Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XIX.

Seit die Spinnerei am Moabiter Spreeufer wieder in Betrieb war, hatten auch die umliegenden Wirtshäuser gute Zeiten. Da blühte namentlich die Destillation des ehemaligen Bierfahrers Zeiseler, über deren Eingang die witzige Inschrift zu lesen war: Zur Durststillstation. Das dumpfe Loch in einem niedrigen, graugestrichenen Lehmhäuschen hart am Kanal erschien den Arbeitern, die da in der Mittagpause oder nach Feierabend oder Sonntags ihr Stehbier tranken oder ihre Partie spielten, wie ein Paradies. Zur Linken war das Büffett mit den ausgestellten Frühstücksleckerbissen, den betäubend duftenden Harzer und Emmenthaler Käsen, dem ausgetrockneten Pökelfleisch und Schinken, den von Fliegen umschwärmten sauren, Brat- und Rollmops-Häringen, daneben das Glücksrad zum Ausspielen der Getränke. Hinter dieser verlockenden Auslage amtierte die Familie Zeiseler, der gutmütige dicke Wirt, seine magere, giftige Frau, die meistens betrunken war, und ihre gemeinsame Tochter, ein freches fünfundzwanzigjähriges Ding, das sich, wenn die Gäste ausblieben, mit ihrer roten Trikottaille und weißen Schürze unter die Thüre stellte, um die Vorübergehenden hereinzulocken. Dies geschah namentlich an Sonnabend Abenden, wenn die Arbeiter mit dem Lohn in der Tasche nach Hause wollten. Dann wurde mancher von der blonden Grete angerufen, in ein Gespräch verwickelt und im Scherze zum Schanktische geschleppt, wo man ihn nicht eher frei ließ, als bis der letzte Pfennig durchgebracht war. Die Hinausbeförderung des Betrunkenen übernahm gewöhnlich der alte Zeiseler, doch boten ihm seine Damen dabei meist eine hilfreiche Hand. Besonders die Tochter hatte in der Kunst des Hutantreibens eine gewisse Fertigkeit erlangt.

Auch Herr Hinnen-Lotz gehörte zu den Stammgästen. Er wurde mit besonderer Ehrerbietung bedient, wie es seiner Stellung zukam. Für ihn war ein eigener Platz im Hinterstübchen reserviert, und Jungfer Grete spendete ihm ihr süßestes Lächeln. Natürlich hieß er immer »Herr Direktor.« Er war der einzige Kunde, der nicht ausgebeutet wurde, denn das Ehepaar fürchtete ihn zum Feinde zu bekommen, und als solcher konnte er leicht seinen Arbeitern das Lokal verbieten und ihr Geschäft zu Grunde richten. Er wurde daher wie ein Schoßhund gehätschelt und befand sich so gut dabei, daß er sein Abendbrot regelmäßig hier einnahm. Er kam meist in der Gesellschaft seines Schreibers Hitschold, der als »Herr Kassier« ebenfalls hochangesehen war, schäkerte mit Grete, die er natürlich in ihn verliebt glaubte, und spielte mit seinem Landsmann zahllose Kartenpartien, die sie »Jaß« nannten, und wobei sie nur ihr Schweizerdeutsch sprachen. Zeiseler's ergiebigste Stammgäste waren jedoch der Schlosser-Nante und besonders der fidele Pinzger, der stets mit einem »Juhu!« in die Kneipe trat, daß die Schnapsgläser und Fenster zitterten. Sie hatten beide ein schönes Einkommen, nicht für Weib und Kind zu sorgen und dachten auch nie ans Sparen. Vornehmlich auf den Tiroler, der leichtsinniger war, lauerte Grete am Zahltagabend. Er aß hier zu Mittag und Abend, freilich nur im allgemeinen Zimmer, aber da er sich seit kurzem in einer Hinterstube als Schlafbursche eingemietet, so konnte er sich als zum Hause gehörig betrachten und auch das Extrastübchen betreten. Er that dies sogar in Anwesenheit seines Meisters, was anfangs dem aristokratisch angehauchten Republikaner sehr wider den Strich ging. Doch war dieser nicht ohne Schuld an solcher Frechheit, denn in froher Weinlaune hatte er einmal den Kardenschleifer aufgefordert, mit ihm zu »jassen.« Dem Tiroler war das Spiel in der Schweiz bekannt geworden, und er verstand es so gut, daß er dem Herrn Direktor sogleich alle Partien abgewann. Nun durfte sich der Spinnmeister doch von seinem Arbeiter unmöglich besiegen lassen! Er spielte also in der Hoffnung auf die ersehnte Revanche wieder und wieder mit dem Untergebenen, der zu habsüchtig war, um ihm auch einmal einen Gewinn zu gönnen. Hinnen verlor immerfort, und nach jeder Partie haßte er den trefflichen Spieler noch mehr.

