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Es war ein kleines, freundliches Stübchen; die Wände waren ringsum mit vielen in ihren Gestellen zierlich eingereihten Büchern bekleidet und ein paar Tische mit aufgeschlagenen Folianten und beschriebenen Papieren belegt. Durch die hellen Fenster erschien die weite Landschaft im Halbkreise der Gebirge, mit der Aussicht auf die Schlösser Gösgen und Wartenfels und die beiden Wartburgen, wie ein Bild in einem Rahmen.
Fabian, den die letzten Äußerungen des Dekans nachdenklich gemacht hatten, wollte reden. Dieser aber mahnte durch einen sanften Wink, sich zu gedulden und niederzusetzen, und nachdem er aus einer verschlossenen Schieblade einen Brief und eine kleine Rolle Geld genommen hatte, legte er beides neben sich auf ein Tischchen, und nahm gemächlich seinen Platz nahe demselben, im gepolsterten Lehnstuhl. Dann befragte er den Jüngling, von wo er komme und was er in diesen traurigen Zeiten zu thun gedenke. Als Fabian von seinen Abenteuern im Landsturm, von seiner langen Gefangenschaft in Olten zu reden begann, unterbrach ihn der Dekan plötzlich mit einer Art von Schrecken und sagte: »Wie? Bist Du vielleicht Deines eigenen Unglücks nicht kundig? Bei den Unordnungen im Oberlande ist Dein Heimwesen am Thuner See ein Raub der Flammen und alles, was Du gehabt hast, zu Asche geworden.«
Fabian erschrak und vernahm ausführlich, wie ihm Haus und Hof eingeäschert sei, daß keiner von den Nachbarn zu Hülfe geeilt wäre, ja, daß man sogar nächtlicher Weile und boshafter Weise seinen Baumgarten zerstört, die alten Obstbäume eingesägt, die jungen abgebrochen und ausgerissen habe; daß man auch vermute oder sage, dies Unheil sei durch einen Haufen rebellischer Bauern auf Anstiften eines Kerls geschehen, der aus schwedischen Kriegsdiensten zurückgekommen wäre.
»Den Schweden kenne ich,« sagte Fabian mit Fassung und Ruhe. »Es ist der Gideon Renold, welcher um Epiphania wirbt. Also ein Mordbrenner! Ich will es noch nicht glauben, daß er es sie. . . . Nun denn, so habe ich tausend und mehr Gulden weniger als nichts, und Rock und Hemd auf meinem Leib gehören den Gäubigern, denn ich ließ eine verzinsbare Schuld auf dem Gute stehen. So bindet mich nichts mehr an mein Vaterland als die Schuld. Ich schüttle den Staub von meinen Füßen und verlasse die Schweiz, sobald ich weiß, woran ich mit Epiphania bin.«
Der Dekan senkte einen Blick des herzlichsten Mitleides auf den Jüngling und sagte: »Mein Sohn, leider kann ich Dir auch das sagen. Epiphania ist unrettbar und unentreißbar in den Klauen des Satans. Ich hoffte sie durch die mächtige Verwendung des Junker Oberherrn von Rued und vielleicht durch einen vom Junker Landvogt ausgewirkten Befehl zu befreien, doch das ist zu spät. Die Bauern in den Bergen dort gehorchen dem rebellischen Addrich mehr, als der regelmäßigen Obrigkeit. Auf seinen Befehl wurde selbst ein ehrlicher Bürger dieser Stadt, den der Junker Oberherr, Epiphanias wegen, in's Kulmerthal schickte, gefangen fortgeschleppt, und er wäre ohne Zweifel umgebracht worden, hätte er nicht seinem betrunkenen Wächter zeitig bei Nacht entwischen können.«
»Das ist der Meister Wirri,« sprach Fabian.
»Richtig. Du wirst von ihm gehört haben, mein Sohn, denn er saß, gleich Dir, einige Tage im Kerker zu Olten. Er hat viel Ungemach erdulden müssen. Während dessen erhielt ich eines Abends von unbekannter Hand dieses Sendschreiben hier und dieses Geld; es sind zweihundert Gulden in lauterem Golde. Das Sendschreiben ist zwar im reinsten Latein abgefaßt, allein es sind Fälschungen vom Anfang bis zum Ende; vergoldete Fallstricke des Teufels, der gegen meine arme Pate mit bösen Absichten umgeht und mich selber zu seinem Werkzeuge gebrauchen möchte. Leider liegt Epiphania schon in seinen Schlingen verwickelt und gefangen. Es ist mir gelungen, in Addrichs Abwesenheit ein Teufenthaler Bauernweib, welches bei mir ein- und ausgeht, zu Epiphania zu senden. Allein das bethörte Mädchen weigert sich, ihre Zuflucht in mein Haus zu nehmen, und hat erklärt, sie habe ein heiliges Gelübde gethan, und besitze augenblicklich keine Freiheit mehr. Ja, als die Teufenthalerin, auf meinen Befehl, von meinem lateinischen Briefe und dem Golde zu ihr geredet, und daß der unbekannte Verfasser des Schreibens ein verdächtiger Papist sein müsse, der sein Heil ihrer armen Seele nachstelle, hat sie geantwortet: Eben nach dem stehe ihr Verlangen.«
