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In dieser Zeit seines tiefsten häuslichen und geschäftlichen Kummers sah Hans plötzlich die Morgenröte einer neuen Zeit. Das soziale Kaisertum kündigte sich an. Nacheinander wurde die Welt von einer Reihe bedeutsamer Ereignisse erregt: Die Ernennung eines neuen Ministers für Handel und Gewerbe, die Veröffentlichung des Gesetzentwurfes über die gewerblichen Schiedsgerichte und Einigungsämter, endlich die sozialpolitischen Erlasse des jugendlichen Kaisers, der mit seiner Machtfülle die losgelassenen Leidenschaften der Massen bändigen und die Arbeiter mit dem Thron eng verknüpfen wollte, indem er eine internationale Sozialreform anregte. Was Hans im Kleinen gewollt, das übernahm jetzt im Großen der Kaiser, das Reich. Das wahrhaft liberale Bürgertum und die Regierung vereinigten sich mit den Arbeitnehmern zum gemeinsamen Werk und harmonischen Ausgleich der Gegensätze und feierten einen Triumph über die rohen Ausschreitungen der Begehrlichen wie über die blinde Ichsucht der Besitzenden. Heller schüttelte freilich dazu seinen weißen Kopf und begriff sehr wohl, daß auch der gewaltige Reichskanzler die Verantwortung für ein Unternehmen nicht tragen wollte, das sich so weit im Nebel verschwindende Grenzen steckte. Und als zu Hans' tiefstem Schmerze der treue Pilot das Staatsschiff verließ und die internationale Arbeiterschutzkonferenz, von den meisten Staaten Europas beschickt und von allen als eine That des Völkerfriedens gefeiert, ein bloßer Austausch von Gedanken blieb, eine lediglich persönliche Verständigung der Delegirten über den Frauen- und Kinderschutz in den Fabriken, da atmete der alte Spinner erleichtert auf, denn ihm bangte davor, daß die Bewegung der Massen die Industrie zu ungeheuren Opfern heranziehen und zum Stillstande bringen und die lange Kulturarbeit zerstören könnte.
Auch in der Charlottenburger Spinnerei spürte man die gewaltige Wirkung der angebahnten Sozialreform. Die stürmische Arbeiterversammlung bei Zeiseler hatte zunächst die Folge, daß fast alle Weiber von den Spinn- und Haspelsälen sich bereit erklärten, die Arbeit mit der gewährten Lohnerhöhung wieder aufzunehmen. Also ein entschiedener Erfolg, wenn auch mehr von moralischem als praktischem Werte. Die noch ungehaspelten Garnvorräte waren bald aufgearbeitet, so daß man beim Stillstande der Spinnstühle schon nach wenigen Tagen die Frauen wieder nach Hause schicken mußte. Zum Glücke gelang es endlich, einige Spinner aus Österreich neu einzustellen, und ein Drittel der Fabrik in Betrieb zu setzen. Da die Polizei nun schärfere Saiten aufzog, so vermochten die Strikenden nicht, die Zugezogenen gewaltsam von der Arbeit abzuhalten. Im Vorstande gab es stürmische Auftritte, und man warf sich gegenseitig vor, in den Strike gehetzt zu haben. Auch die Unterstützungsgelder flossen spärlicher. Hinnen-Lotz triumphierte. Kein Zweifel, die Ausständigen pfiffen auf dem letzten Loch und ihre bedingungslose Wiederaufnahme der Arbeit stand bevor.