Eines Sonntag Abends, da er allein an seinem Stammtische saß – Hitschold war natürlich wieder im Zirkus – winkte er den Tiroler heran, der am Büffett mit dem Schlosser-Nante Schnaps trank.

»Schleifer,« rief er ihn an, »ich hab' eine Idee.« Er legte den Accent auf das I und sprach das zweite e aus. »Ein feines Schweizerspiel, Könnt Ihr panduren?«

»Na ob!« antwortete der Tiroler, der gern berlinerte, und bald wurde der Tisch von ihren Fäusten bearbeitet, nur daß sie diesmal statt »Iaß« dabei: »Pandur!« schrien. Aber Hinnen verlor eine Partie um die andere, wurde sackgrob und nahm endlich zu kleinen Glückskorrekturen die Zuflucht, gegen die der scharf aufpassende Pinzger sich entschieden verwahrte.

»Aber Herr Direktor, das ist gegen das Spiel!«

»Wa – was? Ich werde doch bei Euch nicht panduren lehren müssen?«

»Man muß erst lernen, bevor man kann lehren,« verbesserte der andere, den dieser Schnitzer des Eidgenossen jedesmal erheiterte.

»Ihr braucht mir weder das Schriftdeutsch noch das Kartenspielen zu ... lernen. So'n ungebildeter Mensch, der weder Lesen noch Schreiben kann!«

Während die beiden nach diesem Wortwechsel gemütlich weiter spielten, that am Büffett der Schlosser-Nante, der nie eine Karte berührte, mit der Wirtstochter schön. Doch obwohl er ein stattlicher Mann mit langem blonden Barte war, wollte sie nichts von ihm wissen.

»Ein Kunde, der an allen Straßenecken eine Braut hat!« rief sie aus. »Der fehlte mir gerade noch! Und Ihre neuste kenne ich auch schon. Sie denken wohl, ich habe Sie gestern Abend nicht zusammen am Kanal spazieren sehen? So 'ne Etepetete wie die kleine Mila, aber sie ist auch nicht besser wie unsereins.«

Der Riese hieß sie schweigen, denn da kam gerade der alte Mila mit seiner Tochter herein, und so gut verstand sie das Geschäft, daß sie dem eben verlästerten Mädchen mit katzenfreundlicher Artigkeit entgegenstürmte und sie in jedem Satze zehnmal »Fräulein« titulierte. Die Ankömmlinge setzten sich an einen Tisch, zunächst dem von anderen Arbeitern der Spinnerei umstandenen Büffett, und der Schlosser-Nante nahm neben ihr Platz. Daß Mila gekommen war, wunderte ihn nicht, wohl aber daß es ihm gelungen, die Kleine mitzubringen.

»Sie wollte erst nicht,« erklärte der Spinner, dessen dicke Nase seit einiger Zeit eine rote Färbung angenommen hatte, »aber Mutter ist mit der Großen in die Stadt. Ich habe Loren rumgekriegt, denn hier ist es doch feiner, als zu Hause Trübsal blasen. Hab' ich nicht Recht?«

Das hübsche Mädchen nickte fröhlich und zeigte dabei ihre blanken Zähne.

