Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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IV.

Auf der Rückfahrt nach Paris rollte der weiße Zug nun wiederum dahin. In dem Wagen dritter Klasse, in dem das Magnificat, mit voller Kraft der scharfen Stimmen gesungen, das Rollen der Räder übertönte, war abermals alles überfüllt. Es war derselbe bewegliche und gemeinsame Krankensaal, den man mit einem Blick über die niedrigen Scheidewände in der Unordnung und dem Durcheinander eines improvisierten Lazaretts überschaute. Halb unter der Bank versteckt, standen die Nachtgeschirre, die Waschschüsseln, Besen und Schwämme lagen umher. Überall waren Gepäckstücke aufgestapelt, Pakete, Körbe, Säcke, die an Kupferhaken hingen, an denen sie ohne Ruhe und Rast hin und her schaukelten. Dieselben Schwestern von Mariä Himmelfahrt, dieselben Pflegedamen waren da mit ihren Kranken, umgeben von gesunden Pilgern, die bereits unter der gräßlichen Hitze und dem unerträglichen Geruche litten. Im Hintergrunde sah man abermals das vollständig mit Frauen angefüllte Abteil. Es waren die zehn Pilgerinnen – junge und alte, alle von derselben traurigen Häßlichkeit. Sie schmiegten sich eng aneinander und sangen eifrig mit kläglicher und falscher Stimme.

»Um wieviel Uhr werden wir denn in Paris sein?« fragte Herr von Guersaint Pierre.

»Morgen, gegen zwei Uhr nachmittags, glaube ich«, antwortete der Priester.

Seit der Abfahrt betrachtete Marie ihn mit einer Miene unruhiger Besorgnis, gleichsam von einem plötzlichen Kummer heimgesucht, über den sie sich nicht aussprach. Doch fand sie in der Freude über ihre neuerworbene Gesundheit ihr Lächeln wieder.

»Eine Reise von zweiundzwanzig Stunden! Nun, es wird immerhin weniger lang und weniger hart als bei der Hinfahrt sein.«

»Wir sind jetzt auch«, fuhr ihr Vater fort, »um ein paar Personen weniger, und können es uns recht behaglich machen.«

Die Abwesenheit der Frau Maze ließ eine Ecke am Ende der Bank frei, die kleine Sophie hatte man in das Nebenabteil gewiesen, in dem der Bruder Isidor und seine Schwester Martha fehlten, die in Lourdes bei einer frommen Dame in Dienst geblieben war. Auf der andern Seite kam Frau von Jonquière und der Schwester Hyacinthe in gleicher Weise ein Platz zugute, der von Frau Vêtu. Elise Rouquet hatte man ebenfalls bei der kleinen Sophie untergebracht, so daß sie nur noch das Ehepaar Sabathier und die Grivotte bei sich behielten. Dank dieser neuen Verteilung fühlte man sich viel befreiter, man konnte sogar vielleicht ein bißchen schlafen.

Der letzte Vers des Magnifikats war gerade gesungen worden, die Damen richteten sich häuslich ein und machten es sich so bequem wie möglich. Man mußte vor allen Dingen die Zinkkannen, die voll Wasser standen und die die Bewegung der Beine hinderten, wegstellen. Die Vorhänge hatte man an allen Fenstern auf der linken Seite zugezogen, denn die Sonne schoß in schrägen Strahlen auf den Zug hernieder und drang mit glühendem Schimmer herein. Aber die letzten Gewitter mußten wohl den Staub niedergeschlagen haben, und die Nacht würde gewiß auch frisch werden. Im übrigen war auch das Maß der Leiden geringer, denn der Tod hatte die Kränksten dahingerafft. Die Kranken, die sich wiedereingestellt hatten, waren betäubt und von Ermüdung erschöpft. Die Schmerzen gingen allmählich in Empfindungslosigkeit über. Bald sollte sich der Rückschlag der Entkräftung vollziehen, der auf große moralische Erschütterungen zu folgen pflegt. Die Seelen hatten ihre Kräfte verbraucht, die Wunder waren geschehen, und nun begann die Abspannung, der Stumpfsinn einer tiefen Erleichterung.

Bis Tarbes war man sehr beschäftigt, jeder setzte sich zurecht und nahm wieder Besitz von seinem Platz. Als man Tarbes verließ, erhob sich Schwester Hyacinthe und klatschte in die Hände.

»Liebe Kinder, wir dürfen die Heilige Jungfrau nicht vergessen, die so gut gewesen ist, beginnen wir den Rosenkranz.«

Der ganze Wagen sprach nun mit ihr das erste Vaterunser durch, die fünf freudigen Mysterien: die Verkündigung Maria, die Heimsuchung Mariä, die Geburt Christi, Maria Reinigung und den wiedergefundenen Jesus. Dann stimmte man den Lobgesang: »Betrachten wir den himmlischen Erzengel« mit so lauter Stimme an, daß die Bauern auf den Äckern die Köpfe erhoben und dem Zuge nachblickten, der da singend vorüberflog.

Marie bewunderte draußen die weite Landschaft, das ungeheure Himmelszelt, das sich nach und nach von seinem Wärmedunst befreit hatte und leuchtend blau geworden war. Es war das köstliche Ende eines schönen Tages. Und ihre Blicke wandten sich wieder zurück und hefteten sich auf Pierre mit der stummen Traurigkeit, die ihre Augen schon vorher verschleiert hatte. Der Gesang war zu Ende. Frau Vincent schrie und stammelte plötzlich wirre, von Tränen erstickte Worte. »Oh, meine arme Kleine, mein Kleinod, mein Schatz, mein Leben –«

Sie war bis dahin in ihrer Ecke geblieben, als ob sie sich hätte unsichtbar machen wollen. Mit zusammengepreßten Lippen und geschlossenen Wimpern hatte sie in scheuem Schweigen kein Wort gesprochen, wie um sich in ihrem entsetzlichen Schmerze noch mehr zu verkriechen. Als sie aber die Augen öffnete, bemerkte sie den Lederriemen, der an der Tür hing. Und der Anblick dieses Riemens, den ihr Kind berührt, mit dem ihr Kind gespielt hatte, erfüllte sie mit einer Verzweiflung, deren Gewalt die ganze Kraft, mit der sie sich zur Ruhe zwang, vernichtete.

»Ach, meine arme kleine Rose. Sie hatte das in ihre kleine Hand genommen und herumgedreht, sie betrachtete es, und es war sicher ihr letztes Spielzeug. Ach, da waren wir doch noch zu zweien, sie lebte noch, ich hatte sie noch auf meinen Knien, in meinen Armen. Das war noch so schön, so schön. Nun habe ich sie verloren, verloren auf immer, meine arme kleine Rose, meine arme kleine Rose!«

Mit wirren Blicken betrachtete sie schluchzend ihre leeren Arme, mit denen sie nichts mehr anzufangen wußte. Sie hatte ihre Tochter so lange darauf gewiegt, so lange darauf getragen, daß es ihr jetzt vorkam, als ob ihr Körper eine Verrichtung weniger ausübte. Sie war gleichsam verblödet, so daß ihr bei ihrer Untätigkeit ihre Gliedmaßen als unnütz vorkamen. Und ihre Arme, ihre Knie waren ihr im Wege.

