehalten und überlistet worden sei. Boten brachten die Nachricht, es rücke ein beträchtlicher Heerhaufen von Muten gegen den Paß von Gumminen und den Saanefluß hin der Stadt zu Hilfe und neuenburgische Schlachthaufen zögen gegen Aarberg. Nun beschleunigte Leuenberg, mit der Drohung plötzlichen Angriffs, den Ausgang der Unterhandlungen. Er wollte sich mit allem begnügen, wenn nur die Hauptsätze des zu Hutwyl geschwornen Bundes unangefochten blieben, und die Stadt an sein Volk 50 000 Pfund Goldes, als Entschädigung für die Kriegskosten, zahlen würde.
Bern, nicht ohne Furcht, gegen die Übermacht und Verzweiflung empörter Unterthanen einen ungleichen Kampf bestehen zu müssen, und, weil alle Boten durch Wachsamkeit der Bauern aufgefangen wurden, ohne Kunde von den Hilfsvölkern, die es erwartete, entschloß sich, einen Vertrag zu unterzeichnen, der bei günstiger Wendung der Umstände vielleicht doch ohne Erfüllung bleiben konnte. Es war allein darauf bedacht, in dieser Lage zu retten, was für den Augenblick zu retten war . . . seine hoheitliche Ehre. Es bewilligte also die geforderten 50 000 Pfund, nicht aber für Kriegskosten, oder als Ersatz für den herabgesetzten Wert der Münze, sondern »aus väterlicher Huld wegen der Klagen des Volks über Armut«. Die Summe sollte auch erst nach dem gänzlichen Rückzuge der Landleute in ihre Heimat, nach Auslieferung des Bundesbriefes und nach geschehener neuen Huldigung, welche die Unterthanen zu leisten hätten, entrichtet werden.
Leuenberg willigte plötzlich in alles, ohne es damit ernstlich zu meinen, und nur um von dieser Seite frei und sicher zu werden, denn er hatte die Nachricht bekommen, Secklermeister Konrad Wertmüller von Zürich rücke mit mehr denn 6000 Mann zu Fuß und Pferde und zahlreichem Geschütze gegen den Heitersberg und die Reuß heran; von der andern Seite, von Luzern her, komme der Urner Feldherr Zweyer mit 5000 Mann gegen das Amt Lenzburg gezogen. Wertmüller hatte außer den Zürichern auch Schaffhausener, Thurgauer und Appenzeller unter seinen Fahnen. Die Tage der Entscheidung traten herein. Leuenberg, sobald er Bern zufrieden gestellt zu haben glaubte, ließ den Ruf zum allgemeinen kriegerischen Aufbruch durch alle Thäler und Gebirge ergehen und alles die Richtung nach dem Aargau und gegen die Reuß nehmen. Er selbst eilte mit schlagendem Herzen dahin, sich Glück wünschend, einstweilen in seinem Rücken wenigstens Bern unschädlich gemacht zu haben.
Dem Obmann war bei allen den bösen Nachrichten, welche ihm unterwegs über die Rüstungen der Eidgenossen zugetragen wurden, Stolz und Mut bedeutend gesunken. Wenn seine Eitelkeit ihm auch nicht erlaubte, öffentlich seine Verlegenheit zu zeigen, so konnte er doch selbst nicht leugnen, daß er dem ins Ungeheure hinausgewachsenen Unternehmen auf keine Art gewachsen sei. Die Menge der Fragen, welche er den Kommenden und Gehenden stündlich zu beantworten, die Menge der Befehle und Weisungen, welche er nach allen Seiten hin zu erteilen hatte, brachte ihn in solche Verwirrung, daß sein Geist im Chaos von tausend Dingen unterging und die Übersicht des Ganzen verlor. Ebenso deutlich verspürte er den Mangel des Feldherrntalentes in sich, wie Geistesgegenwart, treffenden Blick, Würdigung des Augenblickes und Festigkeit des Willens. Und doch trieb ihn die Macht der Verhältnisse, das blinde Vertrauen des Volks und der Ruf, der ihm voranging, die Rolle des Feldobersten unter seinen Bundesgenossen zu übernehmen.