»Was ist das?« rief der Jüngling voll unaussprechlicher Bestürzung und sprang vom Sessel auf. »Nach diesem hochmütigen, bleichen Schleicher steht ihr Verlangen? Ich kenne ihn; seinetwegen bin ich zu Euch gekommen, wohlehrwürdiger Herr. Er hat auch Meister Wirri und mich zu seiner verruchten Absicht erkaufen wollen. Fast überfällt mich ein Grauen, denn so wahr ich lebe, mit ihm ist's nicht, wie es sein soll. . . . Nach ihm ihr Verlangen? Er muß eine verbotene Kunst treiben und Bündnis mit dem bösen Geiste haben, daß er das Gemüt der unglücklichen Epiphania umstricken und ihren Willen verzaubern und binden kann.«
Der Dekan schüttelte bedenklich den Kopf und ließ sich durch Fabian die geringsten Umstände berichten, die dieser von dem Herrn von Groenkerkenbosch wußte; auch Gestalt, Miene, Kleidung, Alter, Sprache beschreiben, und sagte endlich: »Je mehr Du von ihm meldest, desto weniger begreife ich von ihm. Nein, ich kenne den Menschen nicht und will ihn nicht kennen. Deiner Beschreibung nach mag er ein Rosenkreuzbruder sein, denn es sind unter den Katholiken noch viele dergleichen; und er mag mit der höllischen Magie und Theurgie umgehen, wie man davon ältere und neuere Exempel kennt. Hier, mein Sohn, lies dieses sein Schreiben!«
Mit Neugierde und heimlichem Grausen schlug Fabian das Papier auseinander und las laut die Zuschrift, in lateinischer Sprache; in deutscher Sprache war der Inhalt ungefähr folgender: »Die Hand, welche diese Buchstaben zeichnet, o mein geliebtester Heinrich, ist, so hoffe und glaube ich, Dir noch immer teuer. Sie gehorcht einem Herzen, das von jeher für Dich schlug und noch stets für Dich betet. Darum vertraue diesen Zeilen, wenn schon ihr Urheber sich vor Dir verhüllt; er betet für Dich und für die Erleuchtung Deines Gemütes durch das göttliche Licht. Was uns für Leben und Ewigkeit vereinen sollte, das hat uns geschieden: der Glaube und die Kirche. Ich weiß, daß Du mich im beklagenswürdigen Irrtum verdammst, aber wisse, daß meine Seele nur im stillen Mitleid über Dich weint, wie der Sohn Mariens, als er das Kreuz zur Schädelstätte trug. O, daß Du lieber der blindgeborenen Heiden einer wärest, statt einer der Verblendeten durch Menschenlehre zu sein, so dürfte ich leichter auf Deine Wiederkehr zur ewigen Gemeinschaft der Heiligen hoffen.«
Hier fuhr der Dekan mit glühendem Gesichte vom Lehnstuhl auf und rief: »Weiche Satanas! Das ist der Römischen Art und Weise. Ihm wäre es lieber, daß ich ein Heide, als ein evangelischer Christ sei. Welche wahnsinnige Verstocktheit in der babylonischen Abgötterei. Und sagt's nur im schönsten ciceronianischen Styl. Fürwahr, nie verbarg Beelzebub den verräterischen Schwanz unter einem schöneren Engelsflügel!«
Der Vorleser ließ sich jedoch durch diese Aufwallung des evangelischen Eifers nicht stören, sondern fuhr fort: »Inzwischen, geliebtester Heinrich, wende ich mich in großer Angst des Gemütes zu Dir, daß Du Dich einer verlassenen Waise erbarmen, und Epiphania, die Tochter eines Deiner verstorbenen Freunde, ohne Verweilen in Deinen Schutz und in Dein Haus aufnehmen wollest, damit ihr Leben und ihre Seele gerettet werde. Denn sie lebt in der Wohnung eines Mannes, genannt Addrich im Moos, dessen hartes Gemüt durch den kläglichen Untergang des Weibes und Bruders weit berüchtigt, dessen Unglaube und Abfall von Gott selbst Deiner Kirche ein Gräuel geworden, und dessen Aufruhr gegen die Majestät der Gesetze das Ziel der öffentlichen Rache geworden ist. Errette sie aus der Hand des unrettbaren Sünders, bevor sie mit ihm und durch ihn in den Abgrund seiner Verbrechen hinabgerissen wird. Ich füge als Beihilfe zu diesen Zeilen mein weniges Gold hinzu. Ich beschwöre Dich bei Deinem und meinem Gotte, säume nicht. Erinnere Dich, daß Du im heiligen Sakrament der Taufe dem Himmel gegenüber Bürge für sie geworden bist. Gedenke Deines Wortes am Sterbelager ihrer Mutter. Vor dem Richterstuhl dessen, der die Toten richtet, werden dereinst ihre Eltern die Seele ihres Kindes von Dir fordern. Säumest Du, werde ich droben wider Dich zeugen. Lebe wohl. Die unruhigen Blicke meines Kummers beobachten und begleiten Dich auf allen Deinen Wegen. Lebe wohl!«
Fabian legte das Schreiben stumm und den Kopf voller Zweifel schüttelnd auf den Tisch nieder.
