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Der Alte verschloß sich alsbald in sein Zimmer und blieb dort lange allein, obwohl es indessen finstere Nacht geworden war. Als er wieder zum Vorschein kam, warf er eine Menge zerschnittener Papiere in die Flamme des Herdfeuers, zündete die Lampe an und befahl, daß einer nach dem andern jeder von seinen Hausleuten, wie er sie der Reihe nach rufen ließe, vor ihm erscheinen solle. Er pflegte dies jedesmal zu thun, wenn er eine Reise von mehreren Tagen oder Wochen vor hatte.
Es war schon gegen Mitternacht, als er Epiphania noch herbeiholen ließ. Änneli mußte sie als Wächterin beim Krankenbett der Tochter ablösen.
Er verriegelte die Thür des Zimmers von innen und sagte: »Faneli, es dünkt mich sonderbar, daß seit gestern und heute so vielerlei Frage nach Dir gethan wird. Es scheint, man stelle Dir von mehreren Seiten nach und wolle Dich aus meinem Hause locken. Warum beweist Dir Junker Mey von Rued plötzlich so ungewohnte Teilnahme, schickt den Spielmann Wirri mit Briefen, um Dich ohne mein Vorwissen in's Liebegger Schloß führen zu lassen? Wer ist der schlimme Geselle, der nächtlicherweile zu Deinem Kammerfenster stieg, Dir das Blumenglas hinstellte, und vermutlich auch den abgerichteten Vogel hineinschob? Fabian selbst? Es ist nicht wahrscheinlich. Der ehrliche Junge wird nicht vergessen haben, daß ihm das Haus im Moos Tag und Nacht offen stehe. Wer könnte es aber gewesen sein? Und wer ist der alte Mann im schwarzen Samtbarett und köstlichen Leibpelz, mit der dicken Schramme über der Wange, welcher von Seon einem Landmädchen Kleinode schickt, die einer Königin anständig sein würden, und deren Wert weit über alle Vorstellung geht, die Du Dir davon machen kannst? Warum will man Dich von mir weg, zu Deinem Taufpaten nach Aarau locken? Hast Du keine Vermutung, Faneli?«
»In der That,« antwortete Epiphania, »ich könnte leichter erraten, was über den Sternen oder unter der Erde vorgeht, als warum man sich von so verschiedenen Seiten mit mir zu schaffen macht. Aber vergiß nicht, es war mein Geburtstag, und der gerade mit der geheimnisvollen Zahl. Kein anderer, als Fabian, kann es gewesen sein, welcher die Blumen gebracht, und wäre er's nicht gewesen, so war's . . . Du weißt es: Du hast es gesehen; Du hast es gehört.«
»Wer war's? Doch nicht Dein Schrätteli, leichtgläubiges Kind? Etwa der Staar? . . . Thorheit!«
»Rede nicht so laut; die Zwerglein haben ein feines Ohr, und Du weißt es ja, Addrich, sie hören nicht gern, wenn von ihnen gesagt wird, daß sie einem Vogel in etwas gleichen.«
»Mit den breiten Gänsefüßen, die sie haben sollen?«
»O, daß Du doch das aussprechen mußt!« rief Epiphania heftig zugleich und schüchtern. »Erzürne sie nicht; sie sind gute Geschöpfe Gottes. Brechen wir ab davon!«
»Wirklich, Du sprichst Wahrheit, Faneli, es sind gute Geschöpfe. Ich fürchte sie auch gar nicht; die Menschen hingegen desto mehr. Das ist klar, es wird Übles gegen mich beabsichtigt. Dir wird nachgefragt und nachgestellt; aber auf mich ist's gemünzt. Vor Zeiten waren die Menschen nicht des Paradieses wert; heutigen Tages sind sie so schlecht, daß sie nicht einmal den Aufwand einer Sündflut verdienen, um vertilgt zu werden. Der Schöpfer läßt sie mit den übrigen Bestien gehen und sich einander zerreißen.«
»Pfui, Addrich! Machst mir immer unnötige Angst, Dir nutzlose Plage, und später giebt es unter den Menschen doch so viele schöne Ausnahmen.«
»Nun ja, Narren oder Kinder, die das Himmelreich hinter der Hecke finden, wo sie mit den heiligen Engeln spielen, und wären es Zaunpfähle.«
»Addrich, glaube es, wer den Engeln gern begegnen will, dem begegnen sie gern. Deine fromme Tochter stelle ohne Furcht zu den Engeln, und ich will werden, wie Leonore.«
»Dann stirb! Selig sind die Toten!« Hier schwing der Alte und neigte sein verfinstertes Antlitz auf die Brust. Bald aber richtete er sich wieder auf und sagte mit fester Stimme: »Hast Du das arme Loreli lieb?«
»Vom Herzen, wie eine Schwester lieb.«
»So gieb mir Dein Versprechen, die Sterbende nicht zu verlassen. Ich habe eine Reise vor, wo sich Anlaß zu einer mächtigen Zerstreuung bietet. Ich muß mich zerstreuen oder wahnsinnig werden. Auf wie lange oder wie weit ich mich von hier entferne, läßt sich nicht voraussagen. Meine Tochter ist mir schon gestorben, wenn sie auch noch atmet. Bleibe ihr treu, Epiphania. Es kann ihr keine weichere, als Deine schwesterliche Hand die müden Augen, die sich nach dem ewigen Schlafe sehnen, zudrücken.«
»Ich werde Leonoren gewiß nicht verlassen, Oheim.«
»Man will Dich aus diesem Hause und vom Bette Deiner Schwester reißen. Beruhige mich, Epiphania. Lege Deine Hand in meine Hand zum Gelübde vor Gott und seinen Engeln allen, daß Du unter keiner Bedingung, und aller List oder Gewalt zum Trotz, dies Haus nicht verlässest, bis Leonore Deiner Pflege nicht mehr bedarf.«
»Hier ist die Hand Addrich!«
»Gieb die Hand nicht, ohne freie, feste Zustimmung Deines innersten Willens. Dein Gelübde wird zum Eide, und Dein Wort dringt durch die Wolken. Das gebrochene Wort würde Dir zur gebrochenen Seligkeit werden.«
»Hier die Hand, Addrich!«