»Und wo ist Hugo?«

»Der dumme Junge schleicht natürlich wieder um das Haus der kleinen Fabian,« antwortete Lore dem Schlosser. »Sie kann sich von ihrem Fieber nicht erholen und mag ihn gar nicht wieder sehen. Der Cylindermacher läßt ihn auch nicht ins Haus, aber seine Frau gibt ihm Nachrichten von ihr.«

»Passen Sie auf, die werden doch noch ein Paar, und das sage ich!«

Lore wollte sich über des Schlossers Prophezeiung krank lachen. So'n dummer Junge und heiraten! Erst müsse er drei Jahre in die Kommißhosen. Und auch das Balg habe noch Zeit. Übrigens würden sie jetzt schon auseinander kommen, denn so bald Lene wieder gesund sei, gehe sie zu Frau Lenz in die Villa als Mädchen für alles, und da werde sie wohl noch hochnäsiger werden und bald die Arbeiter verachten. Unterdessen war die Weißbierkufe auf den Tisch gekommen, und Lore mußte den Anstich haben. Mit beiden Händen führte sie das gewaltige Glas an den roten, schwellenden Mund, aber das säuerliche, gärende Getränk schmeckte ihr nicht, und sie nippte kaum am Rande. Die beiden Männer lachten die Zaghafte aus, allein noch ehe der Vater ihr das Glas abnahm, um ihr zu zeigen, wie man die Weiße trinken müsse, hatte der Schlosser es ihm schon vor der Nase weggeschnappt, und genau auf die Stelle, die ihre Lippen berührt, drückte er nun seinen großen, bärtigen Mund ... »Pros't, Fräulein Lore!« Kaum blieb etwas für den Spinner zurück, so lange und tief war der Schluck. Aber da brachte ja die aufmerksame Frau Zeiseler schon die zweite Kufe für die Gesellschaft.

»Und ein kleines Juchtelfuchtel dazu, ich bezahle!« rief er der schönen Grete zu, die etwas beleidigt that, weil er sie nicht zum Mittrinken aufforderte. Der Pfeffermünzschnaps gefiel Lore auch schon besser. Sie hatte ihr kleines rundes Spitzglas vor sich stehen, und jeden Augenblick schlürfte sie daran.

»Was wir lieben!« sagte Nante und stieß mit ihr an. Sie lachte, daß ihre glühenden Wangen noch purpurner aussahen, und ihr Vater wunderte sich, wie der als stolz und kopfhängerisch verschriene Schlosser so gemütlich sein konnte. Lore schien dasselbe zu denken.

»Ist es wahr, daß Sie ein Sozialdemokrate sind?« fragte sie und sah ihn mit ihren klaren blauen Augen ganz unbefangen an.

»Warum, schöne Haspelmaid?«

»Weil ich die Sozialschen nicht leiden kann.«

»Schade,« sagte er lächelnd. »Gerade für unsere Damens thut die Partei sehr viel. Bälle, Konzerte, Maskenscherze, Sommerfeste ... Bei uns unterhält man sich sehr gut.«

»Vater sagt, die Sozialschen seien alles schlechte Arbeiter.«

»Das heißt ... das heißt ...« lallte Mila, dem der Alkohol schon in den Kopf gestiegen war. »Ich habe das früher gesagt ... früher einmal ... von wegen ...«

Auf das Stichwort von den Sozialdemokraten näherten sich die anderen, die ihr Stehbier tranken, dem Tischchen, um gelegentlich an der Unterhaltung teilzunehmen. Es waren der kleine Kindermann, ein in ehelichem Mißgeschick verbitterter Saalaufseher, die Spinner Pätow und Kaselowski, gute Arbeiter, aber unruhige Köpfe, Frau Pätow von der oberen Karderie und die rote Lise vom Haspelsaal, die seit einiger Zeit mit Kaselowski zusammenlebte. Zuletzt erschien auch noch Hugo Mila, der recht abgehärmt aussah, Vater und Schwester kurz grüßte und sich trotz der Neckereien der anderen mit seinem Glase Bayrisch still in eine Ecke setzte.