»Längst schon hätte ich,« sagte der ehrwürdige Dekan, »meiner armen Pate geholfen, aber wer gebietet oder gehorcht in diesen verwirrten Zeitläufen des Aufruhrs und der Meuterei? Ich weiß gar wohl, daß es mitten im pharaonischen Diensthause nicht pharaonischer zugegangen ist, als in dem Hause des Addrich. Darum, mein Sohn, kommst Du wie von Gott gesandt. Eile denn dahin und führe sie meinem Hause zu. Mein Gebet und Gott ist mit Dir.«
»Aber nach ihm steht ihr Verlangen,« sprach Fabian in seinen Gedanken vor sich hin. Dann aber wandte er sich mit Lebhaftigkeit zu dem Greise und fragte: »Wer ist dieser Don Nardo? Denn er hat diesen Brief verfaßt und kein anderer. Welchen Anteil darf er an Epiphania haben? Ihr, wohlehrwürdiger Herr, Ihr müsset ihn kennen, denn er kennt Euch. Habt Ihr diese Handschrift nie gesehen? Rufen Euch die Züge derselben nicht irgend einen Katholiken ins Gedächtnis, dessen Umgang Ihr irgend einmal genossen habt?«
Der Dekan verneinte nachdenkend mit Schütteln seines Kopfes und erwiderte endlich: »Außer dem gegenwärtigen Herrn Abt von St. Urban, mit dem ich in jüngern Jahren vielmals auf der Jagd im Bowald . . . nun ja, wir waren damals leichte Bursche und paßten wohl für einander . . . allein seit jener Zeit, ich war noch auf den Schulen zu Bern . . . doch es ist wahr, er sprach das Latein damals fertiger als ich, obwohl er jünger war . . . was konnte ihn jedoch jetzt bewegen . . . auch entspricht Deine Beschreibung nicht seiner Gestalt . . . freilich schmächtiger, zarter Wuchs; ja wohl, und die Jahre . . . Wozu indessen zieht er in seltsamer, weltlicher Tracht . . . allerdings, die Prälaten gingen vordem auch geharnischt ins Feld, und thun wohl noch heute gern mitunter etwas weltlich . . . nein, mein Sohn, alles überlegt und erwogen, der Prälat von St. Urban ist's nicht. Und mit andern seiner Konfession habe ich nie vertrauten Umgang gepflogen.«
Das etwas verworrene Selbstgespräch des alten Geistlichen wurde von Fabian mit großer Aufmerksamkeit angehört. Wenn gleich der Schluß zuletzt auf Lossprechung des Prälaten ging, blieb doch in der Brust des jungen Mannes ein Argwohn gegen denselben, weil der Dekan wiederholt beteuerte, er habe in seinem Leben mit keinem andern unter den Katholiken nähere Gemeinschaft gehabt.
Fabian beschloß, von Addrichs Hause hinweg nach St. Urban zu gehen und die Umgegend des Klosters nicht eher zu verlassen, als bis er die Person des Abtes mit der vielleicht nur verkappten des Herrn von Groenkerkenbosch verglichen haben würde, denn im fortgesetzten Gespräch mit dem Dekan traten mancherlei Umstände hervor, die den Verdacht einigermaßen rechtfertigen konnten, wie viel Unwahrscheinlichkeiten mit ihm auch verknüpft waren.
Sobald der Jüngling nach längerer Unterredung einsah, daß er über Epiphanias rätselhaften und in jedem Fall zweideutigen Freund keine weitern Aufklärungen gewinnen könne, und auch über den Verlust seines mäßigen Vermögens am Thuner See nichts anderes, als was durch Briefe von Bern mit Zuverlässigkeit berichtet worden war, zu erforschen blieb, beurlaubte er sich vom Dekan. Dieser hielt ihn vergebens mit gastfreundlicher Hand zurück, um nur einen Tag bei ihm zu ruhen, und hatte selbst Mühe, den Ungeduldigen zu bewegen, seinen Weg wenigstens nicht ganz nüchtern fortzusetzen. Erst nachdem Fabian halbgezwungen Speise und Trank zu sich genommen hatte, entließ ihn der gutmütige Greis unter frommem Segenswunsch und wiederholtem Ermahnen, alles was Klugheit und Mut gebieten oder erlauben, für die Befreiung Epiphanias daran zu setzen.
Der junge Mann verließ die Stadt mit einem jener widerwärtigen Gefühle, für die es noch keinen Namen giebt. Seine gesamten Hoffnungen hatten den Todesstreich empfangen. Für ihn gab es keine Zukunft mehr, nach der es der Mühe lohnte, aufzuschauen. Sein ganzes Dasein war verkümmert, denn nur das Tier ist mit dem Genuß einer Gegenwart abgefunden, ohne von Vergangenheit und Zukunft zu wissen. Der geistige Mensch wohnt im Unendlichen, lebt daher im Gewesenen und Werdenden und hat keine wahre Gegenwart des Augenblicks. Der Verlust seines mäßigen Eigentums durch mordbrennerische Hände verwandelte ihn, dessen Stolz bisher seine Unabhängigkeit gewesen war, in einen Knecht, der um Lohn für das gemeinste Lebensbedürfnis zu arbeiten gezwungen wird. Der mehr als wahrscheinliche Verlust seiner schönen Jugendgespielin machte für ihn die Welt zu einer inhaltlosen Schale, die für sich selbst ohne Wert ist. Und auch, wenn ihm Epiphania geblieben wäre, wie konnte er ihr ein erträgliches Loos anbieten?
Er ging raschen Schrittes, doch mit dumpfem Sinnen und gedankenlos, durch die obere Vorstadt, längs dem stillfließenden Bach nach Suhr hin; sah, grüßte und dankte niemandem, bis ihn ein kräftiger Schlag auf die Achsel weckte.