» Erinnere Dich, Epiphania, Du bist meine Erbin, wenn es Leonore nicht mehr sein kann. Ich habe alles für diesen Fall angeordnet. Du kannst der Zukunft ohne Kummer entgegensehen.«
»Ich habe sie noch nicht gefürchtet, Addrich. Ich weiß wohl, die Zukunft steht in treuem Bunde mit der Vergangenheit, wem die Vergangenheit im Rücken nachschilt, dem droht die Zukunft ins Gesicht.«
»Hauptmann Renold wird Dein Beschützer werden, wenn ich's nicht mehr sein soll. Er ist ein schöner Mann, Du wirst's gestehen; er ist beherzt und brav dazu und nicht ohne Vermögen. Etwas eitel, eingebildet, prahlerisch, geziert, auch wol auffahrend und soldatisch frech . . . nun, Du kennst ihn, Faneli. Aber er brennt in Liebe für Dich; und das härteste Eisen, wenn es glühend ist, wird weich, daß es sich biegen und zu Stecknadeln für Weiberputz machen läßt. Ich habe ihm vorläufig Deine Hand versprochen.«
»Meine Hand, sein Weib zu werden? Du hast übel gethan. Ich verabscheue ihn und kann Dir nicht gehorchen. Denn . . .«
»Hoffst Du auf Fabian von der Almen?« unterbrach sie mißmutig der Alte. »Er denkt nicht daran; er hat Dich nie von mir begehrt.«
»Zum Weibe? Wie sprichst Du, Addrich! Der Bruder seine Schwester!«
»Er ist Dir nicht verwandter, als der große Mogul.«
»Bin ich darum minder seine Schwester? Wir sind, glaube es mir, Geschwister von der Zeit der ersten Kinderspiele an, deren ich mich erinnere. Wir haben nur einerlei Gedanken, nur einerlei Willen, nur einerlei Erinnerung, nur einerlei Hoffnung und können nicht anders, Er ist ich, ich bin er. Wir sind wahrlich eine einzige Seele in zwei Körpern. Gott hat uns in zwei Hälften getrennt; er aber ist offenbar die bessere,«
Addrich strich lächelnd mit seiner Hand über ihre Augen, die ihn zur treuherzigen und lebhaften Versicherung ebenso lebhaft und treuherzig anblickten. »Bist noch ein vollständiges Kind, Faneli,« sagte er. »Man sollte Euch wirklich für Bruder und Schwester halten, wenn Ihr beisammen seid: so wenig macht Ihr Euch dann mit einander zu schaffen.«
»Was sollen sich die verbundenen Hälften um einander kümmern? So sind sie ruhig, sind sie eins. Aber wenn sie getrennt leben müssen, vergehen sie in Schmerz und Sehnsucht nach einander, weil sie nur ein halbes Leben haben. Ihre Gedanken suchen sich beständig auf, und ihre Wünsche fliegen einander nach.«
»Indessen, Faneli, schien Dir der Hauptmann Renold doch nicht so verhaßt zu sein wie Du Dir jetzt das Ansehen geben möchtest. Sei offen gegen mich. Ich weiß mehr, als Du vielleicht vermutest. Deine jedesmalige Verlegenheit, Dein Erröten, Dein zerstreutes, vergeßliches Wesen, wenn er bei Dir ist . . . Nichts ist mir entgangen. Ich könnte noch mehr sagen. Liebe plaudert aus den Augen und dringt durch den Handschuh.«
»Du hast Dich betrogen. Vor Gideon flöhe ich ins Grab.«
»Nun ja doch, Ihr hattet, merk' ich, Händel mit einander. Liebe will Streit gehabt haben.«
»Liebe!« rief Epiphania mit Empörung ihres ganzen Wesens und unverstelltem Grausen, »Nenne das ja nicht Liebe, Addrich, es wäre eine wahre Lästerung des Heiligen. O, wenn das Liebe ist, so habe ich nie meinen Vater, habe den guten Fabian nie, habe keinen Menschen noch lieb gehabt. Es ist das nicht Liebe, es ist Sinnverblendung, Seelenbrand, fieberhaftes Betrübtwerden, böse Glut, die Mark und Bein durchzieht. Hüte Dich vor Gideon, er treibt verbotene Künste! Er kann, wie sehr ich mich auch sträube, mich an sich ziehen; er kann meinen Willen nach seinem Gefallen bannen und mich zu seinem Eigentum machen, wie er will. Dann aber schreiet durch die Verwirrung meines Gemütes die Stimme meines Schutzgeistes: Es ist Sünde, es ist Sünde!«
»Rede deutlicher, Mädchen! Ich verstehe Dich nicht.«
»Hast Du noch nie gehört, wie boshafte Gesellen durch Liebestränke, durch einen Bissen Brotes, den sie unterm Arm getragen, oder andere gottlose Zaubermittel eine Jungfrau um den Verstand bringen und wie einen Hund von sich abhängig machen können, daß die Behexte im Schlaf und Wachen keine Ruhe findet und an einem innern Brand sterben muß?«
»Aus wieviel hundert Altweiberstuben hast Du doch Deine närrische Wissenschaft zusammengeschleppt! Entschlage Dich des Unsinnes. Ein schönes Haus muß kein Lumpen-Magazin sein, und ein gesunder, frommer Sinn, wie der Deine, nicht vor dem Gerümpel des Aberglaubens Schildwacht stehen.«
Indem er dies mit Unwillen und Lachen sagte, ließ sich an der Thür leises Pochen hören und er ging, nachzusehen. Änneli stand draußen und sprach: »Mir graut, mit Leonoren allein zu sein. Sie redet aus dem Schlafe wunderliche Dinge. Darf Fania nicht neben mir wachen?«
Addrichs Miene zog sich plötzlich wieder finster zusammen. Er winkte Epiphania und sie gingen insgesamt zur Kranken.
Die beiden Mädchen schwebten so leise wie ein Schatten in Leonorens Gemach hinein. Der Alte ließ die dickbesohlten Nagelschuhe vor der Thür stehen. Von dem Tischchen am Bett ergoß die brennende Lampe bleiche Strahlen durch das Zimmer. Die Mädchen setzten sich in einen Winkel enge zusammen, als wollten sie durch größere Nähe einander stärkeren Mut machen. Addrich trat zum Bette. Das Erbeben seiner breiten Brust und seiner Achseln verriet die Tiefe des Seufzers, der sich ihm entwand, während er den großblumigen Bettvorhang, der das Antlitz seiner Tochter verschattete, sanft zurückstreifte.