Statt dessen brannte am nächsten Sonntag Abend die Fabrik nieder. Als der Nachtwächter mit der Kontroluhr in der umgehängten Ledertasche den ersten Gang durch die Fabrikgebäude Schlag neun antrat, wurde er durch einen auffallenden Brandgeruch erschreckt, der aus dem Battage zu kommen schien. Ohne einen Augenblick die Geistesgegenwart zu verlieren, eilte er ins Treppenhaus, hing sich den amerikanischen Löschapparat auf den Rücken und spritzte dessen ganzen Inhalt in den rauchenden Saal. Die Ladung, die sich jüngst noch bei einem Versuche Fabians vorzüglich bewährt hatte, verpuffte jedoch ohne nachhaltige Wirkung, und immer mehr griff die Glut um sich. Nun eilte der Wächter zum Feuermelder und allarmierte die Bewohner der Hofgebäude. Hitschold und Jakob waren in den Zirkus, und nur Hans, der Spinnmeister, Fabian und die Hausknechte eilten herbei. Sie stürzten sich alle mit Todesverachtung in das brennende Gebäude, und ihren Anstrengungen gelang es zwar, größere Garn- und Baumwollvorräte zu retten, aber die Fabrikspritze erwies sich schon als ohnmächtig, und als die Feuerwehr mit brennenden Fackeln durch das Thor rasselte, waren die oberen Stockwerke ein einziges Feuermeer. Der mit Öl getränkte Boden brannte gleich mürbem Zunder, und das noch auf den Maschinen liegende Garn und die Baumwolle flogen wie leuchtende Feuerwerkskörper durch die Luft und verbreiteten die Glut in alle Teile der Spinnerei. Die Feuerwehr erkannte bald, daß die Fabrik selbst nicht mehr zu retten sei, und war nur noch darauf bedacht, das Feuer einzuschränken und die Nebengebäude, vor allem die Weberei und die Wohnhäuser zu sichern. Das entfesselte Element wütete die ganze Nacht, und die aufgehende Wintersonne beleuchtete ein grauenvolles Bild der Zerstörung. Von der Spinnerei standen kaum mehr die Grundmauern aufrecht, und in einen rauchenden Schutthaufen war das Dach, die ganze innere Einrichtung und alle Maschinen verwandelt.
War Hans schon durch den Ausbruch und die lange Dauer der Arbeiteinstellung tief betrübt, so traf ihn dieser neue Schlag noch schmerzlicher. Seinem braven Herzen machte es alle Ehre, daß er nicht sogleich an die Folgen des Ereignisses für sich und die Firma dachte, sondern zuerst in den Ausruf ausbrach: »Was wird nun aus meinen Arbeitern!« Vergessen war ihre Undankbarkeit, ihr Kontraktbruch, ihre trotzigen Forderungen – er sah nur ihre Not vor Augen. Auch der alte Heller war außer sich. Nur der Generalkonsul bewahrte einen wunderbaren Gleichmut. Lästig seien jetzt nur die Scherereien mit der Polizei und besonders mit den Assekuranzgesellschaften, die bald genug mit ihren Inventaren und Schätzungen im Hof erschienen und von jedem verbrannten Gegenstand den Nachweis in den Büchern verlangten, da das Kontor unversehrt geblieben war.
»Das Unglück ist für uns ein wahrer godsend,« sagte der Generalkonsul vertraulich zu Hans. »Offen gesagt, ich war schon länger in einer so peinlichen Lage, daß mir schon der Ausstand willkommen war. Was Dir und Heller damals ein Unglück schien, erkannte ich als ein Glück. Die Garnpreise sind so niedrig, daß die Spinnereien nur mit Verlust arbeiten. Lieber also den Betrieb einstellen, wenn es auf diese für uns ehrenvolle Weise geschehen kann. Es war mir auch nur erwünscht, daß ich keine Baumwolllieferung mehr zu bezahlen habe. Nun aber liegt die Sache klipp und klar. Hat schon der Ausstand mir einen trefflichen Grund geliefert, um unsere Verbindlichkeiten zu stunden, so thut es die neue Katastrophe noch viel besser. Wir treffen ein Übereinkommen mit unseren Gläubigern und kassieren unterdessen die Ausstände unserer Schuldner und die ungemein hohen Prämien der Feuerversicherung ein.«
Hans fand diese Aussichten viel weniger rosig. Es schien in der That Schoßkinder des Glückes zu geben, die niemals untergingen. Freilich durfte man dabei kein großes Feingefühl besitzen ...
Aber noch am nämlichen Tage traf den Spieler das Unglück mit voller Wucht. Ein Herzschlag raffte ihm die Gattin hin. Da sie seit jenem ersten Anfalle das Bett nicht mehr verlassen, so kam ihr Tod nicht unerwartet. Lothar beweinte die zärtliche Mutter aufrichtig und vergaß sie schnell, sein Vater aber blieb anscheinend kalt und fast gleichgültig, doch mitten in seinen Kombinationen erwachte der Gedanke an sie immer häufiger, und oft überraschte er sich jetzt dabei, daß er sich zärtlich der Todten, eines gemeinsamen Erlebnisses, eines Ausspruchs von ihr erinnerte. Wie oft hatte er über ihre geschäftliche Unkenntnis gelacht, ihre Ängstlichkeit und Klagesucht verspottet, jetzt erschien ihm alles in einem rührenden, wehmütigen Lichte. Wohl ironisierte er sich nach leichter Berliner Art selbst und meinte, es wäre das bloße Bedauern einer verlorenen Gewohnheit, aber der Schmerz saß tiefer und lähmte seine Energie. Er verlor den Appetit und Schlaf, magerte ab, nicht einmal die Upman schmeckte ihm mehr, und er gab das Rauchen ganz auf. Er hatte die Lebende nie geliebt, aber nun liebte er die Todte.