Der Schlosser wollte zwar vor Lore nur in günstigem Licht erscheinen und sich nicht zur Sozialdemokratie bekennen, aber unversehens kam er ins Disputieren hinein, die Eitelkeit, als heller Kopf zu glänzen, wirkte auch mit, und so machte sich Nante im Eifer des Gefechts vielleicht schlimmer als er eigentlich war. In seinem Kopfe lagen die sozialdemokratischen Ideen ungesichtet und unverdaut durcheinander. Sein Charakter war eine Mischung von Berechnung, Schlauheit und Gutmütigkeit. Ein gewisser ritterlicher Zug in seinem Wesen vertrug sich doch wieder mit gemeinen Ränken und rohen Hetzereien. Er machte sich kein Gewissen daraus, einen Freund zu hintergehen, und zu vernichten, sobald es das Parteiinteresse oder auch nur sein eigener Vorteil verlangte. Möglichst mit den Worten seines Lieblingsredners Doktor Flemminger, des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, entwarf er das Wunderbild des sozialen Staates. Allgemeine Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Keine Armee, kein Kapital, keine Pfaffen, keine Ehe mehr. Vor Allem aber keine Steuern. Essen und Trinken liefert der Staat, und keiner kriegt mehr als der andere.

»Wenn ich nu aber größeren Dorscht habe?« fragte Pätow bedenklich.

Seinen Einwurf hatte der Schlosser offenbar nicht erwartet, denn eine Pause entstand. »Na, in einem solchen Falle werden Dir die anderen bei der allgemeinen Brüderlichkeit, die dann herrscht, von ihrem Bier abgeben.«

»Und wenn sie nicht wollen?« fragte Hugo von seinem Platz aus. Alle sahen sich nach ihm um.

»Dann können sie gezwungen werden,« antwortete Nante dem unbequemen Frager, doch Hugo ließ ihn noch nicht frei.

»Gezwungen? Von wem? Im Zukunftstaate gibt es ja keine Polizei.«

»Allerdings nicht,« antwortete der Schlosser gedehnt. »Doch der moralische Zwang hilft besser, als alle brutale Gewalt, sagt der Doktor Flemminger. Wer noch Bier hat, muß es mit den anderen teilen von wegen der Brüderlichkeit.«

Lore Mila stimmte ihm bei und fand es eigentlich zu nett in der Destille, viel gemütlicher als zu Hause. Die drolligen Gespräche, die süße »Luft«; nur die andere Luft zum Atmen könnte besser sein. Die Kameraden dampften zu viel mit ihren Pfeifen und Zigarren, gerade wie der Vater zu viel trank. Herrjeh, hatte er schon einen Kopf! Und sie nahm ihm die Weiße, die er eben wieder zum Munde führen wollte, aus den Händen.

»Kinder,« rief plötzlich die rote Lise, für die Kaselowski noch einen Nordhäuser kommen ließ, »und was wird denn im Zukunftstaate mit die alten Mädchen?«

»Für die wird gesorgt,« antwortete Nante mit Zuversicht, allein die Hasplerin gab sich noch nicht zufrieden.

»Na, das gehört sich auch so,« sagte sie. »Unsere niederen Löhne müssen auch gehoben werden. Und warum sollten die Frauen nicht in den Reichstag wählbar sein? Und in die Gewerbeschiedsgerichte gehören wir auch, denn punkto Putz und Wäsche können Männer ja gar nicht entscheiden. Überhaupt ist die Frau noch vielfach die Sklavin des Mannes, während wir dem sogenannten starken Geschlecht mindestens ebenbürtig sind. Oder eigentlich über.«

Rauhe Männerstimmen protestierten, und Nante lachte herzlich.

»Ja, lacht nur,« rief Lise, »zuletzt muß das Weib doch alles beherrschen. Ich sehe schon alle Männer am Waschfasse stehen!«

»Im sozialdemokratischen Zukunftstaat,« nahm der Schlosser das Wort, als der Sturm sich gelegt hatte, »übernimmt und verteilt der Staat alle Arbeit. Auch die Frau muß wie der Mann einen bürgerlichen Beruf haben und ist nicht dazu da, bloß häusliche Arbeiten zu verrichten, zu kochen, die Kinder zu erziehen. Die fortschreitende wirtschaftliche Entwickelung wird dahin führen, daß die bürgerliche Küche mit ihrer Hausmannskost vollständig aufhören wird.«

Er redet wirklich sehr gut, dachte Lore, aber Frau Pätow mußte ihm widersprechen.