Erst da, als er, in der Nähe des aargauischen Schlosses Wildegg vorübergekommen, mit seiner zahlreichen Begleitung in die Ebene eintrat, welche das Lager und der Sammelplatz des aufständischen Heeres war, richtete sich sein schwererschüttertes Selbstvertrauen wieder auf. Er erblickte hier schon an 10 000 Mann zusammengelagert, deren Zahl sich durch frisch anrückende Haufen beständig verstärkte. Alle erschienen dabei wohlbewaffnet, und nach ihren Waffenarten in Schlachthaufen geteilt; meistens unter dem Befehle von Hauptleuten, welche schon als gemeine Soldaten in ausländischen oder einheimischen Kriegen gedient hatten. Auch waren alle gewissermaßen gleichförmig gekleidet, um sich im Gefechte oder schon auf dem Marsche in der Ferne zu erkennen. Ihr Kriegsgewand bestand in einem roten wollenen Hemde, welches jeder über seine Kleider trug. Der rechte Flügel dieses Heeres lehnte sich an das Dorf Magenwyl und an die schroffen Felswände neben demselben; der linke an die waldige Halde des Berges, von welchem die Mauer und der Turm des alten halbverfallenen Schlosses Brunegg durch die benachbarten Landschaften weit umher schaute. Das Ganze unterschied sich in vier Abteilungen, mit ebensovielen fliegenden Fahnen nach den Kantonen Bern, Luzern, Basel und Solothurn, von wo die streitbaren Rotten stammten.
Alles das hatte Christen Schybi, der vielleicht unter allen Befehlenden der kriegserfahrenste Mann sein mochte, vorbereitet und geordnet. Er hatte für Vorwacht und Nachhut und für reichliche Zufuhr von Lebensmitteln gesorgt, welche die umliegenden Dorfschaften freiwillig, doch gewöhnlich auf Unkosten derer herbeischafften, die im Verdacht standen, Anhänger der Herren zu sein. Halbe Dörfer wurden unter diesem Vorwand ihrer Herden und aufgespeicherten Vorräte gewaltsam beraubt.
An demselben Tage, an welchem Leuenberg den Oberbefehl des Bundesheeres übernahm, waren auch Addrich und Fabian im Lager angekommen. Aus dem Haslilande, am Fuße der Schneeberge, hatte sich der Mooser über den Brünig in die wildschönen Thäler oberhalb des Kernwald begeben, hier die Stimmung der freien Unterwaldner behorcht und überall tröstliche Versicherungen von ihnen mitgenommen, dann durch den Kanton Luzern gegen die freien Ämter hinab zum Ufer der Reuß sich gewendet, und überall die waffenfähige Mannschaft zum Aufbruch bereit oder scharenweise schon auf den Landstraßen im Anzuge gefunden. Er sammelte, ordnete und begeisterte durch ein Wort die verworrenen, einzelnen Banden und führte sie, ihrer fast 2000 Mann, in einem langen Zuge durch die sumpfigen Gefilde von Othmarsingen dem allgemeinen Lagerplatze zu.
Hier begrüßte der wilde Freudenruf der schon gelagerten Tausende die frischen Ankömmlinge. Leuenberg, Schybi, Zeltner und die übrigen Befehlshaber, welche den heranziehenden Haufen entgegengeritten waren, um sie zu mustern und in das Gesamtheer einzureihen, erkannten nicht so bald den Addrich an der Spitze dieser Scharen, als sie ihm entgegensprengten und ihm ein fröhliches Willkommen zujauchzten.
»Zum Teufel, von welchen Thälern und Bergen hast Du das Volk noch zusammengewischt, Du alter Kriegsbesen?« rief Christian Schybi und schüttelte des Moosers Hand. »Das ist eine wackere Nachhut!«
»Nachhut?« erwiderte Addrich lachend. »Ich meine, es sei die Vorhut einer neuen Armee, die sich mit uns vereinigen wird, sobald Ihr sie ruft. Die Völker von Obwalden und Nidwalden, sage ich Euch, von Zug, Uri und Schwyz und den Bündnerbergen sind sämtlich schlagfertig. Sie erwarten nur das Zeichen zum Aufbruch.«
»He, wann, wie, wo sollen wir's geben?« schrie Leuenberg entzückt. »Morgen, heute, diesen Augenblick!«
