Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XI.

Das sogenannte Fischerhaus war vor etwa zwanzig Jahren, als Johannes Lenz die Liegenschaften seiner Spinnerei arrondierte, samt dem kleinen Gemüsegärtchen um ein Stockwerk erhöht und in ein Lagerhaus verwandelt worden. Nur ganz vorübergehend, da er in einem Augenblicke der Geldklemme sein bisheriges Wohnhaus, die Villa, durch Vermittlung seines Bruders an den Baron von Berkow verkaufte, bezog er die Zimmer zu ebener Erde so lange, bis das neue Wohnhaus gebaut war. Erst kurz vor seinem Tode hatte er das Fischerhaus für Arbeiterwohnungen eingerichtet. Als die Spinnerei wieder in Betrieb kam, füllte sich auch dieses Gebäude bis unter das Dach mit Bewohnern. Zu ebener Erde, wo der selige Herr gewohnt, richteten sich linker Hand der Spinnmeister und »sein Schreiber«, zur Rechten ihre Wirtschafterin Frau Fabian und Familie ein, von einander nur durch den mit Hausrat versperrten Flur getrennt. In den oberen Stockwerken wohnten die Saalaufseher und einige Spinnerfamilien, auch ein paar unverheiratete Arbeiter in Schlafstelle; aber weder der Schlosser-Nante, noch sein neuester Freund, der Tiroler Pinzger, hatten es lange in dem Bienenkorb ausgehalten, wo der schnüffelnde Hinnen-Lotz seine lästige Aufsicht weiter führte. Sie waren bald ausgezogen und freuten sich jenseit der einengenden Fabrikmauer ihrer Freiheit, besonders an jedem Sonntag und oft genug am blauen Montag.

Es war ein breites, vom Steinkohlenrauch der nahen Esse geschwärztes Haus mit grauen Läden und einer dunklen Treppe. Die ordentliche Frau Fabian, die gewissermaßen Herbergsmutter und Portierfrau spielte, kämpfte vergeblich mit Seife und Besen gegen den Schmutz und die wachsende Verwahrlosung. Die treppauf und nieder klappernden Holzschuhe nutzten die hölzernen Stufen ab, schmutzige Hände beschmierten die Thüren, Fenster und Wände, und dann welche Luft! Du lieber Gott, was war da zu thun? Wer von der Arbeit kam, konnte nicht geschniegelt aussehen und nach Patschuli riechen, und die Ölflecken und den Ruß nahm man von drüben mit, ohne es zu merken. Und wer wollte nun gar Arbeiterkinder an Ordnung und Sauberkeit gewöhnen! Sie durften nicht im Hof und Garten spielen, so trieben sie sich also in ihren freien Stunden auf der Straße oder im Haus herum, auf den Treppen, im engen Flur, auf dem Boden, überall, und wenn Frau Fabian sie noch so oft mit dem Besen in der Hand davonjagte.