Unterdessen forschte die Polizei nach der Entstehung und Ursache des Brandes und vernahm nach einander die Eigentümer und Angestellten der Fabrik. Ganz bestimmt sprach der Spinnmeister von einer offenbaren Brandstiftung. Vielleicht sollte sie die Antwort der Umstürzler auf den kaiserlichen Erlaß sein, denn lieber wollten sie ja auf jede soziale Reform verzichten, als solche wie ein Geschenk aus der Hand ihres Todfeindes, des heutigen Staates, entgegennehmen. Die Strikelustigen. meinte er auch, sahen durch die teilweise Wiederaufnahme der Arbeit ihre Absichten vereitelt, und so mochte in der ruchlosen Seele eines Verhetzten der Gedanke geweckt worden sein, den Sieg der Unternehmer zu verhindern, die abtrünnigen Genossen um ihr Brod zu bringen und die Bourgeoisie zu erschrecken. Diese Begründung schien der Polizei glaubhaft, und so wurden nun auch die Arbeiter ins Verhör genommen. Ein wichtiger Fund brachte ein neues Licht. Im Brandschutte fand sich ein halbzertrümmertes Kästchen mit einem Uhrwerk. Der Polizeikommissar erklärte es sofort für eine sogenannte Thomasuhr, und der anwesende Fabian erkannte sie als sein Eigentum, das ihm vor unbestimmter Zeit aus seinem Hausrate entwendet worden sein mußte. Er gab nach einem Blick in das Werk das sachverständige Urteil ab, daß die Uhr bis zu ihrer Explosion etwa zehn Stunden im Gange war, was einen wichtigen Anhaltpunkt bieten konnte.
»Welche Besuche empfingen Sie in den letzten Tagen?« fragte ihn der Beamte.
»Ich photographierte im Fabrikhofe mit meiner Tochter Lene,« war die Antwort, »aber nur der Kardenschleifer kam zur Aufnahme seines Bildes.«
Wie auf ein Stichwort trat nun Herr Hinnen-Lotz vor ... »Pinzger und sonst keiner ist der Brandstifter. Wir können es alle bezeugen, daß er beim Ausbruch der Stricke mit Dynamit drohte und die Anarchie hochleben ließ.«
Eine Stunde später wurde der noch immer lustige Tiroler in Zeiselers Durststillstation festgenommen.
Fast zu gleicher Zeit stürmte die lange, hagere Gestalt des Barons von Berkow in den Fabrikhof. Er war in höchster Aufregung und erkundigte sich schon am Thore bei den Hausknechten danach, ob das Baumwolllager auch abgebrannt sei. »Um so besser,« rief er aus, als die Frage verneint wurde, und dem verwunderten Hans zeigte er einen roten Frachtbrief, wie sie in den Seehafen als Anmeldung eingelaufener Waaren an den Eigentümer versandt werden.
»Ist diese Baumwolle wirklich nicht verbrannt?« fragte er atemlos.
Hans sah nach der Firma des Absenders und dem Zeichen der Ballen. »Nein,« antwortete er, »sie konnte nicht verbrennen, weil sie längst zu Garn versponnen und verkauft ist.«
Der Freiherr sah sich nach einem Stuhl um. Es war keiner im Hof. Den Angstschweiß auf der Stirne. ließ er sich also auf eine leere Kiste nieder, die Janko noch kurz vor dem Brande mit seinem JL&K ganz ohne Schablone aus freier Hand bemalt hatte. In stockender Rede erzählte er, daß der Konsul ihn vor einigen Wochen um 20 000 Mark gebeten habe, wofür er eine gleichwertige Partie Baumwolle verpfändete, indem er ihm eben diesen Lagerschein als Quittung und Sicherheit übergab. Hans erbleichte, denn statt des originalen Konossements war es nur ein wertloses Duplikat desselben. Während nun der Baron die ihm verpfändete Baumwolle in Hamburg auf Lager glaubte, war sie vom Konsul herbeordert, versponnen und zu Geld gemacht worden. Und diesen schnöden Vertrauensmißbrauch, diesen frechen Betrug mußte Hans um der Ehre seines Hauses willen vertuschen!