»Heda! Man geht nicht so stolz an alten Bekannten vorüber, Herr Freund,« rief der Erwecker. »Woher? Wohin? Gott sei Dank, daß ich Euch noch zwischen Himmel und Erde wieder finde. Seid willkommen. Wir sind Glückskinder, wir Beide! Wie seid Ihr den Oltenern entwischt?« Fabian erkannte in dem Frager zwar den Meistersänger von Aarau, er ließ ihn aber noch lange fragen, ohne zu antworten, und starrte ihn an.
»Die Oltener Kost, scheint es, hat Euch nicht wohlgethan,« fuhr Meister Wirri fort. »Wasser und Schwarzbrot. Es läßt sich zwar zur Not mit den Gänsen trinken, aber nicht essen. Indessen nach dem Regen kommt Sonnenschein, Herr Freund. Man verschläft viel Ungemach und unsereins muß unterm Kreuz still halten. Ihr schneidet noch ein saures Gesicht.«
»Daß ich nicht wüßte, Meister,« antwortete Fabian, der sich noch nicht ganz ermannen konnte.
»Ein rechtes Muster wäre es auf einem Essigkrug. Wo fehlt's denn, Herr Freund? Ist Euch eine Ratte über den Weg gelaufen?«
»Kleinigkeiten, Kleinigkeiten! Nichts sonst.«
»Kleinigkeiten? Ei, die sollen einen Mann von Kraft und Mark, wie Euch, nicht verdrießlich machen. Der Adler jagt keine Mücken. Sagt mir das nicht. Meinethalben, Ihr möget am besten wissen, wo Euch der Schuh drückt. Aber sagt mir, sitzt unser Unglückskamerad, der, wie heißt er nur, der Dom-Narr oder so etwas, denn ein Pfaff ist er einmal . . . sitzt er noch im Oltener Loch?«
»Er wurde schon anderen Tages frei. Aber sagt mir, Meister, für wen haltet Ihr diesen Menschen? Er stößt mir auf, wohin ich komme; überall hat er die Hand im Spiele.«
»Der schwimmt also, wie die Petersilie, auf allen Suppen. Das sieht ihm ähnlich, denn ich halte ihn, trotz seines Läugnens, für einen katholischen Priester und nichts anderes, der aus der Welt ein Puppenspiel macht, das er regieren muß. Glaubt's, Herr Freund, kein Pfäfflein ist so klein, es steckt ein Päpstlein drein. Ich mag von ihm nichts wissen. Er gehört zu den Leuten, von denen man das Beste weiß, wenn man nichts weiß. Nun aber saget mir, wohin geht die Reise?«
»Ins Moos, zum Addrich, wenn Ihr mit wollet.«
»Puh! Acht gehabt! Laßt Euch nicht tiefer in das Wasser, als Ihr den Grund fühlt. Womit man umgeht, damit wird man auch gestraft. Bleibt bei uns in Aarau. Einen Zoll weit über den Stadtbann hinaus ist heutzutage kein Leben mehr sicher. Ihr tragt ja nicht einmal einen Fliegenwedel in der Hand.«
»Wozu, Meister?«
»Das werdet Ihr erfahren, sobald die Schmeißfliegen stechen. Denkt an mich! Den Rebellen fehlt's nicht an Säbeln, Hellebarden, Pistolen und Flinten, und was ihnen fehlt, stehlen sie dazu . . . Aber wartet doch, warum eilet Ihr? Unglück kommt einem auf halbem Wege entgegen, es ist nicht nötig, danach zu rennen.«
Meister Wirri rief ihm vergebens nach; Fabian hörte nicht, sondern machte mit der Hand nur noch eine Bewegung. wie zum Abschiede, und schritt hastig den Weg am Bache hin. – Die kurze Unterredung mit dem würdigen Meistersänger hatte für ihn die wohlthätige Wirkung gehabt, daß eine Art Besonnenheit in ihn zurückgekehrt war. Wie gleichgiltig ihm auch bei der Stimmung seines Gemütes jede Gefahr sein mochte, wollte er doch die einzige vermeiden und nicht zum dritten Male Gefangener werden. Er ließ sich daher keine Umwege durch Busch und Berg verdrießen, um den Dörfern auszuweichen.
Als er die Spitze des altertümlichen Burgstalls und die unmittelbar daran grenzenden dichten Tannen erreicht hatte, stieg er unverdrossen in deren feuchtem Schatten das Gebirge hinauf, über das traurige Loos seiner Tage brütend. Er hatte seine unverschuldete Verlassenheit und Verwaisung noch nie im Leben so tief empfunden, wie in diesem Augenblicke; selbst nicht in der Einsamkeit seiner Kerker zu Bern und Olten. Ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Freunde hatte er mit brüderlichem Herzen an Epiphania gehangen; hatte er in ihrer schwesterlichen Zärtlichkeit allein Ersatz für alle andern Entbehrungen gefunden und sah nun auch diese sich entfremdet. Zu gebildet, um sich unter den rohen, abergläubigen Bergbewohnern glücklich zu fühlen, zu stolz, um bei der reichsstädtischen Hoffart seiner Herren und Oberen zur Frohn zu gehen, war ihm die Schweiz nicht mehr Vaterland als jeder andere Fleck des Erdbodens.