Sie lag da mit geschlossenen Augen, wie ein Gebilde von Alabaster, auf welches ein mattrötliches Licht fällt. Sie atmete sichtbar; jedoch die starre Ruhe ihrer schönen Züge verkündete den Bruch des Geistes mit einem Leben, in welchem sie nichts mehr ansprach und berührte. Als wäre die Welt für diese Augen von jeher licht- und luftlos und für diese Ohren von jeher stumm gewesen, so kalt und abgeschlossen war jede der eingesunkenen, unbeweglichen Mienen.
Addrich zog sich nach dem Fenster zurück, stützte die Arme auf das Gesims und legte sein Gesicht in die flachen Hände. Es herrschte eine lange, schauerliche Stille, als wäre mit Leonoren alles Leben auf Erden vergangen. Die beiden Mädchen saßen, mit auf die Brust gesenkten Häuptern und gefalteten Händen, in betender Stellung da.
Dieser peinliche Zustand mochte fast eine Viertelstunde gewährt haben, als Änneli und Epiphania zugleich horchend die Köpfe emporhoben. Sie vernahmen vom Bett her die Lippen der Kranken flüstern. Epiphania eilte dahin und legte ihr Ohr an die Lippen, wandte sich aber gelassen und ernst wieder nach ihrem Platze und sagte leise zu der Gesellschafterin: »Sie beginnt gewiß wieder mit ihrem Gesange.«
Es scheint, daß Addrichs Tochter das Opfer einer jener Krankheiten wurde, welche noch heutigen Tages durch ihre wunderbaren Erscheinungen den Verstand der Zuschauer in Erstaunen setzen und die Kunst der Ärzte zur Verzweiflung bringen. Das alte Griechenland dankte denselben Aussprüche der Götter durch den Mund der Priesterinnen Apollons und Jupiters; aber die an den Wasserflüssen Babylons entarteten Kinder Israels erkannten in denselben nur Schelmenstreiche des Satans. Weil die Christen den jüdischen Sauerteig für unerläßlichen Zusatz zum reinen Brote des Lebens hielten, mußte sich auch Addrichs Tochter gefallen lassen, im Volk als eine vom bösen Geist Besessene zu gelten. Die Sagen, welche über Addrich umgingen, schienen dies noch mehr zu bestätigen, als die mutlosen Verzichtleistungen der Ärzte, die der Vater weit umher vergebens angerufen hatte, auf Rettung seiner Tochter. Würde Addrich, nachdem er sich von den Priestern Äskulaps verlassen sah, die ehrwürdigen Väter Kapuziner eines benachbarten Klosters zu Hilfe gerufen haben, um den Teufel zu beschwören, so wäre er in Stadt und Land vielleicht wieder zu dem guten Ruf gekommen, Religion zu haben. Er hatte jedoch dieses Mittel verschmäht, nicht eben, weil er zur Kirche Zwinglis gehörte, denn solchen Glauben bewahren viele evangelische Bauern im Gebirge auch heute noch, wie damals, als einen geheimen Glaubensartikel. Doch Addrich schien von Grund aus ein arger Freigeist zu sein. So blieb denn die unglückliche Eleonore in der Meinung des großen Haufens als eine Besessene verschrien, während sie im väterlichen Hause für einen Engel gehalten wurde, der zuweilen Überirdisches ausplaudere, oder doch nichts Geringeres zu sein schien, als einst Priams weissagende Tochter Kassandra dem Altertum.
Ihr anfänglich leises Geflüster hatte, wie es bei dieser Krankheit zu den gewöhnlichen Erscheinungen gehört, nach und nach hörbaren Ton angenommen; er erklang jedoch so leise, daß man ihn kaum deutlich wahrnahm. Gleich den sanftberührten Glocken einer Harmonika, deren anfangs kaum vernehmbarer Laut unter dem steigenden Druck des Fingers unmerklich bis zur Erschütterung der Nerven anschwillt, so wurde die Stimme der Schläferin allmälig zu einem milden, zwischen den Lippen summenden Gesange, eine Weile unverständlich, zuletzt heller und deutlicher, mit bestimmt gegliederten Tönen und Worten.
Die Todesstille der mitternächtlichen Stunde und die matte Beleuchtung aller Geräte und Verzierungen des Zimmers von dem Scheine der kleinem Lampe vermehrten das Grauenhafte eines Gesanges, der unwillkürlich aus der Brust der Schlummernden hervorzukommen schien. Die Stimme war unaussprechlich weich und süß, wie ein zartgehauchter Flötenton, aber die Sangesweise schwermütig und einförmig. Man verstand zuletzt folgende Worte:
Am Himmel schweben Fahnen, Am Himmel, blau und weiß, Sie schweben lange Bahnen Herab zur grünen Reuß. Aar schüttelt breite Schwingen Wo soll ich alle finden, Sie zieh'n den roten Bogen, |
Die letzten Silben verhallten fast, ehe sie den Weg zu den Ohren der Horchenden zurücklegten; die folgenden blieben ganz unverständlich; die Töne selbst wurden immer matter, bis sie sich endlich wieder in das unhörbare Gelispel der Lippen auflösten, mit dem sie begonnen hatten.