»Seien Sie ohne Sorge, Herr Baron, das Geld ist Ihnen gutgeschrieben und kann jeden Augenblick an unserer Kasse behoben werden. Wenn Sie gestatten, sende ich es Ihnen morgen früh gegen dieses Konossement zu.«
Unter tausend Danksagungen entfernte sich Adelheids Vater, und Hans überlegte mit bangen Sorgen, wie er seine Verpflichtung erfüllen könnte. Es hatte keinen Zweck, bloß zu leeren Vorwürfen den Konsul aufzusuchen, denn Deckung hatte er ja doch keine. Auch seinen Schwiegervater wollte er nicht ins Geheimnis ziehen und ihm das Verbrechen seines Onkels verbergen. Aber da erinnerte er sich, daß er Wicky in der ersten Zeit seiner Ehe auf langes Drängen eine prachtvolle Brillantengarnitur geschenkt. Er mußte sie wieder haben, der Juwelier gab gern zwanzig Tausender dafür.
Wicky hatte sich von ihrer Krankheit viel schneller erholt, als es ihr Arzt erwartet hatte, immerhin bedurften ihre Nerven noch größter Schonung. Sie hatte sich den Genuß des Morphiums abgewöhnt und in einer guten Stunde die Spritze selbst in ihres Gatten Hand gelegt. Aber als die Langeweile ihres Boudoirs sie wieder umgab, kamen die bösen alten Gedanken wieder. Zwar blieb ihr Gatte infolge der Arbeiteinstellung jetzt wieder öfter zu Hause, allein es war ihr unmöglich, an seinen Bestrebungen teilzunehmen, seine Sorgen mitzufühlen, die Kämpfe seines Lebens mitzukämpfen. Wie anders plauderte es sich mit Lothar, dessen Geschmack und Liebhabereien sie so wohl verstand und teilte! Nach und nach verzieh sie in Gedanken dem unbesonnenen Kavalier, der sie damals in die fatale Lage gebracht, und dies um so mehr, als das Gericht sich mit der kommissarischen Vernehmung einer Zeugin, die sich an gar nichts mehr erinnerte, gerne begnügte. Und so kam es, daß der aus ihrer Nähe verbannte Leutnant ihr wieder in besserem Licht erschien, und daß sie eines Tages ihren Gatten bat, wenn er sie wieder gesund sehen wolle, doch den zerstreuenden Gesellschafter zu Tisch einzuladen. Das Innerste empörte sich ihm dagegen, aber sie bat so inständig, sie schien so verändert, so lebensdurstig, daß er sich nicht als Barbar zeigen mochte. Im schweren Lebenskampfe, den sie nicht zu bestehen hatte, war seine Energie abgestumpft und erlahmt, und so hypnotisierte ihr ungebrochener Wille den Gatten wie den Geliebten.
Lothar erschien also wieder in der Villa.
Das Unglück hatte ihn gebeugt. Der Abschied von der Armee wurde ihm schwer. War er ein guter Offizier gewesen? Ja und nein. Ihm fehlte der kriegswissenschaftliche Drang, der Adel der Gesinnung, der ideale Begriff seines Berufes von Ehre und Pflicht. Die Ritterlichkeit, die Tapferkeit, den Patriotismus besaß er vollauf. Auch in ihm lebte der Gedanke, daß Deutschland nun Eins geworden und Eins bleiben müsse, und jeden Augenblick war er bereit, sich von einer Granate in Stücke reißen zu lassen und mit dem Ruf: »Es lebe der Kaiser!« sein Leben auszuhauchen. Ach, damit war es nun vorbei! Das Opfer seines Lebens erschien dem Vaterlande zu schlecht, es verschmähte seine Kraft, seine Jugend, sein Schwert, und vor ihm lag eine vernichtete Laufbahn, ein verfehltes Leben. Was sollte er nun beginnen? Sein halb ruinierter Vater hatte sich am Sterbebette der Mutter mit ihm versöhnt, aber konnte ihm nicht mehr helfen. Beide sahen sie ein, daß er ins Geschäft nicht taugte und sich nimmermehr an das eintönige Kontorleben, an eine anhaltende strenge Thätigkeit gewöhnen könnte. Blieb nur noch die Selbstverbannung in irgend eine Kolonie. Dort im heißen Afrika brauchte das Vaterland noch deutsche Schwerter. Hatte er seine Festungsstrafe abgesessen, so war es wohl das Beste, unterm Äquator einem vergifteten Pfeil oder schlimmstenfalls einem hitzigen Fieber zum Opfer zu fallen ...