Tiefbewegt hatten Pierre und Marie sich um sie bemüht, mit guten Worten suchten sie die arme Mutter zu trösten. Nach und nach lernten sie durch die abgerissenen Sätze, die sich in ihre Tränen mischten, die furchtbaren Leiden kennen, die sie seit dem Tode ihrer Tochter erduldet hatte. Am Morgen des gestrigen Tages, als sie sie im Sturm tot in ihren Armen fortgetragen hatte, mußte sie wohl lange Zeit, blind und taub durch den Regen gelaufen sein. Sie erinnerte sich nicht mehr an die Plätze, die sie überschritten hatte, nicht mehr an die Straßen, die sie in diesem bösen Lourdes gegangen war, diesem kindesmörderischen Lourdes, das sie verfluchte.

»Oh, ich weiß nichts mehr, ich weiß nichts mehr. Ja, Leute haben mich aufgenommen, haben Mitleid mit mir gehabt, Leute, die ich nicht kenne, die irgendwo wohnen. Ach, ich weiß nichts mehr... irgendwo da oben, sehr weit, am andern Ende der Stadt... Aber sicher sind es sehr arme Leute, denn ich sehe mich wieder in einem ärmlichen Zimmer, mit meiner armen, ganz kalten Kleinen, die sie auf ihr Bett gelegt hatten –«

Bei dieser Erinnerung erschütterte sie ein neuer Anfall von Schluchzen und erstickte sie fast.

»Nein, nein, ich wollte mich nicht von ihrem teuren, kleinen Körper trennen und ihn in dieser abscheulichen Stadt zurücklassen, ja, ich kann es nicht recht sagen, aber die armen Leute müssen mich wohl hergeführt haben. Wir haben Wege gemacht, oh, Wege... alle Herren von der Eisenbahn und von der Pilgerschaft haben wir besucht. Ich wiederholte ihnen: »Was tut Ihnen denn das? Erlauben Sie mir doch, sie nach Paris in meinen Armen mitzunehmen. Ich habe sie lebend hergebracht, ich kann sie auch tot wieder fortbringen, niemand wird etwas bemerken, man wird glauben, sie schläft.« Und alle diese Leute, alle diese Behörden haben mich angeschrien, haben mich fortgeschickt, als wenn ich häßliche Dinge von ihnen verlangte. Dann habe ich ihnen schließlich Dummheiten gesagt. »Nicht wahr, wenn man so viele Geschichten macht, wenn man so viele Kranke zum Tode führt, dann kann man es doch auch übernehmen, die Toten zurückzubringen.« Und wissen Sie, was sie auf dem Bahnhof schließlich von mir verlangt haben? Dreihundert Frank, ja, ich glaube, das ist der Preis. Allmächtiger Gott, dreihundert Frank! Ich, die ich mit dreißig Sous in der Tasche gekommen bin. Sie hätten mein Leben von mir verlangen sollen, das hätte ich ihnen sehr gern gegeben. Dreihundert Frank! Dreihundert Frank für diesen armen, kleinen Vogelkörper. Ich wäre so getröstet gewesen, hätte ich ihn auf meinen Knien mitnehmen können.«

Dann stammelte sie nur noch dumpfe Klagen.

»Ach, wenn Sie alles wüßten, was die armen Leute mir für vernünftige Sachen gesagt haben, um mich zur Abreise zu veranlassen. Eine Arbeiterin wie ich, auf die ihre Arbeit warte, sollte nach Paris zurückkehren. Und dann hatte ich doch auch nicht die Mittel, meine Rückfahrkarte verfallen zu lassen. Ich müßte den Zug um drei Uhr vierzig nehmen. Sie haben noch gesagt, man sei gezwungen, sich in die Dinge zu fügen, wenn man nicht reich sei. Nicht wahr, nur die Reichen behalten ihre Toten und machen mit ihnen, was sie wollen? Und ich erinnere mich nicht mehr, ich erinnere mich an gar nichts mehr. Ich wußte nicht einmal mehr die Stunde. Wie wäre ich imstande gewesen, den Bahnhof wieder zu finden? Nach dem Begräbnis da unten, an einem Orte, an dem zwei Bäume standen, haben mich die armen Leute fortgebracht. Sie haben mich geführt und in den Wagen gestoßen, gerade als der Zug abging. Aber welch einen Entschluß hat es mich gekostet, mich loszureißen, gerade wie wenn mein Herz unter der Erde geblieben wäre! Und das ist schrecklich, das ist schrecklich, mein Gott!«

»Arme Frau«, murmelte Marie, »haben Sie Mut, bitten Sie die Heilige Jungfrau um den Beistand, den sie den Betrübten niemals verweigert.«

Nun erschütterte sie wieder ein Wutanfall.

»Das ist nicht wahr, die Heilige Jungfrau macht sich über mich lustig, die Heilige Jungfrau ist eine Lügnerin. Warum hat sie mich getäuscht? Niemals wäre ich nach Lourdes gegangen, wenn ich nicht diese Stimme in einer Kirche gehört hätte. Meine Tochter würde noch leben, vielleicht würden die Ärzte sie retten. Ach, wie recht hatte ich! Es gibt keine Heilige Jungfrau, es gibt keinen guten Gott.«

Und ohne Entsagung, ohne Illusion oder Hoffnung fuhr sie fort, lästerte mit der wütenden Plumpheit des Volkes und schrie ihre Leiden so wild hinaus, daß Schwester Hyacinthe dazwischentreten mußte.

»Unglückliche, schweigen Sie, der liebe Gott bestraft Sie, indem er Ihre Wunde bluten läßt.«

Die Szene hatte lange gedauert, und als man mit vollem Dampfe an Riscle vorüberfuhr, klatschte sie von neuem in die Hände und gab das Zeichen, man solle das »Laudate, laudate Mariam« singen.

»Vorwärts, vorwärts, meine Kinder, alle zusammen und von ganzem Herzen.«

O möchten alle Stimmen,
Im Himmel und auf Erden,
Der Heil'gen Mutter Gottes
Zum Lobgesange werden!
Laudate, laudate, laudate Mariam.

Da ihre Stimme von diesem Gesang der Liebe übertönt wurde, so schluchzte Frau Vincent, in ihrer Empörung erschöpft, ohne Kraft, in der stammelnden Schwäche einer armen, vor Schmerz und Müdigkeit stumpfsinnig gewordenen Frau, nur noch in ihre beiden Hände.