»Na, wenn wir dem Mann nicht einmal im Hause das Essen bereiten sollen, können wir uns ja begraben lassen,« sagte sie. »Hat der Mann den ganzen Tag geschuftet, dann muß er in der Familie doch wenigstens seine Präpelei kriegen. Das Gesetz soll lieber dafür sorgen, daß der Mann so viel verdient, damit wir Frauen nicht auch in die Fabrik gehen und dem Manne Konkurrenz machen. Die Frau gehört ins Haus und hat nu 'mal den Beruf, Gattin und Mutter zu sein.«

Allgemeine Zustimmung der Damen, nur die rote Lise protestierte.

»Wie war denn das mit dem Essen!« fragte Zeiseler, der sein Büffett im Stiche ließ und näher trat. »Zu Hause darf nicht mehr gekocht werden, wo aber denn?«

»Das Restaurationswesen wird sich derartig ausbilden, daß das Kochen im Hause vollständig aufhört,« orakelte Nante. »Der einzelnen Frau stehen auch gar nicht die Kochkunstmittel in dem Maße zur Verfügung, wie dem Restaurateur.«

»Sehr richtig!« rief Zeiseler und dachte gewiß an seinen Zichorienkaffee. Aber Frau Pätow war wieder nicht einverstanden.

»Das Essen zu Haus ist viel besser,« sagte sie hartnäckig. »Und womit sollen wir uns denn beschäftigen?«

»Vorläufig,« erwiderte der Schlosser, »müssen sich die Frauen der sozialdemokratischen Bewegung anschließen, in erster Linie unsere Kameradinnen von der Fabrik. Aber auch die Frauen, die sich ausschließlich mit dem Hauswesen befassen, während ihr Mann den der Familie nötigen Verdienst erwirbt, müssen die Anschauungen verfechten, die der Mann in seinem Arbeitverhältnis und im öffentlichen Leben vertritt. Sie hilft ihm bei der sozialdemokratischen Agitation und deckt ihn mit ihrem Leibe vor der Polizei. Dann werden die Frauen auch die politische Gleichberechtigung erlangen.«

»Aber wir können doch nicht Soldat werden,« warf Lore schüchtern ein.

»Im Zukunftstaate gibt es keine Kriege mehr, mein Kind,« belehrte sie der allwissende Verehrer. »Die Armee wird abgeschafft.«

»Das wäre ein Unglück für uns Arbeiter,« warf plötzlich Hugo ein, der wie die meisten seiner jungen Kameraden den Zeitpunkt gar nicht erwarten konnte, wo er dem einförmigen Fabrikleben entfliehen und Königs Rock anziehen durfte. »Entläßt man die Hunderttausende junger frischer Arbeitskräfte aus den Kasernen, so werden zu viel Hände für die Industrie frei, die Löhne sinken, und wir müssen allesamt verhungern.«

Der Schlosser, der zu Lorens Freude auf alles eine passende Antwort hatte, brachte einige Redensarten von der Verstaatlichung der Industrie dagegen vor, allein Hugo widerlegte ihn, und die anderen gaben ihm recht. Wo hatte der Junge nur seine Weisheit her? fragten sie sich alle. Zwar wußte Nante, daß Fabian ihm etwas Bildung beigebracht, auch daß er seit einiger Zeit mit Pinzger in ihre Versammlungen ging und eifrig die Parteiblätter las, aber für so helle hatte er ihn doch nicht gehalten. Den konnte man als Hetzer und Schürer gebrauchen. Er wollte ihn der Parteileitung empfehlen.