Hans war also nicht erstaunt, den armen Burschen auch heute bei seiner Frau zu finden. Die Blumen in der gläsernen Veranda standen herrlich in Blüte, während draußen noch immer die kahlen Äste und Zweige sich in den grauen Himmel des Nachwinters streckten. Aber warm und freundlich war es in der eleganten Ecke, wo der Leutnant auf dem Schaukelstuhle saß und Wicky auf der Causeuse ausgestreckt war. Er war heute wieder einmal gedankenvoll und schwermütig, und sie begründete es neckend damit, daß ihn ohne Zweifel der allerneueste Skandal so sehr niedergeschlagen habe: die Gewißheit, daß Miß Leona vor ihren Börsengläubigern nach Amerika durchgebrannt war und ihren Geliebten, Mister Burslem, mitgenommen hatte. Ach, was fragte er noch nach der heuchlerischen Zirkusreiterin! Nach all den gefälligen Weibern, die er gekannt, nach seiner Verheiratung mit der herben Jungfräulichkeit Adelheids, die ihn anfänglich so sehr gereizt, mußte wohl Wickys kalte und doch pikante Schönheit ihn fesseln, aber nicht diese geistlose Rechenmaschine mit ihrer versteckten, abscheulichen Liebe zu dem krummbeinigen Satyr. Wicky war das echte moderne Weib, wie er es sich dachte, ein Nervenbündel ohne Blut, ein Kunstprodukt, ein Luxusgegenstand, ein reizendes Nichts. Sie wollte das Leben auskosten und war doch zu blasiert, krank und schwach dazu. Sie wollte den Männern die Köpfe verdrehen, angebetet werden wie ein Fetisch und war doch leer und lieblos, ohne Leidenschaften und nur voll widerstrebender Gelüste und Instinkte. Die Weltstadt hatte ihre Liebesfähigkeit zerstört. Er durchschaute sie und wußte, daß der Gedanke, ein Gegenstand der Lust zu sein, ihr unerträglich war, auch wenn sie dadurch die Herrin des Mannes wurde. In dieser Fabrikantentochter lebte noch etwas von dem trotzigen Stolze des Proletariergeschlechtes, dem sie entstammte. Die dunstige Fabriksphäre, worin schon ihr Großvater verkümmert war und ihr Vater sich mühsam zu einem menschenwürdigen Dasein emporgerungen, hatte ihr Blut verdünnt und verdorben. Mit Hochmut, Ekel und Verachtung sah sie auf die Arbeiter ihres Gatten herab, und doch gehörte sie im Grunde mehr zu ihnen, als sie dachte. Sie war plebejisch in ihrem Denken und Fühlen.
Hans war zu erregt, um in den nichtigen Plauderton zu verfallen, hinter dem Lothar und Wicky ihren ewigen Kampf vor sich und der Welt verbargen, und ohne lange Umschweife bat er seine Frau, ihm das Geschmeide zu zeigen. Sie schien etwas verwundert und ließ es durch die rundliche kleine Französin mit den greisenhaften Zügen und der kinderblonden Perücke holen. Beide Männer bewunderten die Weiße und das Feuer der großen Edelsteine, doch Hans sagte ernst und bestimmt: »Wicky, Du mußt Dich von dem Schmucke trennen. Wir brauchen dringend Geld, viel Geld, es ist eine Ehrenschuld, die Ehre unseres Hauses steht auf dem Spiele.«
»Schon wieder die verwünschte Firma!« rief sie bitter, warf das Geschmeide ins Kästchen zurück und hielt schützend die Hände darüber. »Meine Million habe ich Dir gegeben und verschmerzt. Eine Närrin wäre ich, Dir auch dies noch zu opfern« ...
»Sei verständig, habe ein Herz!« bat er dringender. »Sobald wir wieder bei Kasse sind, erhältst Du schönere Brillanten! Du rettest uns vor der Schande. Du mußt es thun, hörst Du?« Er schrie es mit Thränen in der Stimme und hatte schon die Hand nach dem Kästchen ausgestreckt, aber sie schob es schnell unter ihr Kopfkissen. »Wicky, rette uns vor dem Zuchthaus!« Jetzt lachte sie nicht mehr, denn seit sie selbst mit der Polizei zu thun hatte, verstand sie keinen Spaß damit.