Änneli fragte ihre Nachbarin flüsternd: »Hast Du alles verstanden? Sie redete von Krieg und Blutvergießen. Wenn die Toten singen, steht der Welt großer Jammer bevor; und ist Loreli nicht eine wahre Tote?«
»Sei still!« erwiderte Epiphania. »Vielleicht vernehmen wir mehr.«
Wirklich, es ließ sich abermals das leise Gelispel von Eleonorens Lippen hören, das nach mehren Minuten hörbar, zu Gesang und Worten wurde. Derselbe stilldurchdringende süße Klang der Kehle, wie vorhin; dieselbe wehmütig einförmige Sangesweise. Man vernahm folgende Worte:
Vom rosafarbenen Munde Erlischt die Lebensglut, Die Jünglings-Purpurwunde Betaut das Gras mit Blut. Zu spät eilt Deine Hilfe, Aus ist Dein Licht geblasen, Auf ewig zog von hinnen, Ruft Dich der Freudenbote Was ringest Du die Hände |
Nach dem letzten Worte stieß die Singende einen kurzen, aber gellenden Schrei aus, so daß alle mit Entsetzen zusammenfuhren und aufsprangen. Selbst Addrich erbleichte vom Schrecken. Sie nahten der Kranken insgesamt mit ängstlicher Hastigkeit. Eleonore lag, wie vorher, schlafend da, aber über ihr Gesicht war ein warmes glänzendes Rot milde verbreitet, Es entschwand ihr ein langer tiefer Seufzer, und ihre Mienen verklärten sich darauf zu einem unaussprechlich angenehmen Lächeln. Es war das Lächeln des Entzückens, dem Siegeslächeln einer vom Irdischen gelösten Seele ähnlich, welches im Augenblick des Todes auf Wangen und Lippen des Leichnams geprägt zurückbleibt. Ihr schwaches, aber regelmäßiges Atmen verkündete indessen bald, daß sie aus dem ungewöhnlichen Zustande in einen natürlichen Schlaf übergegangen sei.
Dieser Anblick beruhigte die Erschrockenen, da man die wechselnden Krankheitserscheinungen kannte. Mitternacht war vorüber. Epiphania erbot sich, bis zum Morgen zu wachen; Addrich und Änneli entfernten sich getrösteter.
Das graue Licht des anbrechenden Tages fiel durch die kleinen runden Scheiben des Doppelfensters, und erhellte einigermaßen das Krankenzimmer, in welchem das rote Lampenflämmchen unscheinbar fortbrannte, als Ephiphania zitternd zusammenfuhr. Sie fühlte eine fremde Hand über ihr Gesicht gehen, als sie eben, bei ihrer nächtlichen Arbeit am Spinnrade, vom Schlummer überrascht worden war. Ihr Oheim stand reisefertig vor ihr: an der Seite ein Schwert, im breiten Ledergürtel über den weiten Pluderhosen zwei glänzende Radpistolen, vom grauen, gesteppten Wams halb verdeckt. Nachdem er vernommen, daß Eleonore mehrere Stunden gewacht und einige Erquickungen zu sich genommen habe, küßte er Epiphanias Stirn, erinnerte sie ihres gestrigen Gelübdes, und versprach, käme er nicht selbst zurück, zeitweise Nachrichten zu senden.
»Addrich,« sagte seine Nichte, »Du gehst böse Wege, Wege des Blutes.«
»Kind, der Weg des Rechts in dieser verwilderten Welt ist ein Waldweg und kein Gartenpfad. Es müssen von Zeit zu Zeit rechtschaffene Männer zusammenstehen, um durch Dickicht und Gedörne eine Straße zu bahnen.«
»Addrich, hast Du die Weissagungen dieser Nacht vergessen? Es waren Schwanengesänge von tiefer Bedeutung.«
»Wohl Schwanengesänge,« seufzte der Alte, »vielleicht die letzten Töne dieses schönen, sterbenden Schwanes, die ich hörte. Willst Du mein Joseph sein und mir die Träume deuten, aus denen Loreli sang?«
»Auf eine Zeit der Freude und Lust deutete der Trauersang gewiß nicht.«
»Du hast recht. Ich erwarte keine Freude mehr unterm Himmel; aber ich möchte sie noch andern bereiten helfen. Lebe wohl, laß Dir nicht grauen. Du bist wohlbewacht. Versüße meinem Kinde die letzten Tropfen im Leidenskelche mit dem Honig Deiner Liebe.«
Er reichte ihr die Hand zum Abschiede, beugte sich dann über seine schlummernde Tochter, küßte leise ihre bleiche, eingesunkene Wange und ging eilig davon. Drunten gab er den versammelten Knechten und Mägden noch einzelne Anweisungen. Die Hunde bellten fröhlich und sprangen an ihm empor, Er stieß sie jedoch zurück und ging einsam, längs dem Waldgebüsch, thalabwärts.
Es war ein Sonntagmorgen. Hin und wieder erscholl von entfernten Kirchen das Geläute der Glocken; sie riefen jedoch nicht zur Andacht, sondern zum Landsturm. Zuweilen vernahm das Ohr dumpfen Trommelschlag und den schrillenden Ton der Querpfeifen.
Addrich schritt gedankenvoll und eilend über die Ebene hinweg bis Gränichen, am Ausgang des Kulmerthales. Schon von weitem war ihm ein wildes Geschrei, Getummel, Jauchzen, Rufen und Lärmen entgegengedrungen. Das Dorf wimmelte von bewaffneten Bauern. Hier schwang einer die Fahne seiner Schützenschaft, dort wurden verworrene Haufen in Reihen geordnet; einige säuberten ihre Handbüchsen, andere wetzten verrostete Säbel. Diese beratschlagten ernst; jene tranken einander aus Feldflaschen zu, oder fochten scherzweise zusammen. Das dichteste und bunteste Gedränge aber war vor dem Wirtshause, es war einem Bienenkorbe zu vergleichen, dessen Schwarm ausziehen will. Addrich, der in diesem Hause die Anführer der Haufen oder die Vorsteher der Gemeinden vermutete, gelangte nicht ohne Mühe, durch das Gewühl der Kommenden und Gehenden, in eine der überfüllten Wirtsstuben.
»Wo sind die Hauptleute?« fragte er die Nächsten von den Umstehenden, aber keiner derselben achtete seines Wortes.