Die meisten Angestellten wohnten außerhalb der Fabrik, in der Charlottenburger oder Moabiter Umgegend, ja bis hinaus zum Wedding und in den ländlichen Vororten, so daß sie die Arbeiterzüge der Stadtbahn benutzen mußten. Etwas näher, doch immer noch eine gute halbe Stunde von der Arbeit entfernt, hauste der Spinner Mila mit den Seinen, am Spreekanal stromaufwärts an der Schleuse, fast näher Spandau als dem Weichbilde der Hauptstadt. Es war ein neues, fünf Stock hohes Doppelhaus, das einsam in der Sandwüste zwischen der Jungfernheide und dem Charlottenburger Rennplatze stand und nur von Bahnbeamten und Arbeitern bewohnt war. Hundert Menschen und mehr lebten darin, Milas hatten eine Dachwohnung gemietet. In der Vorderstube schlief das Ehepaar, nur durch eine spanische Wand vom zweiten Bette der beiden Schwestern geschieden. Hugo lag nachts in der Küche auf seinem Strohsack, den er jeden Morgen vom Boden aufhob und in die Ecke trug. Den Frühstückskaffee tranken sie zu Hause, während das gleichzeitig gekochte Mittagbrod, meist Hafergrütze, Speck und Kartoffeln in Blechkannen in die Fabrik genommen, dort aufgewärmt und in der einstündigen Pause mit einem großen Stücke Kommißbrod verzehrt wurde, sei es in den Arbeitsälen selbst oder auf dem Hof, meist zusammen mit anderen Genossen, deren entfernte Wohnung ihnen ebenfalls das Nachhausegehen unmöglich machte. Es waren gute Leute, obwohl der alte Mila einen schwachen Charakter hatte und zum Leichtsinn neigte, aber die stramme, energische Mutter, deren Mundstück nicht einmal das gefürchtete böse Maul der roten Lise, der Hasplerin, gewachsen war, hielt mit schlagfertiger Hand und Zunge auf Ordnung. Trotzdem die Familie eigentlich nur nachts und Sonntags zusammen lebte und die elterliche Aufsicht infolgedessen mangelhaft war, blieben Marie und Lore brave Mädchen und von der Sittenlosigkeit unberührt, die in jeder von beiden Geschlechtern besuchten Fabrik zu herrschen pflegt. Die hübschen harmlosen Dinger konnten zwar einen derben Scherz wohl vertragen, aber die Grenze des Erlaubten ließen sie nie überschreiten. Sogar der allgewaltige Spinnmeister, der bekanntlich die Weiber »nicht fürchtete«, mußte mit den zungenfertigen Hasplerinnen den Kürzeren ziehen. Nach langem unbestimmten Schäkern hatte er die Gewissensfrage, ob er mehr der kleinen, lustigen Lore, Hugo's Zwillingsschwester, oder der schon etwas altjüngferlichen Marie zugethan sei, als ein neuer und verbesserter Paris dahin entschieden, daß er beide zugleich liebte. Indessen war es eine ziemlich undankbare und langwierige Freierschaft, denn die zwei Haspelmädchen waren spröde und erklärten ihm rund heraus, daß sie für vorübergehende Liebschaften nicht eingenommen seien. Auch legte eine jede von ihnen auf einen gemeinsamen Gang ins Standesamt ein besonderes Gewicht, – eine merkwürdige Vorliebe, die Hinnen weder begreifen noch teilen konnte.

»Aber so seid doch vernünftig, Kinde,« antwortete er pfiffig. »Der Standesbeamte ist ein so trockener, langweiliger Patron, daß ich Eure Leidenschaft für ihn gar nicht verstehe. Da hält der Herr einfach ein Buch zum Unterschreiben hin und spricht:

»Wollt Ihr einand',
So gebt Euch die Hand
Im Namen des Gesetzes.
So, jetzt het's es.«

Die verschmitzten Mädchen lachten zu dem Scherz, und der ganze Haspelsaal stimmte ein, so daß man die sausenden Räder eine geraume Weile gar nicht mehr vernahm, aber sie meinten, der Herr Pastor, der doch auch ein Wort mitzureden habe, werde mit seiner Traurede nachher schon Feierlichkeit in die Sache bringen, wenn es sein müsse. Doch von diesem Gottesmanne wollte der Spinnmeister, der ein arger Freigeist war, erst recht nichts hören.

»Ich weiß schon,« sagte er endlich, als er sich in die Enge getrieben sah, »ich weiß, worauf Ihr lauert, schöne Jungfern. Ihr wollt halt dem Herrn Hinnen-Lotz seine Freiheit nehmen, aber mit selbigem ist es nichts. Nach einer zehnjährigen Ehe unter dem scharfen Kommando der Frau Regel Hinnen née Lotz selig bin ich sehr gern ein paar Jährchen Wittling. Ich warte also lieber noch ein wenig, bevor ich meinem Jakob wieder eine Stiefmutter gebe.«