In dem Wagen machte sich nach dem Gesang die Ermüdung bei allen bemerkbar. Es waren nur noch die lebhafte Schwester Hyacinthe und die sanfte, ernste und feine Schwester Claire des Anges, die, wie bei der Abreise von Paris und während des Aufenthaltes in Lourdes, eine berufsmäßige, an alles gewöhnte und über alles siegende Ruhe zur Schau trugen. Frau von Jonquière, die fünf Tage kaum geschlafen hatte, hatte die größte Mühe, ihre armen Augen offen zu halten. Trotzdem war sie von der Reise entzückt und fuhr mit der großen Freude im Herzen nach Hause, ihre Tochter verlobt zu haben und das schönste Wunder mitzubringen, eine Geheilte, von der die ganze Welt sprach. Sie nahm sich vor, in dieser Nacht gut zu schlafen trotz des harten Rüttelns und wurde doch wieder von dumpfer Furcht ergriffen wegen der Grivotte, die ihr seltsam aufgeregt und verstört erschien, mit ihren wirren Augen und ihren mit blaßvioletten Flecken fieberhaft gefärbten Wangen. Zehnmal hatte sie sie veranlassen wollen, sich ruhig zu verhalten, ohne durchsetzen zu können, daß sie mit gefalteten Händen und geschlossenen Wimpern sich nicht mehr rührte. Glücklicherweise verursachten ihr die anderen Kranken keinerlei Unruhe, denn alle fühlten sich erleichtert oder so müde, daß sie bereits schlummerten. Elise Rouquet hatte sich einen Taschenspiegel gekauft, einen großen, runden Spiegel, in den sie nicht müde wurde hineinzublicken. Sie fand sich schön, stellte von Minute zu Minute die Fortschritte ihrer Heilung fest, und zwar mit einer Koketterie, die sie jetzt, da ihr ungeheuerliches Gesicht wieder menschlich wurde, die Lippen zusammenkneifen und ein Lächeln versuchen ließ. Sophie Couteau spielte artig. Sie hatte sich allein den Strumpf ausgezogen, als sie sah, daß niemand mehr ihren Fuß prüfen wollte und wiederholte, sie müsse ganz sicher einen Kieselstein im Strumpf haben. Und da man noch immer auf ihren von der Heiligen Jungfrau gesegneten Fuß nicht achtgab, so behielt sie ihn zwischen den Händen, streichelte ihn und schien entzückt, ihn berühren und damit spielen zu können.

Herr von Guersaint hatte sich aufgerichtet und über die Scheidewand gelehnt, um mit Herrn Sabathier zu plaudern.

»Vater, Vater«, sagte plötzlich Marie, »sieh doch diesen Einschnitt im Holz! Der Eisenbeschlag meines Wägelchens hat das gemacht.«

Dieses kleine Zeichen machte sie so glücklich, daß sie einen Augenblick den geheimen Kummer vergaß, den sie verschweigen wollte. So wie Frau Vincent geschluchzt hatte, als sie den von ihrem Töchterchen berührten Lederriemen bemerkte, so brach sie plötzlich in ein Freudengeschrei aus beim Anblick dieser Schramme, die sie an ihr langes. Martyrium, an diesen ganzen verschwundenen Greuel erinnerte, der wie ein böser Traum verflogen war.

»Wenn man sich sagt, daß es kaum vier Tage her ist! Ich lag da, ich konnte mich nicht rühren, und jetzt komme ich und gehe ich und fühle mich so behaglich!«

Herr von Guersaint und Pierre lächelten ihr zu. Dann sagte Herr Sabathier, der ihr zugehört hatte, langsam: »Das ist wohl wahr, man läßt ein wenig von seinem Wesen, von seinen Leiden, seinen Hoffnungen, in den Dingen unserer Umgebung zurück. Und wenn man sie wiederfindet, so sprechen sie zu einem, sie erzählen von unseren Freuden und Leiden, von allem, was wir erlebt haben.«

Mit seiner gefaßten Miene war er seit seiner Abreise von Lourdes schweigsam in seinem Winkel geblieben, und selbst seine Frau, als sie ihm die Beine einwickelte und ihn fragte, ob er Schmerzen hätte, brachte nur Kopfschütteln aus ihm heraus. Er hatte keine Schmerzen, aber er war von einer unbehaglichen Erschöpfung übermannt.

»Sehen Sie«, fuhr er fort, »so habe ich mich bei der Herfahrt, bei der langen Reise damit zerstreut, die Borten da oben an der Decke zu zählen. Es sind dreizehn, von der Lampe bis zur Wagentür. Ich habe sie eben wieder gezählt, und es sind natürlich immer noch dreizehn... So ist's auch mit dem Kupferknopf da neben mir. Sie können sich nicht denken, welche Träume ich in der Nacht, in der uns der Herr Abbé die Geschichte der Bernadette vorgelesen hat, entworfen habe, als ich ihn so glänzen sah. Ja, ich sah mich geheilt, ich machte die Reise nach Rom, von der ich seit zwanzig Jahren spreche, ich ging, ich durchwanderte die Welt, kurz, es waren wahnsinnige und köstliche Träume. Und jetzt, da wir nach Paris zurückkehren, sind da oben dreizehn Borten, der Knopf glänzt, und alles sagt mir, daß ich mich von neuem auf dieser Bank mit meinen toten Beinen befinde. Nun, es ist abgemacht, ich bin und bleibe ein armes, altes Tier, mit dem es zu Ende ist.«

Zwei große Tränen erschienen in seinen Augen, er mußte wohl eine Stunde entsetzlicher Bitterkeit durchmachen. Aber er erhob seinen dicken, viereckigen Kopf mit den Kinnbacken, die so viel geduldige Hartnäckigkeit verrieten.

»Das war das siebente Jahr, daß ich nach Lourdes ging, und die Heilige Jungfrau hat mich nicht erhört. Das tut nichts, das wird mich nicht verhindern, im nächsten Jahr wieder hin zu gehen. Vielleicht wird sie endlich die Gnade haben, mich zu erhören.« Er empörte sich nicht, und Pierre war, als er sich mit ihm unterhielt, bestürzt über diese lebhafte, beharrliche Gläubigkeit, die sogar in diesem geistig entwickelten Schädel erblühte. Aus welchem glühenden Wunsche nach Genesung und Leben waren dieser Verzicht auf Gewißheit, diese blinde Willenskraft geboren worden? Außerhalb jeder natürlichen Wahrscheinlichkeit klammerte er sich daran, gerettet zu werden, trotzdem das Wunder so oft mißlungen war, und schickte sich an, seinen neuen Mißerfolg zu erklären, und zwar mit einer Zerstreutheit, die er vor der Grotte gehabt hatte, einer zweifellos ungenügenden Reue, allen Arten kleiner Sünden, die die Heilige Jungfrau in Mißstimmung versetzt haben mußten. Er nahm sich bereits vor, im nächsten Jahr irgendwo eine neuntägige Andacht zu halten, bevor er nach Lourdes ging.

»Übrigens«, fuhr er fort, »Sie kennen doch das Glück, das mein Stellvertreter gehabt hat, Sie erinnern sich doch, der Schwindsüchtige, für den ich die fünfzig Frank Reisegeld gegeben habe, als ich mich aufnehmen ließ. Nun, er ist vollständig geheilt.«

»Wirklich, ein Schwindsüchtiger?« rief Herr von Guersaint.