Am Stammtische verlor Hinnen-Lotz unterdessen eine Partie nach der anderen, und sein Ingrimm wuchs umsomehr, als er gerade eine unangenehme Entdeckung machte. Grete war hereingetreten und hatte sich hinter seinen Stuhl gestellt, worauf sie dem Tiroler verstohlene Zeichen gab, wie er das ganz deutlich im Spiegel gegenüber bemerken konnte. Erst bei längerer Beobachtung wurde ihm klar, daß sie ihm Handküsse zuwarf und in der Zeichensprache ein Stelldichein gab, also gewissermaßen hinterrücks dem Herrn Hinnen-Lotz pantomimisch Hörner aufsetzte. Die Wut über diese Wahrnehmung trieb ihm alles Blut in den Kopf, und er hatte einen Augenblick Lust, sich ohne weiteres auf seinen Nebenbuhler zu stürzen. Aber nein, die Weibervölker waren es nicht wert, daß Herr Hinnen-Lotz um eine von ihnen mit einem gemeinen Arbeiter sich prügelte und wahrscheinlich noch obendrein tüchtige Schläge holte, denn der Tiroler war viel jünger und gewiß auch handfester. Er beherrschte sich also noch zur rechten Zeit und hatte einen schlauen Einfall. Er stellte sich, als hätte er Gretens Zeichen falsch verstanden und legte sie nicht als Liebessprache aus, sondern als hinterlistige Mogelei. Damit schlug er gleich zwei Fliegen mit einem Schlag. Er blamierte den Arbeiter als Falschspieler, dem es nur auf unrechten Wegen gelungen war, ihm, dem berühmten Jasser und Pandurer, das Geld abzugewinnen, und zugleich that er ihm nicht die Ehre an, ihn als seinen glücklicheren Nebenbuhler in der Liebe, worin er doch unwiderstehlich war, anzuerkennen. Er wartete also ruhig die nächsten Kußhände im Spiegel ab, und als Grete wirklich ihre geschwollenen roten Finger wieder zum Munde führte, drehte er sich rasch um und warf mit großer Leidenschaftlichkeit die Karten auf den Tisch.

»Ich mache nicht mehr mit!« schrie er so laut, daß es alle hören konnten, und sprang von seinem Stuhl auf. »Jetzt weiß man ja, wie der Schleifer dem Herrn Hinnen-Lotz alles abgewinnt. Die Jungfer telegraphiert ihm hinter meinem Rücken die Karten. Falschspieler! Gaunervolk, jawohl! Meine Zeche könnt Ihr aus dem Geld bezahlen, das Ihr mir abgeluxt habt, und seid noch froh, wenn ich Euch nicht ins Zuchthaus bringe. Betrüger!«

Rief's, stülpte seinen Filz auf und verschwand zornschnaubend durch die Vorderstube ins Freie, ohne den Wirt und seine Gäste eines Blickes zu würdigen.

In tiefer Bestürzung sah ihm die ganze Familie nach. Was war denn vorgefallen? Und Grete erhielt Schelte, weil sie den Herrn Direktor beleidigt habe. I wo, Beleidigung! Pinzger erzählte lachend Hinnens Mißverständnis. »Aber nur keine Sorge!« tröstete er die niedergeschlagene Wirtin. »Er kommt schon wieder. Und wenn nicht, so kommen wir Arbeiter, und wir sind Tausende, und er ist nur einer!«

»So recht,« fiel der Schlosser-Nante ein. »Endlich wird die Hinterstube für die Genossen frei. Der Schweizer war mir immer im Wege hier. Spitzeln mag er drüben in der Fabrik. Hier sind wir lieber unter uns.«

Doch Frau Zeiseler schlug die Hände überm Kopfe zusammen ... »Er schreibt uns auf die schwarze Liste und verbietet allen Arbeitern unser Lokal.«

»Unsinn!« erwiderte der Schlosser, »was wir außerhalb der Spinnerei thun, geht ihm nichts an, und vorschreiben lassen wir uns schon lange nicht, wo wir ein paar Glas schmettern und uns amüsieren sollen.«

Kopfschüttelnd und niedergeschlagen stellte sich Familie Zeiseler hinter den Tisch, und da kam schon wieder eine neue Aufregung. Mutter Mila holte ihren Mann, und sie hatte ein so gutes Mundstück, daß es jedesmal Krakehl gab. Ihre große, dicke Figur drückte sich eben durch die Glasthür, und mit zornrotem Gesichte schritt sie auf ihren Mann zu.