Jetzt dachte er an Addrich und jetzt erst glaubte er ihn zu verstehen, den Unglücklichen, den mit sich und seinem Dasein zerfallenen Mann, als derselbe unter den Fichten des Gönhards aus der Fülle seines Elendes gerufen hatte: »Ich habe die Welt von allen Seiten betrachtet und am Ende gefunden, sie sei nicht des ersten Blickes wert gewesen.«
Diese Erinnerungen lagerten sich wie schwarze Schatten über sein Gemüt. Ihm ahnten die heimlichen Leiden aller Wesen, das allgemeine Unglück aller Geschöpfe, dem, vom Wurm bis zum Weisesten, keiner entrinnen könne. Er selbst begann mit seinem Dasein zu grollen und rief: »Das Beste im Leben ist die Freiheit des Sterbens!«
Er trat aus der Dämmerung des Waldes auf die kahle, von magerem Grase gebildete Bergkuppe der Bampf, die sich mit breitem Rücken auf einem Kranz von Gebüschen erhob. Die riesenhaften Formen der Alpen standen vor ihm, veilchenfarben, mit dem Goldrot des Abendlichtes und dem noch tiefhangenden Silberkleide des Winters bekleidet. Rechts, wo ein Pfad über die Höhe zum Thaldorfe Dürrenäsch und etwas näher noch seitwärts in Addrichs verborgene Einsamkeit führte, streckte das nahe Gebirge seine schwarzen Felswände und Zacken hervor, während links aus der Tiefe die Wellen des Sees von Hallwyl blitzten, wie ein über den grünen Sammet der Matten ausgespanntes Silberband.
Fabian stand still. Die Majestät des großen Schauspiels rührte mit überraschender Macht seine Seele. Der reine Atem des Himmels, welcher ihn in diesen Höhen umwehte, der allgemeine Glanz, das allgemeine Schweigen durchdrangen ihn. Die Natur übte ihr Hoheitsrecht, dem kein reines Gemüt widersteht. Er fühlte sich wunderbar über sich selbst und über die schweren Träume und Zweifel erhaben, welche ihm allein von der dumpfigen Waldtiefe angeblasen zu sein schienen, der er eben entstiegen war. Und als er das Antlitz zurückwandte, umspannte seinen Gesichtskreis der ungeheure Bogen des Jura, der seine blauen Gipfel, Firste und wellenförmigen Grate zu den Wolken hinaufstreckte, als würde die Erde in den Himmel hinaufgezogen. Links in der Entfernung einiger Wegstunden leuchteten im frischen Frühlingsgrün die Gefilde von Aarau; rechts vor ihm in der Tiefe traten die Zinnen, Türme und alten Mauern der großen Lenzburg, weiterhin, am Felsen hangend, die weißen Schloßmauern von Brunegg hervor.
Er warf mit dem leichten und wandelbaren Sinne seines Alters die Sorge von sich und faßte neue Entschlüsse. »Bin ich arm,« dachte er, »nun so gehört mir die weite Welt. Was habe ich verloren, wenn ich mich selbst noch habe? Bin ich verlassen, nun so steht Gott mir bei. Wer hat's besser als ich? Niemand ist reicher, als wer der Welt nicht bedarf; niemand mächtiger, als wer sich selbst bändigt. Ich bin noch nicht arm genug; ich bin noch nicht stark genug. Ich will die Bande brechen, die mich binden. Lebe wohl, Vaterland! Lebe wohl, Epiphania! Ich werfe der Freude, wie dem Schmerz, den Scheidebrief hin, und will dem Schicksal meinen Trotz zeigen. Der Feige schmiegt sich unter die Hand desselben. Ich bin noch nicht arm genug, ich will nichts mehr besitzen, auch die Hoffnung will ich nicht mehr, die mich noch an diese Gegenden knüpfte. Hinaus in die Welt, in die Ferne; da will ich mir eine neue Welt aus eigener Kraft erbauen.«
So dachte er und that stolz einige rasche Schritte. Er glich in seiner Haltung einem Könige, in seinem Selbstgefühl dünkte er sich, es zu sein, der Staub aller Weltherrlichkeit unter seinen Füßen, die Stirn im Himmel.
Während sein Blick noch in die Ferne, über die Gebirgskette des Jura hinschweifte, und seine Seele noch in der Wollust freiwilliger Verzichtung auf die bisherigen Freuden seines Daseins schwelgte, drangen menschliche Stimmen an sein Ohr. Er wandte das Antlitz nach der Gegend, von wo die Töne kamen; sie erschollen aus dem Gebüsche, welches, nahe bei ihm, die Vertiefung verbarg, in der man zum Moose gelangte, wo Addrichs Waldhaus gelegen war. Es war weibliches Geplauder, das bald verstummte. Fabian fühlte ein plötzliches Erglühen seiner Wangen und ein lautes Pochen seines Herzens. Es schien ihm eine Stimme, wie Epiphanias Stimme gewesen zu sein. Er eilte in das Dickicht nach, welches sich noch kaum mit jungem Laube bekleidet hatte.
Da stand sie, nur wenige Schritte entfernt, bei seinem Anblick in Bestürzung versetzt, vor ihm.
»Fabi, Fabi! Du selbst?« rief Epiphania erglühend, den in Freude leuchtenden Blick zu ihm gewendet. Sie erhob schon aus der Ferne die Arme, ihn zu empfangen, ließ sie aber wieder sinken, als er zu ihr trat. Sie reichte ihm stumm die Hand dar, legte stumm ihr Haupt an seine Brust. Er berührte mit seinen Lippen das dicke, goldfarbige Geflecht ihres Scheitels und ein Paar Thränen entfielen seinen Augen, auf dem schönen Haare gleich Tauperlen glänzend.