»Vollkommen geheilt, wie durch einen Zauberschlag! Ich habe ihn verfallen, gelb, dürr wie eine Hopfenstange gesehen, und er hat mir ganz munter einen Besuch im Hospital abgestattet. Wirklich, ich habe ihm fünf Frank gegeben.«

Pierre mußte ein Lächeln unterdrücken, er kannte die Geschichte, er hatte sie von Doktor Chassaigne gehört. Der betreffende Geheilte war ein Simulant, den man schließlich im ärztlichen Büro, in den die Heilungen festgestellt wurden, durchschaut hatte. Das mußte wenigstens das dritte Jahr sein, daß er sich vorstellte. Das erstemal wegen einer Lähmung, das zweitemal wegen einer Geschwulst, die alle beide vollständig geheilt waren. Jedesmal ließ er sich spazierenfahren, beherbergen, ernähren und reiste dann, mit Almosen überhäuft, ab. Er war ein früherer Krankenwärter aus den Hospitälern, verstellte, verwandelte sich förmlich, schminkte sich den Kopf seinem Übel entsprechend, und zwar mit einer so außerordentlichen Kunstfertigkeit, daß Doktor Bonamy nur durch Zufall der Schwindel klar geworden war. Übrigens hatten die Patres sofort Stillschweigen über das Abenteuer verlangt. Wozu diesen Skandal dem Gespött der Zeitungen ausliefern? Wenn sie solche Gaunereien entdeckten, so begnügten sie sich damit, die Schuldigen verschwinden zu lassen. Die Simulanten waren übrigens ziemlich selten. Leider waren außerhalb des Glaubens die Dummheit und Unwissenheit vollkommen genügend.

Herr Sabathier war sehr bewegt bei dem Gedanken, daß der Himmel den Mann, der auf seine Kosten gekommen war, geheilt hatte, während er kraftlos, in demselben bejammernswerten Zustande zurückkehrte. Er seufzte und konnte nicht umhin, mit ein wenig Neid in seiner Entsagung zu folgern:

»Was wollen Sie, die Heilige Jungfrau muß doch wissen, was sie tut, nicht wahr? Weder Sie, noch ich werden Rechenschaft über ihre Handlungen verlangen. Wenn es ihr gefallen wird, ihren Blick auf mich zu werfen, so wird sie mich stets zu ihren Füßen finden.«

In Mont-de-Marsan ließ Schwester Hyacinthe nach dem Angelus den zweiten Rosenkranz herbeten, die fünf schmerzlichen Mysterien: Jesus im Garten des Ölbergs, den gepeitschten Jesus, Jesus mit der Dornenkrone, Jesu Kreuztragung und Jesus am Kreuze sterbend. Dann aß man im Wagen, denn von Bordeaux, wo man erst um elf Uhr abends ankommen sollte, gab es keinen Aufenthalt. Alle Körbe der Pilger waren mit Lebensmitteln vollgestopft, ganz zu schweigen von der Milch, der Brühe, der Schokolade und der Früchte, die Schwester Saint-François geschickt hatte. Dann wurde brüderlich geteilt. Man aß auf den Knien, man rückte einander näher, jedes Abteil bildete nur noch eine Zufallstafel, eine Kindermahlzeit, zu der jeder seinen Beitrag lieferte. Als man an Morceux vorüberfuhr, hatte man fertig gegessen und packte den Rest des Brotes und die fettigen Papiere wieder ein.

»Liebe Kinder«, sagte Schwester Hyacinthe, »das Abendgebet.«

Und nun gab es ein verworrenes Gesumme, Paternosters, Aves, eine Gewissensprüfung, einen Akt der Reue, ein Versenken seiner selbst in Gott, die Heilige Jungfrau und die Heiligen, eine Danksagung für den glücklichen Tag, die in einem Gebet für die Lebenden und für die dahingeschiedenen Gläubigen ausklang.

»Ich sage Ihnen jetzt schon«, fuhr die Nonne fort, »daß ich um zehn Uhr, wenn wir in Lamothe sind, Stille gebieten werde, aber ich hoffe, Sie werden vernünftig sein, und man wird wohl nicht nötig haben, Sie in den Schlaf zu wiegen.«

Diese Bemerkung rief heiteres Lachen hervor.

Es war halb neun Uhr, und die Nacht war langsam über die Landschaft hereingebrochen. Nur über den Hügeln lag noch die unbestimmte, scheidende Dämmerung, während eine dichte Schattenfläche die Ebenen ertränkte. Der Zug sauste in eine ungeheure Ebene hinab, man sah nur noch das Schattenmeer, in dem er unter einem sternbesäten, schwarzblauen Himmel dahinrollte.

Seit einem Augenblick wunderte sich Pierre über das Benehmen der Grivotte. Während die Pilger und Kranken, zwischen die Gepäckstücke gekauert, welche das beständige Schütteln hin und her schaukelte, bereits einschlummerten, hatte sie sich ganz gerade erhoben und klammerte sich in plötzlicher Angst an die Scheidewand. Und unter der Lampe, deren blasses gelbes Licht hin und her tanzte, erschien sie mit dem fahlen, verzerrten Gesicht gleichsam von neuem abgemagert.

»Gnädige Frau, geben Sie acht, sie wird fallen«, rief der Priester Frau von Jonquière zu, die gerade einschlief.

Diese fuhr hastig auf, Schwester Hyacinthe hatte sich ebenfalls umgewendet. Sie nahm die Grivotte, die ein wütender Hustenanfall auf die Bank niederwarf, in ihre Arme. Fünf Minuten lang wurde die Ärmste von einem fürchterlichen Anfall geschüttelt. Dann brach ein roter Strom hervor, und sie spuckte Blut aus vollem Halse.

»Mein Gott, mein Gott, es packt sie wieder«, rief Frau von Jonquière verzweifelt. »Ich ahnte es, als ich sie so seltsam sah. Warten Sie, ich werde mich zu ihr setzen.«

Die Nonne wies sie ab.

»Nein, nein, gnädige Frau, schlafen Sie ein wenig, ich werde wachen. Sie sind nicht daran gewöhnt, Sie würden sich schließlich auch noch krank machen.«

Sie ließ sich nieder und bettete den Kopf der Grivotte, deren blutige Lippen sie trocknete, an ihre Schulter. Der Anfall beruhigte sich, aber die Schwäche wurde wieder so groß, daß die Unglückliche nur mit Mühe stammeln konnte:

»Oh, es ist nichts, es ist durchaus nichts, ich bin geheilt, vollständig geheilt.«

Pierre war bestürzt. Dieser niederschmetternde Rückfall hatte den Wagen mit Entsetzen erfüllt. Viele erhoben sich und blickten sich mit Schrecken um. Dann kauerten sie sich wieder in ihren Winkel, niemand sprach, niemand rührte sich mehr. Und Pierre dachte an den erstaunlichen medizinischen Fall, den dieses Mädchen bot: die dort unten wiederhergestellten Kräfte, der starke Appetit, die weiten Gänge, das strahlende Gesicht, die tanzenden Glieder, dann das ausgespuckte Blut, dieser Husten, dieses bleifarbene Gesicht einer Sterbenden, die brutale Rückkehr der Krankheit, die trotzdem Siegerin blieb. War das eine ganz besondere Schwindsucht, die durch eine Neurose noch verwickelter wurde? War das irgendeine andere Krankheit, ein unbekanntes Übel, das ruhig sein Werk fortsetzte? Das Meer der Irrtümer und der Unwissenheit begann, diese Schattenwelt, mit der die menschliche Wissenschaft noch immer kämpft. Und er sah wieder Doktor Chassaigne verächtlich die Achseln zucken, während der Doktor Bonamy unerschüttert seine Arbeit in der unbedingten Gewißheit fortsetzte, daß niemand ihm die Unmöglichkeit seiner Wunder beweisen würde, ebensowenig wie er selbst deren Möglichkeit hätte begründen können.