»Auf dem Schlachtfelde, auf dem Siegesfelde müßt Ihr's geben, wenn sie es hören sollen,« antwortete Addrich, »Kein Blitz leuchtet schneller und weiter, als nach gewonnener Schlacht der Kanonenblitz des Siegers im Nacken des flüchtigen Feindes. Ich sage Euch, führen wir den ersten großen Schwertstreich glücklich, dann ist alles entschieden; so stürzen die Ratsherrenstühle um; so erhebt sich alles Volk des Schweizerlandes in Berg und Thal für unsere Freiheitssache. Also nicht gezaudert, auch nichts übereilt. Wo steht der Feind?«
»Auf der Schlierer Almend, an der Züricher Grenze, wie wir von den Kundschaftern genau wissen,« sagte Adam Zeltner. »Dem General Wertmüller ist nicht gar wohl zu Mute; er traut seinen Leuten nicht, die ihre Spieße lieber gegen die Stadt kehren mögen, zumal den Leuten vom See. Er will sich daher noch mit zwei Appenzeller Fähnchen von Außer-Rhoden, die unterwegs sind, verstärken.«
»Vorwärts!« rief Addrich. »Ihm entgegen! Warum lagern wir wie Tagdiebe hinter der Reuß? Warum nicht zur Limmat und hinüber vor Zürich?«
»Addrich, lasse die Hand von meinem Plane,« versetzte Schybi. »Ich habe mehr Pulver gerochen als Du. Hier haben wir eine feste Stellung, die Reuß vor uns, Mellingen und Bremgarten besetzt. Erst muß uns Wertmüller den Übergang über die Reuß teuer bezahlen, dann stehen wir vor ihm auf den Höhen, und er steht drunten, mit dem Strome im Rücken. Gehts nach Wunsch, so sprengen wir sie alle ins Wasser und lehren sie schwimmen. Es muß eine Hauptniederlage werden, und wer nicht ins Gras beißt, muß sich zu Tode saufen.«
»Ihr Herren, davon mehr heute Nacht im Hauptquartier!« sagte der Bundesobmann. »Die tapfere Mannschaft, welche uns der Mooser herbeigeführt hat, wird der Ruhe bedürfen. Herr Kommandant Schybi, weist ihr in der Lagerordnung den Platz an. Herr Untervogt, sorget, als Oberproviantmeister, für ihre Verpflegung, daß den braven Vaterlandsmännern nichts abgehe. Nach vollzogenem Geschäft verfüget Ihr Euch zu mir ins Hauptquartier. Ich gehe mit dem Mooser und seinem Adjutanten – er deutete dabei auf Fabian – voraus. Es ist noch vieles abzumachen.«
Ohne Widerrede gehorchten alle dem gebieterisch ausgesprochenen Befehle des Kriegsobersten. Der dichte Haufen der Bauern, welcher sich neugierig um die hier versammelten Anführer zusammengedrängt hatte, trennte sich, um den Weggehenden Platz zu machen. Addrich und Fabian empfingen ihre Herberge für diese Nacht in einem einzelnen großen Landhause, wo sich auch das Hauptlager des Obmanns und seiner Unter-Befehlshaber befand. Links und rechts war das Haus durch daneben gelagerte Truppen gedeckt, die ihre Gewehre und Spieße in Bündel zusammengestellt hatten und bei vielen einzelnen Feuern ihr Abendessen bereiteten. Vor dem Eingange des Gebäudes wanderten Schildwachen hin und her.
Fabian fand in dem wilden, kriegerischen Treiben die beste Zerstreuung seines Trübsinnes. Das ungewohnte Schauspiel einer begeisterten und für Freiheit bewaffneten Volksmenge hatte selbst für ihn etwas Erhebendes. Die allgemeine Entschlossenheit zu jedem Opfer, die Ausdauer und Freudigkeit jedes einzelnen in Mühseligkeiten und Entbehrungen, der blinde Gehorsam, mit welchem Leuenbergs Befehle vollstreckt wurden, konnten allerdings einen glücklichen Ausgang des großen Unternehmens weissagen. Fabian bezweifelte denselben um so weniger, da bis spät in die Nacht Boten über Boten die Nachricht von den neu anrückenden Hilfsvölkern des Bundes brachten, währenddessen Wertmüller auf der Almend von Schlieren kaum 7000 Mann, die er gegen Leuenberg ins Feld führen wollte, zusammen hatte. Dennoch blieb Fabian seinen Grundsätzen getreu, sich nicht in das Geschäft zu mischen, sondern als Addrichs Wächter die Rolle des Zuschauers zu spielen. Auch Addrich hielt Wort, und mutete dem Jüngling nichts zu als, wenn es Not thun würde, die Ausübung seiner wohlthätigen Kunst als Wundarzt.
Folgenden Morgens war es wiederum Addrich, welcher, wie gewöhnlich, zuerst vom Bette sprang, und den schlummernden Jüngling aus seinem Traume von Epiphania weckte.