»Fabi,« sagte sie still weinend, »Fabi!«
»Weine nicht, Fania,« antwortete er mit zitternder, halblauter Stimme.
»Du hast mich sehr erschreckt,« lispelte sie leise, sah zu ihm auf und legte ihren Arm um seinen Nacken. Beide schwiegen; beide betrachteten sich mit zärtlicher Innigkeit, lautlos und anhaltend, als wenn sie nicht an das Glück glaubten, sich wiedergewonnen zu haben, oder, als könne das längste Anschauen keinen Ersatz gewähren für so langes Entbehren. Die Augen beider schwammen in stillen Thränen, die Lippen beider waren halb geöffnet, wie um leichter das Entzücken auszuhauchen, in welchem die Herzen brechen zu wollen schienen.
»Und konntest Du, Fabi, konntest Du Dich so lange überwinden und nicht kommen,« seufzte Epiphania leise, ohne ihren Blick von seinen Augen abzuwenden.
»War ich denn nicht immer bei Dir, Fania? Sie hatten nur meinen Leib gefangen; meine Seele atmete bei Dir.«
»Ja Oheim Addrich sagte mir's. Du hast recht, guter Fabi; Du bist schuldlos. Er sagte mir's; er verkündete mir Deine nahe Ankunft. Ja, Du warest immer bei mir, Du tratest selbst des Nachts in meine Träume. Das war Deine Seele; das warest Du. Sahest Du mich nie?«
»Immer, immer, Fania! Wo könnte ich denn sein, daß ich Dich nicht sähe? Ja, Fania, auch in den Träumen kamest Du zu mir. O wie schön, wie unaussprechlich schön standest Du darin an der Flue des Röthliberges, bei den Wasserfällen, welche der Hauch des Windes, wie einen weißen Brautschleier über Dein Haupt und über das Thal flattern ließ. Weißt Du noch? Fania, o Fania, aber da erschien . . .«
Hier unterbrach er sich plötzlich und ließ die Stimme sinken, während er unwillkürlich, durch die Erzählung seines Traumes, an Renold erinnert wurde. Epiphania bemerkte bei den letzten Worten die Verwandlung in seinem Gesichte. Er wandte verlegen den Blick von ihr und ließ ihn hierhin und dorthin irren, als möchte er sich von einem Gedanken loswinden, oder ihn nicht blicken lassen. Währenddessen neigten sich seine Augenbrauen zusammen und verrieten den innersten Verdruß.
»Nun, Fabi, nun? Was erschien?« sagte sie und beobachtete mit aufmerksamer Ängstlichkeit seine Geberde.
»Dein Verlobter, Hauptmann Renold, Dein Bräutigam erschien,« erwiderte er halblaut.
Der Name und das Beiwort warfen in das zarte, bewegliche Spiel ihrer Mienen plötzlich den Ausdruck des lebendigsten Abscheus. Sie zog die Hände von seinen Achseln zurück und sagte, indem sie sich um ein paar kleine Schritte von ihm entfernte.
»Warum betrübst Du mich so, Fabi? Wer hat Dir das gesagt?«
»Addrich that es.«
»Und Du, Fabi, und Du? Was dachtest Du, als er das gesagt?«
Fabian, der noch immer vor sich niedersah, zauderte stockend mit der Antwort und erwiderte endlich: »Gideon ist ein schöner Mann.«
»Ja,« versetzte sie und trat mit ihrem kleinen Fuße auf die vor ihr am Boden blühende Daphne, »ja, wie dieser giftige, trügliche Zyland mit der Pfirsichblüte und dem Gewürzduft. Das ist die Sinnblume der Sünde, das ist Gideons Ebenbild.«
Der Jüngling richtete den Blick vom Spiel ihrer Fußspitze forschend nach ihrem Antlitze. Da stand sie mit heiligem Zorn in unnennbarer Anmut reizender da, als der Traum sie ihm gezeigt hatte. »Wirklich, Fania, Du bist seine Braut nicht? Warum sagte es Addrich? Warum rühmt sich Gideon Deiner? Bist Du nicht gern an seiner Seite durch diese wilde Einsamkeit gewandelt? Doch, vielleicht habe ich kein Recht zu solchen Fragen.«
»Du kein Recht? O Fabi, Fabi, wer denn sonst? Bin ich nicht mehr Deine Schwester? Fabi, willst Du schon wieder der Zänker unter uns sein, wo wir kaum zusammengetroffen sind? Nein, thue das nicht! Lasse uns friedlich zusammenbleiben. Ich will ja in meinem Leben nicht mehr mit Dir streiten, denn wenn Du fern bist, habe ich nichts davon, als die bittere Reue, die mir bleibt. Höre weder auf Addrich noch auf Gideon. Sie sagen Dir nur, was sie wünschen, nicht, was ich fühle. Ich möchte tausendmal lieber die Braut des Grabes sein. Glaube an mich, wie ich nur an Dich glaube. Ich schalt ja auch den Gideon einen Lästerer, als er mir sagte, die Obrigkeit habe Dich eines Verbrechens wegen eingekerkert. Warum schaltest Du ihn nicht und den Addrich. als sie Böses von mir redeten.«
Fabian nahm Epiphanias Hand und sagte: »Ich habe keine andere Zuversicht unterm Himmel, als zu Gott und zu Dir. Aber Gideon ist ein schöner Mann . . .«