»Oh, ich habe keine Furcht«, stammelte die Grivotte noch immer, »sie haben es mir ja da unten alle gesagt, ich bin geheilt, vollständig geheilt.«

Der Zug rollte immer weiter durch die schwarze Nacht dahin. Jeder traf seine Vorkehrungen und streckte sich aus, um bequemer zu schlafen. Man zwang Frau Vincent, sich auf der Bank auszustrecken und gab ihr ein Kopfkissen, auf dem sie ihren armen, schmerzerfüllten Kopf betten konnte. Und nun schlummerte sie, stumpfsinnig und artig wie ein Kind, in der Empfindungslosigkeit eines Alpdrucks unter großen, schweigsamen Tränen, die noch immer aus ihren geschlossenen Augen herabrollten. Auch Elise Rouquet, die eine ganze Bank für sich hatte, schickte sich zum Schlafen an. Aber vorher machte sie große Nachttoilette, knüpfte sich das schwarze Tuch, das ihr dazu gedient hatte, ihre Wunde zu verdecken, um den Kopf und betrachtete sich, ob sie schön genug wäre mit ihrer von der Geschwulst befreiten Lippe. Und von neuem wunderte sich Pierre über diese in der Heilung begriffene, wenn auch noch nicht ganz geheilte Wunde, über dieses Ungeheuergesicht, das man jetzt ohne Ekel betrachten konnte. Wieder begann das Meer der Ungewißheit. War es kein richtiger Lupus? War es nur eine Art unbekannten Geschwürs hysterischen Ursprungs, oder mußte man sogar zugeben, daß gewisse schlecht erforschte Arten von Lupus, die von der schlechten Ernährung der Haut herrührten, durch eine starke, moralische Erschütterung geheilt werden konnten? Es war ein Wunder, wenn er nicht in drei Wochen, in drei Monaten oder in drei Jahren wieder erschien, wie die Schwindsucht der Grivotte.

Es war zehn Uhr, der ganze Wagen schlummerte, als man Lamothe verließ. Schwester Hyacinthe, die den Kopf der eingeschlummerten Grivotte auf ihren Knien behalten hatte, konnte sich nicht erheben. Sie begnügte sich, der Form wegen mit leichter Stimme, die sich im Rollen der Räder verlor, zu sagen:

»Stille, liebe Kinder, stille.«

Aber irgend etwas bewegte sich noch immer im Hintergrunde eines Nebenabteils, ein Geräusch, das sie erregte und das sie schließlich erkannte.

»Sophie, was haben Sie denn fortwährend mit dem Fuß auf die Bank zu klopfen? Sie müssen schlafen, mein Kind.«

»Ich klopfe nicht mit dem Fuß, Schwester, das ist ein Schlüssel, der unter meinen Schuh gerollt ist.«

»Wie, ein Schlüssel? Geben Sie ihn mir her.«

Sie sah ihn prüfend an, es war ein sehr ärmlicher, sehr alter Schlüssel, vom Gebrauch schwarz geworden, abgeschabt und poliert, dessen wiederzusammengelöteter Ring noch die Lötstelle zeigte. Alle hatten in den Taschen gewühlt, niemand hatte den Schlüssel verloren.

»Ich habe ihn da im Winkel gefunden«, fuhr Sophie fort, »er muß dem Mann gehören.«

»Welchem Mann?« fragte die Nonne.

»Nun, dem Manne, der gestorben ist.«

Man hatte ihn bereits vergessen.

Schwester Hyacinthe erinnerte sich. Ja, ja, er gehörte sicher dem Mann, denn sie hatte etwas fallen hören, während sie ihm mit einem Schwamm die Stirn abwusch. Sie wandte den Schlüssel um, sie betrachtete ihn. Immer wieder blickte sie auf diesen von nun an unnützen Schlüssel, der niemals mehr das unbekannte Schlüsselloch, das da irgendwo auf der weiten Welt lag, öffnen würde.

Einen Augenblick wollte sie in einer Art Mitleid dieses kleine geheimnisvolle Stückchen Eisen in die Tasche stecken, denn es war ja alles, was von dem Manne blieb. Dann kam ihr aber der fromme Gedanke, man dürfe an nichts auf dieser Erde sein Herz hängen, und so warf sie den Schlüssel durch das halb herabgelassene Fenster in die dunkle Nacht hinaus.

»Sophie, Sie dürfen nicht mehr spielen, Sie müssen schlafen«, fuhr sie fort. »Nun aber, liebe Kinder, Ruhe, Ruhe!«

Erst nach dem kurzen Aufenthalt in Bordeaux, gegen halb zwölf Uhr, kehrte der Schlummer wieder und bemächtigte sich des ganzen Wagens. Frau von Jonquière hatte nicht länger widerstehen können. Sie hielt den Kopf gegen das Holz der Scheidewand gelehnt, und ihr Gesicht zeigte in ihrer Müdigkeit einen glücklichen Ausdruck. Die Sabathiers schliefen ebenfalls, ohne einen Atemzug, während auch in dem andern Abteil, das Sophie Couteau und Elise Rouquet innehatten, jedes Geräusch verstummte. Von Zeit zu Zeit erhob sich eine dumpfe Klage, ein erstickter Schrei des Schmerzes oder der Furcht. Er entschlüpfte den Lippen der Frau Vincent, die eingeschlafen war und von bösen Träumen gequält wurde. Nur Schwester Hyacinthe blieb mit weit geöffneten Augen wach. Sie war sehr besorgt um den Zustand der Grivotte, die jetzt unbeweglich, gleichsam wie tot, in beständigem Röcheln, mit Anstrengung atmete. Von einem Ende bis zum andern dieses beweglichen Schlafsaals, der durch das Beben des mit Volldampf dahinsausenden Zuges erschüttert wurde, überließen sich die Pilger und Kranken der Ruhe. Glieder hingen hernieder, Köpfe rollten hin und her unter dem bleichen, tanzenden Lichte der Lampe. Im Hintergrunde, im Abteil der zehn Pilgerinnen, gab es ein bejammernswertes Durcheinander armer, häßlicher Gesichter, der Alten und Jungen, die der Schlaf am Ende eines Lobgesangs mit offenem Munde gelähmt zu haben schien. Und ein großes Mitleid mit diesen traurigen, müden Leuten, die, von fünftägigen wahnsinnigen Hoffnungen und unendlichen Verzückungen vernichtet, am nächsten Tage zur harten Wirklichkeit des Lebens wieder erwachen sollten, stieg empor.