Addrich drängte sich nach dem Innern des Zimmers durch, er wurde jedoch bald wieder von einem Haufen zurückgedrängt, der einen der Tische umringte und seine Aufmerksamkeit einem fremden jungen Menschen zuwandte Dieser verzehrte hier ganz gemächlich und mit nicht geringem Appetit seine Morgensuppe, und versuchte dazwischen den vor ihm stehenden Wein, ohne sich um die Zuschauer zu bekümmern. Der Jüngling mochte in der Mitte der Zwanzig stehen. Sein feines, fast mädchenhaftes Gesicht, welches noch keine Spur vom Anflug einer Leidenschaft zeigte, mußte Wohlgefallen erregen, und die unerschütterliche Ruhe darin ließ es ungewiß, ob das Unschuld oder die furchtlose Sicherheit sei, die dem Bewußtsein der innern Kraft entstammt. Sein braungoldenes Haar fiel ihm in langen Locken auf die Schultern nieder, daß er fast einem jugendlichen Johannes glich, wie ihn die Maler darzustellen pflegen. Als könne dies alles zu diesem Kopfe nicht gehören, so sonderbar und doch so gefällig stand dazu der gewaltige Gliederbau des Leibes, die Breite der Schultern, die gewölbte Brust und die Stärke der Hände. Vermutlich hatte aber weniger die Gestalt als die städtische Kleidung des Jünglings die argwöhnische Neugier der Umstehenden erregt. Auf dem Tische lag ein braunes Sammetbarett. Über den blauen, zurückgeworfenen, kurzen Mantel und das gelbe, reich gestickte Wamms breitete sich ein feiner, ausgezackter Halskragen vom zartesten Linnen. An den faltenreichen Beinkleidern, da wo sie sich enge um's Knie schlossen, fehlten nicht die seidenen Schleifen; auch ein handbreiter, kragenartiger Ansatz ging, nach damaliger, vermutlich den Niederländern nachgeahmter Sitte, unter dem Knie her, und eine engere Fortsetzung der Beinkleider bis über die Waden schloß sich daran an.
»Benz, ist er nicht taubstumm, so soll er das Maul aufthun. Man muß dem Hafen den Deckel abnehmen!« sagte einer in Addrichs Nachbarschaft.
»He, Bursch,« schrie einer, der zunächst am Tische stand, dem jungen Menschen zu, »gieb Rede und Antwort. Wir begehren zu wissen, von wannen und wohin? Wie, wo und wann? Rede!«
Der junge Mann sah ruhig auf und antwortete, »Gut, ich rede wie, wo und wann's mir beliebt.«
»Du Milchbart meinst, der erste April sei vor der Thür?« erwiderte der Frager. »Ich mag des Narren Narr nicht sein, und kann dieser Zunge wohl Beine machen.«
»Frage klüger, so antworte ich gescheiter« entgegnete der junge Mensch und goß sich den letzten Wein ins Glas. »Gelt, Du möchtest erfahren, ob ich von Aarau komme? Ob ich Aufträge habe? Ob ich thalaufwärts will? Hast alles erraten.«
»Zeige, ob Du Schriften bei Dir hast, denn Sehen geht über Hören,« versetzte der Wortführer. »He, Ihr Leute, wer unter Euch kann Schriften lesen? Zieht ihn über den Tisch hervor; untersucht den Burschen!«
»Legt keine Hand an mich, Ihr könntet Euch in die Finger stechen,« sagte der Jüngling, setzte das Barett auf, und erhob sich von der Bank.
Erst jetzt konnte ihn auch Addrich erblicken. »Halt, Ihr Männer!« rief dieser und drängte sich zum Tische. »Keine Uebereilung! Es ist Fabian von der Almen, einer von den unsrigen, darauf verlaßt Euch, der uns bald unentbehrlich sein wird. Er soll Arzt und Wundarzt bei unserem Heere sein. Es wird nicht an Arbeit fehlen, zerschossene Beine und zerbrochene Köpfe wieder zusammenzuflicken.«
»Laß ihn in Frieden, laß ihn!« riefen jetzt mehrere. »Der Mooser kennt ihn; das ist genug. Wir müssen einen Doktor haben.«
Der Jüngling reichte dem Addrich freundlich die Hand zum Gruß über den Tisch hin und sagte zu den Bauern: »Ihr Leute, wüßte ich's nicht voraus, es sei einerlei, ob ich zu Euch spreche, oder zum tauben Ohr eines Waldbaches, der über die Felder hinausbricht, so würde ich raten, auf meine Kunst am wenigsten zu rechnen, sondern lieber auf der Stelle gegen die künftigen Hieb-, Schuß und Stichwunden das einzige und wahre Schutzmittel zu suchen.«
Addrich, der Fabians Hand noch in der seinigen hielt, zog ihn an derselben zu sich über den Tisch herüber, unzufrieden mit der Rede des Jünglings, die neuen Lärm erregen konnte.
»Sappermost!« schrie ein langer Kerl, dem ein gewaltiger Schnauzbart und ein paar breite Narben ein fürchterliches Ansehen gaben. »Mich soll der Moloch vor Euren Augen in zehntausend Stücke zerfetzen, wenn der Kamerad nicht recht hat. So lange ich meine Gemskugel im französischen Regiment bei mir trug, konnte keine Batterie mir etwas anhaben. Wir haben aber jetzt den rechten Mann unter uns. Mooser, versorge uns alle gut. Wir wissen, Du bist der Rechte; Du kannst es.«
Sämtliche Anwesende richteten ihre Blicke mit Neugier und zum Teil mit heimlichem Grausen auf Addrich, der allen, wenn nicht von Person, doch dem Namen nach durch das Gerücht bekannt war.
Mit finster zusammengerunzeltem Gesicht erwiderte Addrich dem neuen Redner: »Ich verstehe Dein Gedolmetsch nicht.«
»Alle hunderttausend Teufel, Mooser, verstelle Dich nicht,« schrie der abgedankte Soldat. »Wir kennen Dich wohl. Du kannst, wenn's sein muß, aus dem Mantel fahren, wie in einem Segelschiff; weißt die Passauer Kunst meisterlich auszuüben, daß man in Scharmützeln oder Treffen gefroren und ganz eisenfest gegen den Hieb steht, selbst wenn der Degen vorher in warmes Brot gesteckt worden, oder vom Stichblatt bis zur Spitze ganz vergoldet gewesen wäre. Oder lehre uns nur – das kannst Du gar wohl – vierundzwanzig Stunden vor'm tötlichen Gewehr gesichert zu bleiben. Das ist ein Kapitalstück in Schlachten, täglich drei freie Schüsse zu haben, daß, ohne zu zielen, die Kugel läuft, wohin man denkt, wäre auch nicht zu verschmähen.«
Addrich unterbrach den Schwätzer, indem er rasch, wie im Zorn, zu ihm hintrat, die Hand erhob und mit bedeutungsvollem Tone rief. »Schweige! Davon zu anderer Zeit, Du alter Stocknarr! Solche Dinge werden nicht in offener Landsgemeinde abgethan.«
Der Soldat verbeugte sich, ohne ein Wort zu sagen, mit halbem Leibe sehr ernsthaft gegen Addrich, aber seine Geberde verriet Pfiffigkeit, und daß er den Wink wohl begriffen habe. Indessen wandte sich Addrich wieder zu Fabian mit der Frage: »Wohin eigentlich willst Du?«
»Mein Weg ging zu Dir in's Moos,« sagte der Jüngling.