»Auf, auf!« rief er. »Der Mann des Krieges soll wachen und garnicht, oder nur mit halbgeschlossenen Augen, schlafen. Es ist noch viel an Schiff und Geschirr zu flicken, ehe wir hinaus zum Ernten kommen können. Komm', Bursche, laß uns das Feldlager durchgehen, und nachsehen, wie es um uns stände, wenn der Feind schon binnen vierundzwanzig Stunden seinen Besuch abstatten würde. Zwar ist der Kommandant Christen Schybi ein ganzer Mann, allezeit auf den Beinen und mit dem Maul voran; doch enthält er mehr Kupfer als Silber; lebt und treibts, wie der Schuldenbote; kann laufen und nicht müde werden, saufen und nicht voll werden, lügen und nicht rot werden.«
»Hättest Du mich lieber noch schlafen lassen,« sagte Fabian, indem er sich ankleidete, etwas mürrisch. »Es ist unrecht von Dir daß Du mir nimmst, was Du mir nie geben kannst.«
»Hm, Kamerad,« brummte Addrich, »bist Du so ernstlich Deines jungen Lebens satt? Geduld, Dein Weib im Moose soll Dich bald entschädigen. Doch es kann Dir nichts schaden; denn was man erfahren hat, das hat man gelernt. Siehe, das eben ist das Elend des Lebens, daß es eitel Bruchstück bleibt; ein täglich Hin- und Herfallen zwischen Dasein und Nichtsein. Ein ganzes wäre mir auch lieber; entweder nie gelebt, oder nie gestorben!«
»Wie kommst Du nun wieder darauf?« entgegnete der Jüngling. »Was willst Du mit Deiner wunderlichen Rede?«
»Entweder nie gelebt oder nie gestorben,« wiederholte sich der Alte, »das wäre auf jeden Fall eine Unsterblichkeit, denn wer nie gelebt hat, kann so wenig sterben, als einer, der nie zu leben aufgehört. Schlaf ist Tod, Erwachen Geburt. Es giebt Tage, Wochen, Monate, wo ich ohne Erwachen schlafen möchte, und ich verwünsche die Grausamkeit der Natur, welche mir nicht einmal das Almosen der Bewußtlosigkeit gönnt; jetzt würde ich ewiges Wachen vorziehen, und muß nun jede Nacht wider Willen den Faden der Arbeit abreißen, den ich lieber ohne Unterbrechung fortspänne . . .«
Fabian betrachtete ihn lächelnd und mit einiger Verwunderung, indem er sagte: »Zum ersten Mal sehe ich Dich lebenslustig, Addrich, aber ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll.«
»Freue Dich nur,« erwiderte der Alte, »denn im stürmischen Meere von Geschichten und Geschäften dieser Art gehe ich wieder zu wahrer Selbstvergessenheit über. Mehr begehre ich nicht. Ich allein fühle mich stark genug, die alte Eisenpforte des Weltkerkers aus den verrosteten Angeln zu heben, und ein ganzes Volk aus der stinkenden Gruft in den Sonnenschein der Freiheit vorwärts zu drängen. Zeltner, Leuenberg, Brömer, Schybi, alle erkennen und fühlen sie das, und gestern in der Nacht schworen sie mir zu, ohne meinen Rat keinen Schritt mehr thun zu wollen. Sie nennen mich den Meister. Darum, Fabian, laß uns aufbrechen und das Kriegsvolk und die Stellungen mustern. Ich will die Karten nicht nur mischen und geben, ich muß auch allen ins Spiel sehen, damit nicht einer seinen Trumpf wegwerfe.«
Fabian, der sich das Degengehenk über die Achsel warf, versetzte mit fortdauernder Verwunderung: »Ich bin fertig, Addrich, Du aber bist wahrhaftig Deinem Ende nahe, oder auf dem Wege der Genesung von der schweren Krankheit, die Dich plagt, denn es ist eine große Veränderung bei Dir vorgegangen. Du fühlst Dich selbst wieder im Fleisch und Blut, wo Du bisher durch und durch tot und starr warest. Eigenliebe kann Dich kitzeln und Dir Lust zum Leben machen, da Dich bisher nichts mehr schmerzte, nichts mehr kitzelte. Komm, widersprich mir nicht. Du bist auf guten Wegen; ich hoffe, das bessere soll folgen.«
Addrich, wie von der Wahrheit der Rede des jungen Menschen überrascht, lächelte über sich selbst und wollte Einspruch thun. Fabian aber mochte nichts hören, lachte und zog ihn fort, Der Anblick des Lagers, als sie ins Freie hinaustraten, gab ihrem Gespräche bald eine andere Wendung.