Pierre fühlte sich mit Marie so gut wie allein. Sie hatte sich nicht auf der Bank ausstrecken wollen und meinte, sie hätte in sieben Jahren allzu lange gelegen. Er hatte sich neben sie gesetzt, um es Herrn von Guersaint bequemer zu machen, der seit Bordeaux wieder in seinen tiefen Kindesschlummer verfallen war. Die Helligkeit der Lampe war ihr unangenehm, er zog die Kappe vor, und sie befanden sich im Schatten, einem durchsichtigen, unendlich süßen Schatten. In diesem Augenblick mußte der Zug wohl durch die Ebene rollen. Wie in einem endlosen Fluge, in einem ungeheuren und regelmäßigen Flügelrauschen glitt er durch die Nacht dahin. Durch das Fenster, das sie herabgelassen hatten, drang eine köstliche Frische aus den schwarzen Feldern, aus den unergründlichen Feldern, in denen nicht einmal mehr das kleine, verlorene Licht eines Dörfchens leuchtete. Einen Augenblick hatte er sich zu ihr gewandt und gesehen, daß sie die Augen geschlossen hielt. Aber er erriet, daß sie nicht schlief, sondern die tiefe Ruhe inmitten des donnergleichen Gerassels auf dieser Flucht durch die Schatten auskostete. Und wie sie schloß auch er die Augen und träumte lange Zeit.

Noch einmal erstand vor ihm die Vergangenheit, das kleine Häuschen in Neuilly, der Kuß, den sie hinter der blühenden Hecke unter den von der Sonne gestreiften Bäumen getauscht hatten. Wie fern das schon lag, und welchen Duft sein ganzes Leben davon bewahrt hatte!

Dann kam ihm die Bitterkeit des Tages in den Sinn, an dem er Priester geworden war. Nie sollte sie Frau sein, und er hatte eingewilligt, kein Mann mehr zu sein. Das aber würde ihr ewiges Unglück werden, da die ironische Natur wieder eine Gattin und eine Mutter aus ihr machte. Hätte er noch den Glauben bewahrt, er hätte darin den ewigen Trost gefunden. Aber vergeblich hatte er alles versucht, um ihn wiederzuerlangen: seine Reise nach Lourdes, seine Anstrengungen vor der Grotte, seine Hoffnung für einen Augenblick, er werde schließlich glauben, wenn Marie auf wunderbare Weise geheilt würde, dann der vollständige, unheilbare Untergang, als die angekündigte Heilung sich in wissenschaftlicher Weise vollzogen hatte. Und auch ihr reiner und schmerzlicher Traum, die Geschichte ihrer in Tränen getränkten Zärtlichkeit rollte sich vor seinem Blicke ab. Sie selbst, die sein trauriges Geheimnis durchschaut hatte, war nur nach Lourdes gekommen, um den Himmel um das Wunder seiner Bekehrung zu bitten. Während der Fackelprozession, als sie unter dem Duft der unsichtbaren Rosen allein geblieben waren, hatten sie, einer im andern verloren, mit dem glühenden Wunsche ihres gegenseitigen Glückes, einer für den andern gebetet. Vor der Grotte hatte sie ferner die Heilige Jungfrau angefleht, sie zu vergessen und ihn zu retten, wenn sie nur eine Gunst von ihrem göttlichen Sohn erlangen könnte. Als sie dann geheilt war und mit ihrem Wägelchen die Treppen hinauf gezogen war, hatte sie, außer sich, von Liebe und Dankbarkeit geschwellt, sich erhört geglaubt und ihm laut ihre Freude zu erkennen gegeben, daß sie beide zusammen, zusammen gerettet wären. Ach, wie schwer fiel ihm diese Lüge aufs Herz, diese Lüge der Zuneigung und des Mitleids, wie schwer drückte ihn der Irrtum, in dem er sie gelassen hatte. Das war der schwere Stein, der ihn jetzt im Grunde seines freiwilligen Grabes einschloß. Er erinnerte sich an den furchtbaren Anfall, an dem er im Schatten der Krypta fast gestorben war, an sein Schluchzen, seine brutale Empörung, sein Verlangen, sie ganz für sich zu behalten, sie zu besitzen, da er wußte, daß sie ihm gehörte. Er erinnerte sich an diese ganze grollende Leidenschaft seiner erwachten Männlichkeit, die dann nach und nach eingeschläfert und unter seinen Tränen ertränkt worden war. Dann hatte er, einem brüderlichen Mitleid nachgebend, um die göttliche Illusion in ihr nicht zu zerstören, den heroischen Schwur geleistet, sie zu belügen, den Schwur, an dem er zugrunde ging.

Nun zitterte Pierre in seiner Träumerei. Würde er auch die Kraft haben, diesen Schwur für immer zu halten? Hatte er nicht, da er sie auf dem Bahnhof erwartete, in seinem Herzen eine Ungeduld, ein eifersüchtiges Verlangen entdeckt, dieses allzu geliebte Lourdes zu verlassen, und zwar in der unbestimmten Hoffnung, sie würde in der Ferne wieder ihm angehören? Wäre er nicht Priester gewesen, er hätte sie geheiratet. Welch Entzücken, welches Dasein voll seligen Glückes, sich ganz ihr zu widmen, sie ganz zu besitzen, und in dem teuren Kinde, das sie gebären würde, wieder aufzuleben! Es gibt sicher nichts Göttlicheres als den Besitz, das Leben, das sich ergänzt und erzeugt. Und sein Traum verschwamm, er sah sich verheiratet, und das erfüllte ihn mit einer so lebhaften Freude, daß er sich fragte, warum sein Traum denn nicht zu verwirklichen wäre?

Sie hatte noch die Unwissenheit eines kleinen Mädchens von zehn Jahren, er würde sie unterrichten und ihr eine neue Seele einhauchen. Sie würde begreifen, daß ihr diese Heilung, die sie der Heiligen Jungfrau zu verdanken glaubte, ihr von der einzigen Mutter kam, der reinen und unparteiischen Natur. Aber je mehr er die Dinge überlegte, um so mehr wurde eine Art heiligen Schreckens in ihm wach, der in ihrer religiösen Erziehung seinen Ursprung hatte. Großer Gott! Wußte er denn, ob dieses menschliche Glück, mit dem er sie überhäufen wollte, jemals die heilige Unwissenheit, die kindliche Naivität, in der sie lebte, aufwiegen würde? Welche bitteren Vorwürfe später, wenn sie nicht glücklich wäre! Und doch lag darin die Tapferkeit, lag darin die Vernunft: es war das Leben, der wahre Mann, die wahre Frau, die notwendige und große Vereinigung. Mein Gott, warum wagte er es denn nicht? Eine unendliche Traurigkeit verirrte sich in seine Träume, und er hörte nur noch die Leiden seines armen Herzens. Der Zug rollte mit seinem ungeheuren Flügelrauschen dahin, nur Schwester Hyacinthe war im dumpfen Schlummer des Wagens noch wach.