So brav und ordentlich die beiden Schwestern, so wild und ungezogen war ihr Bruder. Ein richtiges Berliner Proletarierkind. Da die Eltern und Geschwister stets in Fabriken arbeiteten, so war er mehr auf der Straße als im Hause aufgewachsen. Früh morgens eilte der Kleine auf klappernden Holzpantinen die immer zahllosen Stufen der elterlichen Wohnungen hinab, um in der Milchhalle und »Destille«, beim »Kaufmann« und Bäcker »einzuholen«, wobei er sich oft in Anleihen versuchen mußte. Dann gingen die Eltern und Schwestern in die Fabrik, indes er nach dem verhaßten roten Riesenhause der unentgeltlichen Gemeindeschule trabte. Seine einzige Erholung bot die Straße. Besonders an schulfreien schönen Tagen war es eine Wonne, zwischen den langen hohen Häuserzeilen »Himmel und Hölle« oder mit Murmeln und Reifen zu spielen, in den Rinnsteinen die Füße zu baden und selbstgeschnitzte Schiffchen von Stapel zu lassen, die Mädchen zu necken und über Betrunkene zu ulken, einen Spitzbuben zu verfolgen und kleine Aristokraten zu verhauen, den Zwist Erwachsener mit anzuhören, den Schutzmann zu überlisten, große »Schlachten« zu schlagen ... Die Straße war sein Jugendparadies, und wenn er jetzt in der dumpfen und lärmenden Fabrik daran zurückdachte, so wurde ihm ganz weh ums Herz, obwohl er sonst nicht sentimental war. Im Gegenteil. »Junge, sei helle!« Diese Mahnung hatte ihm sein Vater täglich wiederholt, und nach Kräften war er dem Winke gefolgt, um schlau, rücksichtlos, egoistisch zu werden, und Bescheidenheit, Zartgefühl, jeden kindlichen Glauben als hinderlichen Ballast über Bord zu werfen. Dennoch war in dieser verdorbenen Seele nicht alles schlecht. Er war nicht allein gewandt und gerieben, sondern auch fleißig und genügsam, und mitten aus seinem kecken Witz erklang oft ein wärmerer Ton, der nicht nur Leidenschaft, sondern auch Gemüt und vielleicht gar Sinn für Höheres verriet. Und nun war er nach jahrelangem Herumziehen durch alle Arbeiterviertel der großen Stadt mit den Seinigen nach Charlottenburg gekommen! Ein wütender Zorn war in ihm aufgewallt, als er schon von weitem die fensterreiche Breitseite der Spinnerei sah. Was sollte er mit seiner überschäumenden Jugend in diesem Gefängniß! Er ballte die Faust, als er durch das Thor schritt, aber durfte nicht einmal wünschen, keine Anstellung zu finden, denn wovon sollte die Familie leben? Und sie fanden Arbeit und er noch mehr: eine gleichalterige Kameradin mit einem zarten, bleichen Gesichtchen und großen, träumenden Augen, eine gutmütige, freundliche Gespielin. Eigentlich Schade, daß sie die lästigen Weiberröcke trug, die sie am Rennen, Klettern und Raufen hinderten. Gleichviel, er wollte doch mit ihr spielen und schlimme Streiche verüben und durchgeprügelt werden. Ja, schön gedacht, aber es kam anders. Wie schwer war es schon gewesen, die Widerstrebende zur gemeinsamen Rutschpartie auf der Rollbahn zu bewegen, und als es dann übel auslief, wie »pimplig« benahm sie sich da, ihrer Weiberröcke ganz würdig! Indessen verlor er die Geduld nicht. Sie ging auf manche seiner Launen ein, und er milderte seinen Übermut ihr zulieb. So waren sie gute Kameraden.

Täglich in der Mittagpause, wenn sie mit ihrem Vater ins Fischerhaus ging, am Feierabend im Sommer und Sonntags drängte er sich in ihre Nähe und erwies ihr tausend kleine Aufmerksamkeiten. Sie schlichen sich in den Schloßpark und fischten im Kanal, und den Fang teilte er zwischen seiner und ihrer Familie. An schönen Sonntagnachmittagen spazierten sie oft mit Vater Fabian in die Jungfernheide und bis zur Havel. Manchmal hieß er sie das kleine Boot besteigen, das der Spinnerei gehörte, und da war es eine Freude, wie gewandt er das einzige Ruder zu handhaben verstand. Sogar den Kanal aufwärts fuhr er mit einer gewissen Schnelligkeit. Im Anfange sah Frau Fabian diese Fahrten mit dem wilden Ansetzerburschen nicht gerne, denn ihr bangte vor einem Unglück, aber das Mädchen fand so viel Vergnügen daran und auch Hugo redete ihr so überzeugend alle Furcht aus, daß die Eltern es schweigend litten. Lene lernte sogar von ihm das Boot lenken, und bald regierte sie es fast so gut wie er selbst. Dann konnten die Leute, welche über die Holzbrücke gingen, den Kahn sehen, auf dessen Bank der schwarze Arbeiterbursche saß, während das Mädchen stehend mit dem Ruder die trüben Wellen teilte und zwischen den schweren Holz- und Kohlenschiffen dahin fuhr. Das letztere erforderte ein besonderes Geschick, denn oft folgten sich die Elb- und Spreekähne so dicht, daß kaum eine enge Wasserstraße für das schmale Boot frei blieb.