Epiphania betrachtete ihn mit dem ihr eigentümlichen, schelmischen Lächeln, während sein Blick voll ruhigen Wohlgefallens an ihr hing. Endlich sagte sie etwas stammelnd, aber lebhaft: »Und bist Du denn nicht . . . viel schöner als er? Und bist Du . . . denn nicht unendlich besser als er? O Du ehrliche Seele, muß ich Dir das erst sagen, und Du hast das nicht gewußt? Es schickt sich freilich nicht für mich, Dich aus der Unwissenheit zu ziehen, die Dir so wohl steht. Aber Fabi, Du bist noch ein wirkliches Kind und bleibst ein Kind, bei aller Deiner Gelehrsamkeit. Das muß ich Dir sagen.«
Fabian wurde feuerrot, sah hinweg, dann wieder zu Epiphania und versetzte: »Hofmeistere mich nur und mache Dich lustig. Ich mag jetzt keinen Streit mit Dir anfangen, denn ich werde wohl nur kurze Zeit bei Dir sein, und habe vieles mit Dir zu besprechen und um vieles Dich zu fragen.«
»Nur kurze Zeit?« rief Epiphania, schnell ernster werdend. »Wer treibt Dich von uns? Nein, Fabi, Du mußt bleiben. Du mußt! Wer soll mich gegen die erschreckliche Wildheit des Gideon in Schutz nehmen, wenn er wiederkehrt?«
Jetzt erzählte sie ihm alles, was sie von Renolds Art und Weise und seinen Ansprüchen zu sagen wußte, und was sie von den bösen Künsten zu wissen glaubte, die er gegen sie in Anwendung gebracht haben sollte, um ihr Herz zu betrügen. Ihre Erzählung war so schlicht und aufrichtig, wie eine Schwester sich nur dem Bruder anvertrauen kann. Sein Inneres empörte sich gegen Gideons rohe Anmaßungen. Er schwor, zwischen den Zähnen murmelnd, dem hochfahrenden, gewalttätigen Kriegsknecht blutige Strafe und rief endlich: »Fania, nein, Du bist gegen die List und Wut des wüsten Bösewichts hier nicht geborgen, hier nicht! Addrich selbst schirmt Dich nicht; Addrich verkauft Dich jedem, der ihm in den unseligen Händeln wider die Landesobrigkeit hilft. Ach, Faneli, warum kann ich Dich nicht einatmen, wie diese reine Luft, daß Dich niemand sähe, Dich niemand hätte; daß man mich töten müßte, um Dich zu rauben! Eben dieser Renold, eben er, und kein anderer, ist der Mordbrenner, der mein Heimwesen zerstören ließ, damit ich ein armer Bettler und ganz ohnmächtig würde, Dich zu schützen. Alle Mittel hat er mir in dieser Zeit entrissen, wo Gesetz und Richter bei dem Aufruhr des Landes verstummt sind. Denke nach, Faneli, rate, wie wir uns beide aus dieser Not erretten? Was hilfts, wenn ich ihn erschlage und die Schweiz verlasse und Dich? Warum traf doch mein gutes Schwert den Frechen, in der Nacht vor Deinem Geburtstage, so schlecht!«
Hier wandte sich die Unterredung durch Epiphanias neugierige Zwischenfragen auf die Begebenheit jener Nacht. Epiphania wollte alles wissen. Nun that es zwar ihrem Herzen wohl, zu hören, daß der kleine niedliche Vogel, dem Fabians Namen und einen Denkspruch zu rufen gelehrt worden, im Gefängnis zu Bern von der treuen Bruderliebe Unterricht empfangen habe, doch war es ihr beinahe unangenehm, daß das Wundergeschöpf ein ganz natürliches Wesen, kein Berggeist, kein Höhlenfürst oder Schrätteli gewesen sei. Als sie aber, bei Fortsetzung des Gespräches, in Fabians Augen die Thränen des frommen Zornes, der Liebe und des Schmerzes um seine Verarmung sah, lösten sich alle ihre Gefühle in Mitleid aus. Mit ihrer ganzen Beredsamkeit suchte sie ihn zu beruhigen, zu trösten und zu neuen Hoffnungen aufzurichten.
»Nein, Du liebe Seele,« sagte sie, indem sie traulich und sanft mit ihrer linken Hand seine Schulter berührte, und, während sie selbst sich kaum der Zähren erwehrte, mit der rechten ein Tuch an seine nassen Augen drückte, »nein, traure Du nicht. Wir stehen beide in Gottes gutem Schutz. Ihn halten wir, er hält uns fest. Ich bin überreich, wenn Du bei mir bist, Fabi. Bist Du denn nicht auch reich bei mir, Fabi?«
Sie sagte und fragte dies mit so rührender, harmloser Zuversicht, und die ganze Zärtlichkeit ihrer Seele sprach so klar aus Blick und Stimme, daß Fabian sie mit beiden Armen an seine bewegte Brust zog und sagte: »Ich würde, wie Addrich, am Himmel verzweifeln, wenn er Dich verlassen könnte, Faneli.« Er drückte seine Lippen zum herzlichen Bruderkuß auf ihren Mund. Die Lippen blieben unbedacht an ihren Lippen und es durchschauderte ihn etwas, was er nie empfunden hatte.
»O mein Leben!« seufzte er, sie heftiger an sich reißend.