»So habe ich ihn Dir um die Hälfte verkürzt,« versetzte Addrich. »Begleite mich nach Aarau. Wir wollen dahin voraus, ehe der ganze Zug geht.« Mit diesen Worten begaben sich beide durch das Menschengedränge aus dem Zimmer. Die Leute wichen, geräumige Gassen bildend, scheu zurück, und sahen dem alten, finstern Schwarzkünstler aufmerksam nach, indem einige dabei den Kopf schüttelten, andere sich mit dem Finger verlegen hinter'm Ohr kratzten, wieder andere sich gegenseitig bedenklich zunickten.
Während im Wirtshause von Gränichen das Gespräch über die beiden Abgegangenen fortgesetzt wurde, wanderten diese zum Dorfe hinaus durch die feuchten Wiesen nach Suhr. Man bemerkte überall waffentragende Bauern, einzeln und truppweise, in Bewegung. Jedoch achteten die beiden wenig darauf, denn sie waren mit Gesprächen und ihren Gedanken allzusehr beschäftigt. Addrich, durch Erfahrung und Alter besser berechnend, als der Jüngling, verschob seine wichtigen Fragen und Angelegenheiten bis zuletzt, während hingegen dieser das zuerst vorbrachte, was zu erfahren es ihn am heftigsten drängte. Sobald man über Eleonorens Krankheit gesprochen hatte, sagte Fabian: »Also hat Deine Nichte gestern keinen fröhlichen Geburtstag gefeiert?«
»Allerdings! Es fehlte nicht an Geschenken, überbracht vom Morgen bis zum Abend; schöne Blumen zum Beispiel, und ein plaudernder Staar, der aber wieder davon flog . . .«
»Und nicht wieder gefangen wurde?« unterbrach ihn schnell Fabian.
»Alles Deine Schuld! Du kamst zu meinem Hause, wie ein Dieb in der Nacht, nur mit dem Unterschiede, daß Du nicht nahmst, sondern brachtest. Aber meinen treuen Hund hättest Du nicht töten müssen.«
»Also wurde ich von Renold erkannt? Er hetzte die Bestie; ich mußte mich meines Leibes und Lebens wehren.«
»Auch Deine Schuld! Wenn Du das Sonnenlicht scheuest, poche an in der Nacht, Dir wird im Moos aufgethan.«
»Ich konnte mich nicht verweilen. Gestern sollte ich schon vor Tagesanbruch in Aarau sein; dafür hatte ich das Ehrenwort zum Pfande eingesetzt. Der Sprung über ein paar Berge war ein geringer Umweg für Epiphanias Geburtsfest. Und dazu der verlobte Bräutigam im Hause, der noch nie mein Freund gewesen. Also in der That, Addrich, sie ist Renold's Braut?«
»Ihm erst halb und halb anverlobt.«
»Möge er ihr wenigstens den halben Himmel zutragen, den sie ihm ganz giebt. Ich kenne ihn nicht, diesen Renold, doch Epiphania liebt ihn. Sie ist mit ihm in die Einsamkeit der Berge gewandelt, wie ehemals mit mir, ohne an seiner Seite den schneidenden Wind der Höhen zu empfinden; in die Verborgenheit der winterlichen Gebüsche, die seine Gegenwart ihr zum Frühlingsgarten verwandelte; er hielt die Heilige an seiner Brust . . . O ich weiß alles, alles habe ich erfahren, alles. Ihre Liebe entsündigt und adelt jeden vor Erde und Himmel; und wäre er ein Bösewicht gewesen, durch sie wird er rein wie ein Engel. Ich kenne ihn nicht genau genug, diesen Renold. Vielleicht lag in seiner Natur nichts Feindseliges, als nur gegen mich, oder ich sah sein Thun mit den Augen der sich selbst nicht bewußten Abneigung an. Vielleicht würde ich ihn lieben, wenn ich ein Weib wäre, denn wahrhaftig! er ist schön. Einem gefälligeren Manne bin ich noch nicht begegnet. Nur schien er zuweilen allzu geckenhaft-zierlich und fremd, sowohl im Ausputzen seines Leibes, wie in den Einkleidungen seiner Gedanken, in gesuchten, geschwülstigen Worten. Das aber sind Kleinigkeiten.«
»Sprich ehrlich, Fabian. Liebtest Du vielleicht Epiphania ernsthaft?«
»Ob ich? . . . Welche Frage! So lange ich atme . . . doch deute meine Worte nicht falsch.«
»Du hattest also keine Absicht auf sie?«
»Keine, als die der Bruder haben kann. Bei ihr ist für mich alles anders, als bei andern Weibern, aber keine ist ihr zu vergleichen, wenn sie auch alle schöner wären. Ihr gegenüber verstummt die Neigung und Geschlechtsbegierde. Ich hätte mich der Sünde geschämt, ihre Hand zu begehren. Sie war und ist für mich nicht ein weibliches Wesen, sondern sie ist und war mein Leib, mein Blut. Hast Du je gehört, daß ein Mensch sich selber begehre, obgleich er nicht aufhört, sich zu lieben?«
Dies Gespräch spann sich so lange fort, als der Weg nach Suhr dauerte. Nahe vor dem Dorfe aber wandte sich Addrich mit seinem Begleiter links durch die Wiesen gegen die langen, finstern Waldhügel des Gönhard, um nicht in das Getümmel der Landstürmer zu geraten, die sich im Dorfe versammelten. Fabian hatte indessen, was er zu wissen wünschen konnte, erfahren: die Sendung des Junkers Mey von Rued, Epiphania zu entführen; die Sendung des Weibes von Seon mit den köstlichen Geschenken des Unbekannten, und dem Auftrage desselben, Epiphania zu bewegen, nach Aarau zu ihrem Paten zu gehen.