»Was würde bei einem Zusammenstoße geschehen, Hugo?« fragte sie einmal auf einer solchen Fahrt.

»Ein seitlicher Anprall schadet nicht viel,« erklärte er wichtig. »Das Boot wird einfach etwas unsanft fortgeschoben und kippt bloß, wenn die betreffende Seite belastet wird. Aber wer wird so dämlich sein! Gefährlicher ist ein Zusammenstoß mit dem Bug eines Schiffes.«

»Was wird dann?«

»Das leichte Boot geht aus dem Leim und sinkt mit Mann und Maus.«

In der Fabrik sahen sie sich selten. Wohl arbeiteten sie auf demselben Stockwerk, aber nicht im gleichen Saal. Er war bei den Selfaktors, und sie drüben in der mechanischen Wertstatt neben ihrem Vater. Nicht einmal in der Frühstücks- und Vesperpause sollte er zu ihr, denn der Spinnmeister hatte den Kindern das Herumlaufen strenge verboten. Das war überhaupt nicht sein Freund. Und doch war der Kleine ein ganz guter Arbeiter. Wie flink wußte er die zerrissenen Garnfäden mit einem bloßen Fingerdrehen wieder zu knüpfen und unter dem auf- und zuklappenden Spinnstuhl in einem einzigen Satz mit dem kurzen Besen entlang zu fegen! Ein Fehltritt, und er würde von der sich schließenden Maschine zermalmt. Aber das Herumstehen, Schwatzen und Spielen lag eben in seiner Jugend und brauchte nicht so unerbittlich mit Geldstrafen und Schlägen geahndet zu werden. Besonders zornig wurde der Spinnmeister, als er entdeckte, daß der Junge neuerdings immer öfter in die Schlosserei verschwand. Was hatte er dort zu suchen? Hinnen-Lotz ging ihm einmal nach und überraschte ihn, wie er neben Lene Fabian stand und Süßholz raspelte.

»Was machst Du da?«

»Man bloß nach der Uhr sehen.«

Natürlich ein Vorwand, aber auch der war strafbar. Also schnell eine Maulschelle. Und wie Fabian das gestatten könne. Von morgen ab habe Lene oben im Haspelsaale zu arbeiten. Dabei blieb es auch.

»Der nimmt noch ein böses Ende, das gibt Euch der Herr Hinnen-Lotz schriftlich,« sagte er zu den Eltern, als ob es sich um ein Kapitalverbrechen handelte.

Der Umgang mit dem guten Mädchen besserte wohl, änderte aber des Burschen Natur nicht, die oft nach langer Zurückhaltung nur um so stärker zum Ausbruch kam. Zu seinen vielen Fehlern gehörte auch die Rachsucht. Er vergaß niemals eine Kränkung, trug sie dem Beleidiger lange nach, und wenn er endlich seinem Hasse freien Lauf lassen konnte, war er von einer Bosheit und Grausamkeit, die kein Zureden der Freundin ändern konnte. Seit der Spinnmeister Lenen aus seiner Nähe verbannt, hatte er ihm Rache geschworen, die er einstweilen in gelegentlichem Schabernack befriedigte. Er warf aus sicherem Verstecke mit Brodkugeln, Schmutz und Steinen nach ihm, und als er eines Abends neben Janko's Farbtopfe stand und Hinnen-Lotz gerade vorbeiging, ergriff er schnell den Pinsel und spritzte über die schöne Troddelmütze einen schwarzen Sprühregen. Zu seinem Glücke bemerkte der Schweizer den Schaden nicht gleich, aber als Hugo ein andermal wirklich etwas Schändliches beging, ereilte ihn seine gerechte Strafe. Er war nämlich auch naschhaft, unehrlich und geldgierig. Da ihm die Eltern jeden Nickel Lohn abnahmen und er doch Taschengeld haben wollte, so hatte er sich einen abscheulichen Betrug ausgedacht, den er am nächsten Zahltag ausführte.