»O Fabi!« lispelte sie. »Wie ist mir! Willst Du mich denn töten?«
»Könnte ich doch, Fani, könnte ich Dich in mich aufnehmen!«
»Sterben wir beide, Fabi! Könnten wir's jetzt, o Du mein Licht, meine Seele, und dann zu Gott, Du und ich.«
Es dauerte lange, bis sich diese Seligen von ihrem Rausch ermannten. Selten erblickte der Schutzengel der Unschuld auf Erden die Liebe auf dem Gipfelpunkte des Zaubers und der Lust so heilig gehalten als hier. Endlich ließen beide von einander; nur ihre Hände blieben in einander verflochten. Mit trunkenem Blick starrte er schweigend in ihre glänzenden Augen.
»Was ist aus Dir geworden, Fabi?« sagte sie mit seelenvollem Lächeln. »So bist Du ja sonst nicht gewesen. Alle Sinne stürmen in mir . . . ich weiß selbst nicht, wie? Oder habe ich nie gewußt, wie lieb Du mir bist, daß ich nun glauben muß, ich habe Dich nie so geliebt, als jetzt? Sage mir nur, ob auch Du mich mehr liebst, als sonst?«
»Wer kann Dich mir nehmen? Wer? Wer?« antwortete er. »Es giebt ja wohl irgend eine Höhle, wo ich Dich vor den Währwölfen verbergen könnte. Ich würde allein umhergehen unter den Menschen, um für Dich im Taglohn zu arbeiten, Holz zu spalten, zu betteln. Gewiß, ich ließe Dich nicht leiden.«
»Fabi, wahrlich, Du bist nicht mehr Fabi,« erwiderte sie. »Stehst Du nicht da wie eine Feuerflamme vor meinen Augen? Von Deinen Händen durchfährt mich ein wunderbarer Schmerz. Nein doch, Schmerz ist es nicht, doch Dein Atem war Glut, und in dieser Glut möchte ich gestorben sein.«
Diese sonderbare, wenig Zusammenhang zeigende Unterhaltung, welche von den Lesern, als Unsinn, mit Recht getadelt werden könnte, wollen wir nicht so weit mitteilen, als es den jungen Leuten gefiel, sie fortzusetzen; wir bemerken nur, daß beide endlich dabei nüchtern wurden, und zuletzt die Sprache vernünftiger Menschen annahmen. Die Nüchternheit wurde noch vollständiger, als Fabian die Frage an seine zärtliche Schwester richtete: »Wie hast Du wissen können, daß ich den Weg ins Moos über die Bampf wählen würde? Oder erwartetest Du mich später?« . . . und Epiphania dann, in sich selbst erschreckend, ihm die Hände entzog und durch ihre Mienen verriet, sie erinnere sich an etwas, was sie beinahe vergessen habe.
Sie ergriff seinen Arm und drängte ihn mit sanfter Gewalt auf dem Fußwege zum Moose fort, indem sie schmeichelnd sagte: »Nun gehe hinab, liebes Kind, gehe zu Addrichs Hütte! Der Alte erwartet Dich. Gehe, ich folge Dir bald nach.«
»Und Du, Fania?«
»Ich bleibe noch. Ich muß. Gehe doch, ich erwarte hier eine Person, die mir wichtige Nachrichten bringen will. Doch muß ich sie ganz allein sprechen. O, wenn Du wüßtest, Fabi! Gehe nur! Ich habe Verschwiegenheit gelobt, heilig und teuer gelobt. Darum erstieg ich den Berg.«
»Hast Du ein Geheimnis vor mir? Nein, Faneli, in Dir sollte kein Dunkel sein, und wäre es von der Größe eines Sonnenstäubchens. Ich lasse mich von Dir durchblicken, wie vom Auge des Allwissenden.«
»Was soll ich Dir sagen, Du Neugieriger? Ich weiß etwas und nichts, und will erst selbst das Geheimnis erfahren. Nun forsche nicht weiter. Ich habe gelobt. einstweilen reinen Mund zu halten. Das ist alles, was ich sagen kann. Ich bitte Dich, gehe hinab, ins Thal.«
»Aber, Mädchen, bist Du auch sicher? Man könnte ja Böses im Schilde führen. Warum auf diesem abgelegenen Berge, wo so selten Menschen verkehren, allein bleiben? Du solltest niemals allein gehen, nie!«
»Allein zu erscheinen, Fabi, das gerade habe ich versprochen. Darum schickte ich die Großmagd zurück, die mich herauf begleitete. Fürchte meinetwegen nichts. Ich habe mit einer mir wohlbekannten, grundehrlichen Person zu thun. Aber,« setzte sie hinzu und legte die Fingerspitzen an seinen Mund, »daß Du Dich nicht unterstehst, drunten aller Welt zu sagen, warum ich auf der Bampf zurückblieb. Ich kenne Dich Plaudermäulchen. Hörst Du? Keine Silbe davon, daß Du mich hier gesehen hast!«
Als der Streit über Gehen und Bleiben eben beginnen wollte, sahen beide zu gleicher Zeit eine Bäuerin über den öden Bergrücken daher wandern, die, aus einem Gehölz gekommen, zuweilen stehen blieb, und zu horchen und mit den Augen zu suchen schien. Jetzt drängte sich Epiphania, schmeichelnder bittend, an Fabian, und trieb ihn, den Berg zu verlassen. »Gelt, Fabi, Du gehorchst? Fort! Ich bin bei Dir und Leonoren, ehe ein Viertelstündchen vergeht, Fort!« sagte sie, gab ihm zum Abschiede mit schalkhaftem Lächeln einen leisen Schlag auf die Wange und eilte aus dem Gebüsch ins Freie auf die Höhe des Berges.