In diesem Augenblick sagte Marie mit sanfter Stimme:

»Es ist seltsam, Pierre, ich falle um vor Müdigkeit und kann doch nicht schlafen.«

Dann sprach sie mit leichtem Lachen:

»Ich habe Paris im Kopfe.«

»Paris?«

»Ja, ja, ich denke, daß es mich erwartet, daß ich dahin zurückkehren werde. Ach, ich werde in diesem Paris, von dem ich nichts kenne, leben müssen.«

Das war für Pierre eine große Angst. Er hatte es wohl vorausgesehen, sie würde nicht ihm angehören, den anderen würde sie angehören. Paris würde sie ihm nehmen, wenn Lourdes sie ihm zurückgab. Und er stellte sich dieses unwissende Kind vor, wie es unvermeidlich seine Erziehung als Frau vollendete. Die kleine weiße Seele, die bei dem großen Mädchen von dreiundzwanzig Jahren unberührt geblieben war, würde jetzt sehr schnell heranreifen. Er sah das junge Mädchen lachend, gesund, wie sie überall herumlief, alles betrachtete und lernte und eines Tages dem Gatten begegnete, der ihre Erziehung vollenden würde.

»Sie nehmen sich also vor, sich in Paris zu amüsieren?«

»Ich, mein Freund? Oh, was sagen Sie da ... Sind wir reich genug, um uns zu amüsieren? Nein, ich dachte an meine arme Schwester Blanche und fragte mich, was ich wohl in Paris tun könnte, um ihr das Leben ein wenig zu erleichtern. Sie ist so gut, sie macht sich so viel Mühe, und ich will nicht, daß sie allein das ganze Geld verdient.«

Und nach einer neuen Pause, als er tiefbewegt schwieg, fuhr sie fort:

»Früher, bevor ich allzu stark litt, zeichnete ich ziemlich gut Miniaturbilder. Sie erinnern sich, ich habe ein Bild von Papa gemacht, das alle Welt sehr hübsch fand ... Nicht wahr, Sie werden mir helfen und mir Aufträge verschaffen?«

Dann sprach sie von dem neuen Leben, das sie führen wollte. Sie wollte ihr Zimmer einrichten und es von ihren ersten Ersparnissen mit einem Kretonnestoff mit kleinen blauen Blumen tapezieren lassen. Blanche hatte ihr von den Warenhäusern erzählt, in denen man alles billig kauft.

Es mußte so amüsant sein, mit Blanche auszugehen, ein wenig herumzulaufen, denn sie kannte ja nichts und hatte, seit ihrer Kindheit an ihr Bett gefesselt, nie etwas gesehen. Pierre, der sich einen Augenblick beruhigt hatte, litt von neuem, als er dieses glühende Verlangen zu leben bei ihr erkannte, diesen Eifer, alles zu sehen, alles kennenzulernen und alles zu kosten. Das war endlich das Erwachen der Frau, die sie werden mußte, die er früher geahnt und im Kinde angebetet hatte, ein Geschöpf der Fröhlichkeit und Leidenschaft, mit seinem blühenden Munde, seinen Sternenaugen und seinem milchweißen Teint.

»Oh, ich werde arbeiten und dann – Sie haben recht, Pierre – werde ich mich amüsieren, weil es doch nichts Böses ist, nicht wahr, fröhlich zu sein?«

»Nein, nein, gewiß nicht, Marie.«

»Sonntags werden wir aufs Land gehen, oh, sehr weit hinaus, in die Wälder, wo es schöne Bäume gibt... auch ins Theater gehen, wenn uns Papa dahin führt. Man hat mir gesagt, daß es viele Stücke gibt, die man hören kann... Aber das ist noch nicht alles. Wenn ich nur ausgehe, durch die Straßen gehe und die Dinge sehe, werde ich glücklich sein und heiter nach Hause zurückkehren... Es ist ja so schön zu leben, nicht wahr, Pierre?«

»Ja, ja, Marie, es ist sehr schön.«

Eine leichte Todeskälte überfiel ihn, er kämpfte mit dem Bedauern, kein Mann mehr zu sein. Warum versuchte sie ihn in dieser Weise mit ihrer verletzenden Arglosigkeit, warum sagte er ihr nicht die Wahrheit, die ihn vernichtete! Er hätte sie genommen, er hätte sie erobert. Nie hatte sich ein schrecklicherer Kampf in seinem Herzen und in seinem Willen abgespielt. Einen Augenblick war er im Begriff, die nie wieder gutzumachenden Worte auszusprechen.

Aber schon fuhr sie mit ihrer fröhlichen Kinderstimme fort:

»Oh, sehen Sie doch den armen Papa, wie zufrieden er ist, so fest zu schlafen.«

In der Tat schlief Herr von Guersaint ihnen gegenüber auf der Bank, mit glücklicher Miene wie in seinem Bett, ohne das Bewußtsein des beständigen Schüttelns zu haben. Dieses eintönige Schwanken und Stampfen schien übrigens nur noch ein Wiegen zu sein, das den Schlummer des ganzen Wagens vertiefte. Es war die vollständige Hingabe, die Vernichtung der Körper, inmitten der Unordnung der Gepäckstücke, die gleichsam unter dem rauchigen Lichte der Lampen ebenfalls eingeschläfert worden waren. Und das rhythmische Rasseln der Räder hörte nicht auf in dem unbekannten Schattendunkel, das der Zug noch immer durchbrauste. Nur manchmal, vor einem Bahnhof, auf einer Brücke, verlangsamte sich der Wirbelwind der Fahrt, und es blies plötzlich ein heftiger Sturm. Dann begann das einförmige, einlullende Gerassel von neuem.

Marie ergriff sanft Pierres Hand. Sie waren so verloren, so allein unter dieser ganzen schlafenden Gesellschaft, in diesem tiefen, donnernden Frieden des von Nacht umhüllten Zuges. Die Traurigkeit, die sie bis dahin verheimlicht hatte, erwachte von neuem und verdunkelte ihre großen blauen Augen.

»Mein guter Pierre, nicht wahr, Sie werden oft zu uns kommen?«

Als er fühlte, wie ihre kleine Hand die seine drückte, hatte er gezittert. Sein Herz lag auf seinen Lippen, und er entschloß sich zu sprechen. Dennoch hielt er sich zurück und stammelte:

»Marie, ich bin nicht immer frei, ein Priester kann nicht überall hingehen.«

»Ein Priester«, wiederholte sie, »ja, ja, ein Priester, ich begreife.«

Jetzt sprach sie und bekannte das tödliche Geheimnis, unter dem ihr Herz seit der Abfahrt erstickte. Sie beugte sich noch mehr vor und fuhr mit noch leiserer Stimme fort:

»Hören Sie, mein guter Pierre, ich bin entsetzlich traurig, ich sehe aus, als wäre ich zufrieden, aber der Tod wohnt in meiner Seele ... Sie haben mich gestern belogen.«

Er erschrak und verstand zuerst nicht.