Kassierer Hitschold stand an diesem wichtigen Sonnabend Abend immer groß da. Während auf sein Glockenzeichen die Arbeit eingestellt und Fabrikräume und Maschinen durch die Arbeiter gereinigt wurden, rückte der lange Eidgenosse mit Hilfe des Lehrburschen einen Tisch an die Schranke, die einen engen Gang vor dem strenge verbotenen Buchhalterraum bildete. Auf diesem Tisch breitete er die das Geld enthaltenden papiernen Lohnbeutel, worauf Tage, Stunden, Akkordarbeit, Überstunden, Kranken- und Strafgelder aufgedruckt waren, genau nach dem Saal und der Reihenfolge. Waren diese Vorbereitungen erledigt, so begann der Vorbeimarsch der Arbeiter saalweise unter Anführung jedes Aufsehers, erst die Schlosserei, dann das Vorwerk, die Karderie, die Spinnsäle und zuletzt die Hasplerinnen, die Hausknechte und der Nachtwächter. Dann nahm Hitschold ein Geldpäckchen nach dem anderen feierlich vom Tische, las mit lauter Stimme den darauf geschriebenen Namen, und der oder die Gerufene trat vor und nahm aus seiner Hand den Lohn entgegen, einige mit lautem Dank, andere stumm und trotzig, als wäre es nur eine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Der Kassierer aber fühlte sich fast als Besitzer der Fabrik, und um keinen Preis hätte er je dies Ehrenamt versäumt oder abgetreten. Nicht einmal der Lehrling durfte ihm dabei helfen, und als einmal der Spaßvogel Hinnen-Lotz ihn zum Scherze vom Tisch verdrängte und einen Arbeiter aufrief, da war der Kassierer so schwer beleidigt, daß er ihm die alte Freundschaft aufsagte. Sonst hatte er nichts dagegen, wenn der Spinnmeister als stummer Zeuge und fast als sein Adjutant anwesend war, denn seine Gegenwart verlieh dem wichtigen Akt und ihm selbst einen Nimbus, der seinem Herzen wohl that. Das war dann die Revanche »seines« Schreibers.

Aber auch in anderer Beziehung war ihm Hinnen's Anwesenheit erwünscht: der Disziplin wegen, die der gefürchtete Mann mit einem Runzeln seiner Braue aufrecht erhielt. Denn hier und da wurden Einsprüche und Forderungen erhoben, die sofort gutgeheißen oder zurückgewiesen werden konnten. Bald hatte dieser oder jener eine versprochene Prämie in der Löhnung vermißt, bald waren die Stückarbeit oder die Überstunden unrichtig angeschrieben, bald sollte gar ein Rechenfehler vorliegen, natürlich zu Ungunsten des Arbeiters, denn zu Benachteiligungen der Fabrik schwieg man still. Da war es dann Hinnen, der Ordnung schaffte und ungeberdige Schreier zur Ruhe wies.

Diesmal aber, als die Spinnsäle ausbezahlt waren, kam der kleine Hugo Mila, die Mütze in der Hand, zurück, und indem er den geöffneten Lohnbeutel und das erhaltene Geld vorwies, sagte er zu dem Kassier: »Das stimmt nicht. Es fehlen an dem Gelde zwei Mark.«

»Unmöglich!« erwiderte Hitschold ärgerlich, denn er hielt sich für unfehlbar. »Die Geldbeträge sind doppelt nachgezählt und stimmen mit dem Kassabuch überein.«

Gleichzeitig brauste auch Hinnen auf, als er den verhaßten Ansetzer erkannte. »Schon wieder der Leckersbub!« rief er. »Wart, Du schwarzer Zigeuner!«

Hugo sah ihm frech ins Gesicht und wiederholte trotzig: »Es fehlen an dem Gelde zwei Mark. Ich will meinen Lohn haben.«

Hitschold hatte mittlerweile das Geld aus seiner Hand genommen und nachgezählt. Es fehlten in der That zwei Mark.

»Unterseckeln wir ihn, Hitschold,« sagte Hinnen-Lotz, und befahl dem Jungen: »Taschen raus!«

Hugo verstand das Kommando und kehrte das Futter seiner Hosen- und Rocktaschen um, doch nur ein Sackmesser, ein Kreisel und eine Brotrinde fielen zu Boden. Fast triumphierend sah er die beiden Schweizer an. Doch Hinnen kannte alle Kniffe der Arbeiter, und darum lächelte er auch unheimlich und befahl kurz: »Die Schuhe aus, Du Gallöri!«

Jetzt erbleichte Hans, und im nämlichen Augenblicke legte sich Hinnen's Hand schwer auf seinen Rockkragen und hielt ihn fest, während Hitschold und der Lehrling dem Widerstrebenden die Holzschuhe von den nackten Füßen rissen.