»Retten? Dich etwa?«
»Nein?«
»Wen denn?«
»Jemand von unserer Familie.«
»Wer ist's?«
»Ich kann es nicht sagen.«
Sie sah den furchtbaren Ernst in seinen sanften Zügen, die der Kummer verzerrte. Nein, er log nicht. Es war etwas Schweres. Wem galt es wohl? Ach, gewiß war wieder die verwünschte Spinnerei an allem schuld. Sie hatte schon oft von betrügerischem Bankrott, von Wechselfälschungen, Unterschlagungen gehört. Gewiß ein Angestellter von drüben, aber nein, er sollte ja zur Familie gehören! Ach, dieser Arbeitervater da betrachtete ja alle bis zum Ansetzerjungen herunter als seine Familie. Lächerlich!
»Wicky, es ist für eine uns nahestehende Person, ich wiederhole es!«
Ihre Selbstsucht kämpfte noch mit ihrer Blasiertheit, und diese unterlag schon halb. »O meine Nerven!« jammerte sie, aber es half nichts, denn Hans bestand darauf. »Lothar soll entscheiden!« rief sie, herzlich froh, einen Ausweg gefunden zu haben. »Nicht wahr, ich thu' es nicht? Wenn Sie mir den Schmuck absprechen, Kousin, mag ich sie gar nicht mehr sehen.«
Der Leutnant hatte als stummer und beinahe unbeteiligter Zuschauer diesem Auftritte beigewohnt, und es war ihm unangenehm, mit hineingezogen zu werden. Auch ihn hatten die Ereignisse der letzten Wochen abgestumpft. Er war kaum mehr fähig, über sich selbst einen Entschluß zu fassen, und da sollte er nun plötzlich den weisen Salomo spielen! ... »Ich danke für das Richteramt,« sagte er, »ich bin schon Angeklagter genug.«
»Lothar,« beschwor ihn Hans, der die Möglichkeit eines günstigen Einflusses schwinden sah, »ich bitte Dich, entscheide. Ich wiederhole, es handelt sich um ein Glied unserer Familie, das eine uns alle entehrende Handlung begangen.«
Holla! Das war ihm doch bedenklich, aber sein Leichtsinn gewann die Oberhand. »Lasse mich mit meiner Familie in Ruhe,« sagte er mürrisch. »Sie kann mir auch nicht helfen.«
Wicky lachte triumphierend und legte beide Arme unter ihren Kopf und auf die Schatulle.
»Wicky, Lothar!« beschwor er sie wieder. »So rettet mich doch! Man hat einen Betrug verübt, worauf Zuchthaus steht, eine Fälschung, um eine drückende Schuld zu bezahlen. Es ist entdeckt worden. Ich gab mein Wort, es muß bezahlt werden.« Doch Lothar spielte gleichgültig mit einer Quaste des Lehnstuhls, und Wicky umschloß das Kästchen fester, und da setzte er dumpf und mit gesenktem Blick, als schämte er sich seiner frommen Lüge, hinzu: »Der Betrüger bin ich!«
Das war unerwartet. Seine Frau schrie auf, denn so nahe glaubte sie die Schande, das Verbrechen nicht.
»Schlimm!« bemerkte Lothar kalt. »Aber wer ist der Geschädigte?«
»Dein Schwiegervater!«
»Bah, der klagt nicht. Die Sache bleibt also in der Familie!«
Wicky atmete erleichtert auf, aber Hans, als er mit Grauen sah, daß auch diese Selbstanklage ihn nicht rettete, platzte endlich heraus mit dem Geständnis: »Nein, es ist nicht wahr. Ich wollte einen anderen schonen, wenn ich auch selbst in Euren Augen sank. Ich habe Euch getäuscht. Es ist ganz anders. Der Betrüger bin nicht ich ... Lothar, rette Deinen Vater vor dem Zuchthaus!«
Jetzt sprang Lothar auf. »Hat er's angezündet?« fragte er mit aufgerissenen Augen. Hans war sprachlos. Also dessen hielt der eigene Sohn ihn fähig!
»Nein,« gab er zurück, »ein niederträchtiger Kniff, eine abscheuliche Vorspiegelung. Laßt mich nicht mehr sagen, ich beschwöre Euch!«
Lothar ließ sich vernichtet auf seinen Stuhl fallen und starrte vor sich hin. »Wicky, thue, wie es Dir beliebt.«
Sie aber warf einen mitleidigen und zugleich bewundernden Blick auf ihren Gemahl, der auf einmal wie ein erhabener Märtyrer groß und herrlich vor ihr stand. Dann gab sie ihm die Schatulle, und während er mit seinem kostbaren Schatz entfloh, warf sie sich auf ihr Lager und weinte bitterlich.