»Nun denn,« sagte Addrich, als sie einen sandigen Fußweg zwischen den Tannen am Berge hinanstiegen, »die Zeit wird's offenbaren, warum man aller Orten geschäftig ist, mir das Kind zu entreißen.«
»Damit Du die Schuldlose nicht in Dein trauriges Schicksal verwickelst, Addrich, denn Du wirst für den Rädelsführer dieses Aufstandes im Aargau gehalten. Darum war ich auf dem Wege ins Moos. Ich konnte es nicht, wollte es nicht glauben. Deine Anwesenheit in der Mitte der Rebellen von Gränichen, Deine kriegerische Rüstung, Dein Ansehen unter den wilden Menschen dort haben mich unglücklicherweise eines anderen belehrt.«
»Unglücklicherweise?« rief Addrich erstaunt und betrachtete den Jüngling, ob er scherze. »Woher kommst Du? Aus den Kerkern in Bern? Haben die den letzten Funken des Mannesmutes in Dir ausgelöscht, daß Du sogar der Fürsprecher der schweizerischen Knechtschaft werden willst? Oder haben sie Dir so wohlgefallen, daß Du Deinen gnädigen Herren und Obern dafür dankbar werden willst? Fabian, warst Du im Kerker?«
»Ich wars.«
»Schuldig oder unschuldig?«
»Schuldig oder unschuldig, wie mans auslegt. Ich sehe darüber weg. Ich lebte in der Gefangenschaft glücklich mit dem Staar, den ich für Epiphania abrichtete. Dem Thoren kann das Weltall enge, frommem Mut das Gefängnis zum Weltall werden.«
»Ganz gut. Aber die Schande, aber die Schmach?«
»Addrich, das solltest Du doch wissen, daß der Marmelstein des Palastes so wenig Ehre, als die salpeterzerfressene Mauer des Kerkers Schande abfärbt.«
»Brav, Barsche, Du bist wieder der Alte in meinem Geiste. Warum wurdest Du eingesteckt? Wir hörten viele sich widersprechende Geschichten.«
»Jetzt ists ein Jahr. Als ich einige Wochen in der Heimat war, berief man mich zur kranken Kammermagd des Landvogts, ihr Heilmittel anzuordnen. Als ich vergangenen Herbst abermals in die Heimat kam, wurde ich vor das Chorgericht gefordert. Das lügnerische Weibsbild hatte mich als Verführer angegeben; sagte es mir frech und weinerlich sogar ins Gesicht; wiederholte es selbst in den Wehen. Der Landvogt, ein hochfahrender, heftiger Mann, der mich meines Widerspruchs wegen aufs Schloß rufen ließ, wurde im Wortwechsel so ungestüm, daß er mir ins Gesicht schlug. Da zog ich ihm zur Vergeltung, in Gegenwart aller Schreiber, Weibel und Amtsboten, eine Maulschelle so derber Art um die Ohren, daß er fünf Schritte zurücktaumelte. Allerdings hatte ich gegen eine obrigkeitliche Person gefehlt.«
»Das ist Berner Art. Darauf mußtest Du ins Loch wandern, bis Dir die Zeit lang wurde und Du aufbrachst?«
»Nein, Addrich! Das Weibsbild starb an den Folgen seiner Entbindung und erklärte im Tode meine Unschuld. Der Sohn des Landvogts war ihres Kindes Vater. Die Berner sind gerecht. Der Landvogt selbst wurde von Stunde an mein Fürsprecher; ich wurde von aller Strafe und Schuld losgesagt. Der Urheber meiner Gefangenschaft dachte edel genug, selbst zu mir ins Gefängnis zu kommen und mir Versöhnung und Freundschaft anzubieten.«
»Und diese heuchlerische Milde und Gerechtigkeit, dies schwächliche Kind der Angst vor dem wachgewordenen Grimm und Stolz des Volkes hat Dich bethört, geblendet, bestochen, geworben für Bern? Weil sich ein armseliger Junker gnädigst herabließ, einem Ehrenmanne, den er mißhandelte, das Unrecht einzugestehen, findest Du die Tatzen des Bären weich, die gefühllos ein ganzes Volk in den Staub drücken?«
»So wenig, Addrich, daß ich vielmehr mein am Thurnersee neuerkauftes Heimwesen wieder veräußern, der Willkür entrinnen und ins Land des Markgrafen von Baden ziehen will.«
»Warum nicht lieber Deinen Arm in diesen Tagen dem Volke gegen den Städterhochmut leihen?«
»Ich leihe ihn – wahrlich! – der Niederträchtigkeit so wenig, als dem Hochmut.«
»Bursch, achte Dein Volk, das für sein Recht in Waffen steht! Auch die Verzweiflung kann ehrwürdig sein.«
»Wie die Raserei.«
»Also leuchtet es Deinem Verstand wohl ein, daß es sich mit der Gerechtigkeit vertrage, wenn selbstsüchtige Hinterlist die uralten Gerechtsame der Dorfschaften nach und nach in Zweifel zieht, in den Kehricht wirft, weil Fäulnis, Moder und Mäuse die Pergamentbriefe zerfressen haben? Ists Recht, daß die Habgier der Stadt vom Regierergewerbe lebt, Münzwucherei treibt, Amtleute ins Land schickt, die sich wie Blutegel am Wohlstande des Volkes satt saugen; ists gerecht, wenn man den Junker für dasselbe Verbrechen mit einem sauren Seitenblick abstraft, wohl gar entschuldigt, für welches den Bauer Turm, Ketten, Folter und Galgen erwarten?«
»Nein, Addrich, aber von der andern Seite ists wohl ebenso ungerecht, wenn man das hündische Volk ebenso gegen Unschuldige wie gegen die Schuldigen hetzt; wenn man, um seine Wäsche zu trocknen, ein Dorf in Brand steckt, und wegen einiger irrigen Schritte der Obrigkeit tausendmal fälschere macht, welche Land und Leute auf ein Jahrhundert zu Grunde richten. Hütet Euch! Ihr wollt den Kreuzer gewinnen, und werft mit dem Thaler danach. Später dann bereut Ihr den verlorenen Thaler und setzet dafür die Dublone ins Spiel. Ihr kommt nie zu Ende, und setzet zuletzt alles gegen alles auf die trügerische Karte.«