»Da sind sie!« jubelte der Kassierer und holte das Zweimarkstück aus dem Versteck, und des Spinnmeisters Faust fiel auf Hugo's Wange nieder, daß der Kleine bis an die Wand flog. Sein Mißgeschick wollte, daß gerade die Hasplerinnen in die Stube traten, und so waren Marie und Lore Mila und leider auch Lene Fabian Zeuginnen seiner Schande und der Züchtigung. Und die beiden Schwestern stürzten sich auf den ungeratenen Bruder und schlugen ihn mit ihren breitgearbeiteten Händen. Nur Lene schwieg, aber ein verachtender Blick traf ihn, und schmerzlicher fühlte er ihn, als alle Schläge und Schelte.

In den nächsten Tagen ging der kleine Bösewicht, der nur aus Rücksicht auf seine fleißige Familie nicht sofort entlassen wurde, der strengen Freundin wohlweislich aus dem Wege, denn er wußte, welche Moralpredigt ihn erwartete. Doch schon nach einigen Tagen konnte sie ihr Strafgericht nachholen. Hans hatte seinem Schwiegervater geklagt, daß bei jeder Leerung der Senkgruben große Mengen fortgeschleuderter Garne gefunden würden, und daß es weder ihm noch dem Spinnmeister bisher gelungen sei, die Thäter zu ermitteln. Heller war außer sich darüber, und als die Mittagsglocke schlug, stellte er sich in den Hof und versammelte die Arbeiter um sich.

»Kinder,« sagte er, »das ist grober Vertrauensmißbrauch und schlimm wie Diebstahl. Seid Ihr brave und ehrliche Arbeiter, so müßt Ihr zu stolz sein, um auf so hinterlistige Weise Euren Brodherrn zu schädigen. Ich will nicht wissen, wer das schwere Unrecht begangen, denn ich mag keine Angeberei. Die Thäter sollen das mit ihrem eigenen Gewissen ausmachen. Ich war auch ein Arbeiter wie Ihr, und bin noch heute stolz darauf, aber ich schäme mich Eurer, wenn solche Buben unter Euch sind. Denn der ist ein feiger Bube, der seinem Arbeitgeber Schaden zufügt. So und jetzt – Mahlzeit!«

Einige schienen Lust zu haben, einen Verdacht oder eine Anklage auszusprechen, aber Heller saß bereits wieder in seiner Droschke, und den Arbeitern blieb nichts übrig, als ins Innerste getroffen den Fabrikhof zu verlassen. Draußen hörte man noch ihre aufgeregten Stimmen und laute Verwünschungen gegen die unehrlichen Genossen.

»Hugo!« rief Lene Fabian, und bei ihrer Stimme erschrak der Junge, der eben scheu an ihr vorbei und aus dem Hofe schleichen wollte. Errötend stand er vor der Gemiedenen und blickte schuldbewußt zu Boden. »Du thust gut daran, mir auszuweichen,« sagte sie ruhig. »Mit einem Diebe will ich nichts zu schaffen haben. Ich wollte Dir man bloß sagen, daß ich auch weiß, wer das Garn verschleudert. Du und kein anderer!« Sie sah ihn mit ihren großen Augen scharf an, und er wagte es nicht zu leugnen. »Ich weiß auch, warum Du es thust,« fuhr sie nach einer Weile fort, und ihm war, als lese sie in seiner Seele. »Du willst den Spinnmeister ärgern, aber Du bist ein Dämelack. Der hat ja keinen Schaden davon und lacht sich eins. Aber unseren guten Herrn betrügst Du wieder. Und was hat er Dir gethan? Nur Gutes, denn Dir und den Deinigen gibt er Arbeit. Hab' ich nicht Recht?« Er nickte, und eine große Thräne rollte seine Wange herunter. »Es thut Dir also leid?«

Er nickte abermals.

»Und Du willst es nicht wieder thun?« »Nee,« sagte er mit erstickender Stimme, »aber Du sollst mir wieder gut sein, Lene.«

»Erst bessere Dich, und dann wollen wir sehen.«

Sie drehte ihm den Rücken zu und trippelte mit ihrem leichten, elastischen Kinderschritt über den Hof dem Fischerhause zu. Ihm war, als sollte er ihr nachspringen und sich vor ihr niederwerfen.

Von diesem Tag an wurde kein Gramm verschleudertes Garn mehr gefunden.


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