»Also da sitzest Du wieder!« rief sie und verschränkte ihre Arme über der Brust. »Sobald man der Thüre den Rücken dreht! Und sogar unser unschuldiges Kind und den Jungen nimmst Du jetzt mit! Schämst Du Dich nicht, alter Sünder, vor Deiner eigenen Brut?« Der Schlosser-Nante, Pinzger und Familie Zeiseler fingen schon an zu kichern, aber die zornige Frau setzte sich in Positur und begann ihre gewohnte Rede:

»Na, wenn das die Herren der Schöpfung sein sollen, denn kann sich die ganze Welt begraben lassen, und ich rathe 'ner jeden deutschen Jungfrau, sich so'n Kerl zweimal gehörig anzukieken, ehe sie sich mit ihm aufs Standesamt begibt. Aber natürlich! wir sind bloß dazu da, die Knöpfe anzunähen oder wenn mal das Schemisettenband abgerissen ist, sonst aber können wir Rauch schnappen und Hungerpfoten saugen, während die Männer alles in der Destille vertrinken! So 'ne Mannsperson ist aber doch keine Spirituslampe nicht! Wenn mein Mann so'n halben Tag in der infamichten Budike hier gesessen hat, so braucht man ihm bloß 'n Docht in die Gurgel zu ziehen, und man hat das schönste Dreierlicht! Ich getrau' mir zu glauben, daß so'n Individebum doch auch mal in seine vier Pfähle gehört, zu seiner Gattin und seinen nach Brot schreienden Jöhren – und Brot thut weh, wenn es nicht da ist! Wenn Eine ihrem Mann am Sonntag Morgen die schönsten Pellkartoffeln mit brauner Mehlstippe vorsetzt und dabei allerlei Versprechungen einheimst von wegen Besserung und denn immer »Mutterchen« hier und »Mutterchen« da, und man ist so ganz glücklich, daß der Himmel voll Geigen hängt, und am Abend sitzt der Gemahl schon wieder in der Budike wie angegossen und hat sogar sein armes Wurm von Tochter und seinen Jungen bei sich, da soll mich doch Einer grüßen, wenn man da nicht aus alle Fassons geht!« Sie schnappte nach Luft, wahrend alle lachten, daß die Wände und Gläser zitterten, und auch Mila kicherte aus seinem Weindunst heraus, aber seine Frau verstand keinen Spaß und rüttelte ihn so lange mit beiden Händen, bis er sich vom Stuhl erhob.

»Na, Genosse, Du scheinst ja derbe verheiratet zu sein,« sagte der Schlosser und hielt der Wütenden ein Gläschen »Nordlicht« hin, aber sie schlug es ihm aus der Hand, daß es klirrend zu Boden fiel.

»Platz da, Ihr Saufbrüder, oder ich werde Euch Moritzen kennen lernen!« schrie sie, und mit der Rechten schob sie ihren schwankenden Mann vor sich her, indes ihre Linke die weinende Tochter nachzog. Hugo folgte beschämt. Die Kneipgesellschaft sah ihnen lachend nach, wie sie langsam über die schlecht beleuchtete Straße gingen und dann plötzlich beiseite sprangen. Ein herrschaftlicher Wagen bog eben von der Brücke herüber und bespritzte sie mit Koth. Frau Mila ließ schnell die Hand von ihres Mannes Rockkragen und nickte einen Gruß, und der in der frischen Luft leidlich ernüchterte Spinner zog seine Mütze vor seiner Prinzipalin, die mit ihrem Kousin aus der Oper kam.

»Guten Abend,« rief Lore kleinlaut, denn sie schämte sich über ihren Aufzug.

Die Gäste in der Destille sahen durch die Glasthüre diese Begegnung und die Kratzfüße, und der Schlosser-Nante ballte die Faust.

»Und wir müssen zu Fuß gehen und erst noch dafür danken, daß sie uns nicht überfahren!« knirschte er zwischen den Zähnen, »aber das soll alles bald anders werden, und dann gehören die feinen Damen uns!«

»Ach was!« sagte die rote Lise ärgerlich, weil Kaselowski dem Schlosser zustimmte. »Diese zarten, kranken Dinger können ja keinen Puff vertragen. Für die Proletarier sind wir!«

»Ich schließe mich der Vorrednerin an,« scherzte der Tiroler und gab ihr einen schallenden Kuß. Sie wischte sich die Wange mit ihrer Schürze, und alle lachten, nur Kaselowski schien eifersüchtig und wollte nichts mehr von Kommunismus und freier Liebe hören.


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