»Nicht zuletzt, guter Freund, da stehen wir heute schon,« sagte Addrich hämisch lächelnd. »Wir wissen so gut als Du, daß das Blut und Geld, welches der Krieg kosten mag, mehr wert sind als der Widerruf eines bloßen Münzmandats. Aber nun wir einmal am Abrechnen mit der Stadtoberherrlichkeit sind, soll noch anderes gerechnet werden. Ein Rechtsstand, wie er vor Gott und aller Vernunft gilt, muß wieder hergestellt und das Schweizervolk frei werden, wie der Herr in der Stadt. Die Söhne der Telle in den kleinen Kantonen und im Land der Graubündner, ja, die sind frei. Wird Dein Herz nicht weit bei dem bloßen Namen der edlen Freiheit?«
»Allerdings, Addrich, aber es zieht sich wieder enge in sich zusammen beim Anblick Eurer Mittel. Die kleinen Kantone und Graubündner kaufen ehrlich, um bares Geld, fremde Rechte an sich; Ihr aber kaufet, wie Straßenräuber beim Krämer im Walde, mit dem Messer in der Faust, und wollet den Teufel zum Fürsprecher machen, daß Ihr in die Himmelspforte eingehen könnet. Dazu biete ich nun und nimmer meinen ehrlichen Arm.«
»Nach Deiner Meinung sollen wir also höflich danken, Fabian, wenn die Berner uns das Fell über die Ohren ziehen, weil sie es gebrauchen? Nein, und abermals nein! Bursche, alles hat sein Maß. Es giebt ein Recht unterm Himmel, das ist nicht mit dem Stammbaum gepflanzt. Es gehört den Menschenkindern von Ewigkeit und ist von keinem Menschenkinde weder zu geben, noch nehmen.«
»Täusche Dich nicht, Alter, schaue Deinen Leuten ins Gesicht. Kennst Du das Volk, das jetzt am rührigsten bei der Hand ist? Ich habe es gesehen. Die Ehrenleute, die stillen, fleißigen Eigentümer, schütteln zu Eurem Unternehmen den Kopf, oder lassen ihn betrübt hängen. Aber die Lumpe, welche von der Hand in den Mund leben, die aus ihren Häusern Gesetzten und Bankerotten, die guten Wirtshauskunden, die mehr Kupfer auf der Nase als im Sack haben, abgedankte Soldaten, die aus fremdem Kriegsdienst liederlicher heimkommen, als sie gegangen waren; die Würfel- und Kartenmänner mit zerrissenen Hosen, alle, die wohlfeil gewinnen möchten, heben das Haupt steif und trotzig empor; und Kerle, denen man sonst in guter Gesellschaft das ungewaschene Maul verbot, führen jetzt das große Wort. Und was wollen sie gewinnen? Meinst Du, die öffentliche Wohlfahrt? Nein, wahrhaftig nicht! Ihre leeren Säcke und Körbe sind schon hervorgeholt, um Geld und Waren der geplünderten Stadtleute darin heimzutragen. Sie bereiten Schwefelfäden für die Häuser ihrer Gläubiger, damit Kaufbriefe und Zinsverschreibungen in Rauch aufgehen. Leute wie Du und Deinesgleichen müssen lediglich die Deckel ihrer Räuberei sein.«
»Und wenn Du recht hättest,« erwiderte Addrich ärgerlich, »dennoch muß es gethan sein. Doch Du hast nur zu einem Fünftel recht. Der reinste Strom führt Schlamm mit sich, und jede Arznei hat ihr Widerliches. Gehe, Fabian, unsere Bahnen laufen nach entgegengesetzten Richtungen.«
Nachdem beide die Gründe ihres Verstandes erschöpft hatten, verschmähten sie sogar das Mittel nicht, sich durch Drohung und Verheißung zu gewinnen, denn Fabian, seit seinem Knabenalter an den finstern Addrich und dessen Haus gewöhnt, konnte den Oheim und Pfleger Epiphanias nicht mit Gleichgiltigkeit in das gewisseste Unrecht oder in das wahrscheinlichste Verderben rennen sehen. Er schilderte ihm dieses, sowie Eleonorens und Epiphanias Los. Er gestand, daß er sich aufgemacht habe, ihn entweder für gerechtere Gesinnungen umzustimmen, oder Epiphania zu bereden, unter dem Obdach ihres Taufpaten Zuflucht zu suchen. Addrich aber begegnete dem allen und bewies ihm das Vergebliche der gehegten Hoffnungen. Er scheue keine Gefahr, die ihm persönlich drohe, und Epiphania werde sich nicht von der sterbenskranken Freundin entfernen, da sie das Gelübde gethan, sie nicht zu verlassen. Schließlich versuchte er selbst das letzte Bestechungsmittel gegen den Jüngling. Er zeigte ihm Epiphanias Hand als Preis.
»Die hast nicht Du, Addrich, sondern sie selbst anzubieten,« rief Fabian mit Unwillen. »Sie selbst aber, die so fromm und rein ist, kann sich nicht zum Lohne der Schlechtigkeit hingeben. Wenn sie es aber könnte, wenn sie es könnte . . . o nein, warum sollte ich das Unmögliche ins Reich der Möglichkeit stellen? Ich aber würde lieber die Hand einer Aussätzigen, als eine solche Hand berühren. Warum bietest Du sie mir? Kannst Du einem Bruder das Herz der Schwester schenken oder entfremden? Sie ist Renolds Verlobte; sie liebt ihn . . . . Nun ja doch; sie liebt ihn. Ich verliere sie darum nicht. Geschwister lieben sich anders als Gatten.«
»So lebe wohl!« sagte Addrich. »Doch will ich Dir den Schmerz nicht verbergen, meinen Weg ohne Dich gehen zu müssen. Das ist aber mein Los: was ich liebe, muß von mir abfallen, und alles, was ich hasse, wird zur Klette, an meinem Leben saugend. Ich bin von Natur gut; aber die besseren unter den Menschen fliehen scheu vor mir zurück, und als wäre ich ein Magnet für alles Schlechte, so hängt sich mir dieses ewig an.«