»Ich habe Sie belogen?«

Eine gewisse Scham hielt sie zurück, sie zögerte noch in dem Augenblick, da sie in dies Geheimnis eines Gewissens drang, das nicht ihr eigenes war. Dann sprach sie im Tone einer Freundin, einer Schwester:

»Ja, Sie haben mich glauben lassen, Sie wären mit mir gerettet, und das war die Unwahrheit, Pierre, denn Sie haben den verlorenen Glauben nicht wiedergefunden.«

Großer Gott, sie wußte es also! Das war für ihn ein Gefühl tiefer Betrübnis, eine so erschütternde Katastrophe, daß er seine Qualen darüber vergaß. Zuerst wollte er auf seiner Lüge brüderlichen Mitleids bestehen.

»Aber ich versichere Sie, Marie! Wie kann Ihnen nur ein so häßlicher Gedanke kommen?«

»Oh, mein Freund, schweigen Sie, wenigstens aus Mitleid! Es würde mir zu wehe tun, wollten Sie mich noch weiter belügen ... Sehen Sie, es war da unten auf dem Bahnhof, im Augenblick der Abfahrt, als der unglückliche Mann starb. Der gute Abbé Judaine war niedergekniet und hätte für die Ruhe dieser unruhigen Seele Gebete gesprochen ... Da habe ich alles gefühlt, alles begriffen, als ich sah, daß Sie sich nicht auch auf die Knie warfen, als das Gebet nicht auch auf Ihre Lippen stieg.«

»Wahrhaftig, Marie, ich versichere Sie ...«

»Nein, nein, Sie haben nicht für den Toten gebetet, Sie glauben nicht mehr ... Und dann ist es auch etwas anderes, ich errate alles, alles, was zu mir von Ihnen kommt, diese Verzweiflung, die Sie nicht verbergen können, die Schwermut Ihrer armen Augen, sobald sie meinem Blick begegnen ... Die Heilige Jungfrau hat mich nicht erhört, sie hat Ihnen den Glauben nicht wiedergegeben, und ich bin sehr unglücklich!«

Sie weinte, und eine heiße Träne fiel auf die Hand des Priesters, der sie noch immer hielt. Das brachte ihn aus der Fassung, er hörte auf zu kämpfen, gestand und ließ ebenfalls seine Tränen fließen, während er mit ganz leiser Stimme flüsterte:

»Oh, Marie, auch ich bin sehr unglücklich, sehr unglücklich!«

Einen Augenblick schwiegen sie in ihrem grausamen Kummer, den Abgrund ihrer Glaubensanschauungen zwischen sich zu fühlen. Nie würden sie mehr einander angehören, und besonders brachte sie ihre von nun an endgültige Ohnmacht zur Verzweiflung, daß sie sich nicht mehr nähern durften, da der Himmel selbst sich geweigert hatte, das Band wieder zu knüpfen. Seite an Seite weinten sie über ihre Trennung.

»Und ich habe doch«, fuhr sie mit schmerzerfüllter Stimme fort, »so innig für Ihre Bekehrung gebeten, ich war so glücklich!... Es war mir, als verschmelze Ihre Seele mit der meinen, und es war ein so köstliches Gefühl, daß wir zusammen, zusammen gerettet worden waren! Ich fühlte in mir Kräfte zum Leben, Kräfte, um die Welt aus ihren Angeln zu heben!«

Er antwortete nicht, und seine Tränen flössen noch immer ohne Ende.

»Und sich sagen zu müssen«, fuhr sie fort, »daß ich allein geheilt worden bin, daß ich dieses große Glück ohne Sie besitze! Wenn ich Sie verlassen und traurig sehe, dann zerreißt es mir das Herz, während ich mit Gnaden und Freuden überhäuft bin. Ach, die Heilige Jungfrau ist streng gewesen! Warum hat sie nicht zu derselben Zeit, da sie meinen Körper heilte, auch Ihre Seele geheilt?«

Die letzte Gelegenheit bot sich dar, er hätte sprechen müssen, um endlich die Klarheit des Verstandes in dieses unschuldige Kind eindringen zu lassen, er hätte das Wunder erklären müssen, damit das Leben, nachdem es sein heilendes Werk an ihr vollendet hatte, seinen Triumph dadurch krönte, daß es sie einander in die Arme warf. Auch er war genesen, denn sein Verstand war jetzt gefestigt, und er weinte nicht, weil er den Glauben verloren hatte, er weinte, weil er sie verlor. Aber ein unbesiegliches Mitleid überkam ihn in seinem großen Kummer. Nein, nein, er würde den Frieden dieser Seele nicht stören, er würde ihr ihren Glauben nicht rauben, der vielleicht eines Tages in den Schmerzen dieser Welt ihr einziger Halt sein könnte. Noch kann man weder von den Kindern noch von den Frauen den bitteren Heroismus des Verstandes verlangen. Er fühlte, daß er nicht die Kraft, er glaubte, daß er nicht einmal das Recht dazu habe. Das wäre ihm wie ein Raub, wie ein abscheulicher Mord erschienen. Und er sprach nicht, seine Tränen flössen glühender in diesem Opfer seiner Liebe, der verzweifelten Weihe seines Glücks, das er darbrachte, damit sie arglos, unwissend und fröhlich bliebe.

»Marie, wie unglücklich bin ich! Es gibt auf den Landstraßen, es gibt in den Zuchthäusern keine Unglücklichen, die unglücklicher sind als ich! Marie, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten, wie unglücklich ich bin!«

Sie war außer sich, preßte ihn in ihre zitternden Arme und wollte ihn in schwesterlicher Umschlingung trösten. In diesem Augenblicke erriet das Weib, das in ihr erwachte, alles, und auch sie schluchzte über alle menschlichen und göttlichen Willenskräfte, die sie trennten. Noch hatte sie nie an diese Dinge gedacht, aber plötzlich sah sie das Leben mit seinen Leidenschaften, seinen Kämpfen, seinen Qualen. Und sie suchte nach Worten, um dies blutende Herz ein wenig zu beruhigen, und stammelte ganz leise, tiefbetrübt, daß sie nichts fand, das zärtlich genug klang:

»Ich weiß, ich weiß.«

Dann fand sie das Wort. Aber wie wenn das, was sie zu sagen hatte, nur von Engeln gehört werden durfte, wurde sie unruhig und blickte sich im Wagen um. Der Schlummer schien hier noch drückender geworden zu sein, ihr Vater schlief noch immer mit der Unschuld eines großen Kindes. Keiner der Pilger, keiner der Kranken hatte sich in dem rauhen Schütteln, das sie dahintrug, gerührt. Selbst Schwester Hyacinthe hatte, der drückenden Ermüdung nachgebend, die Augen geschlossen, nachdem sie ebenfalls die Kappe über die Lampe ihres Abteils gezogen hatte. Es wogte nur noch ein unklarer Schatten, undeutliche Körper unter namenlosen, kaum wahrnehmbaren Gegenständen, die ein Sturm, eine wütende Flucht ohne Ende durch die Schatten dahinpeitschte. Und sie mißtraute auch dieser schwarzen Landschaft, deren unbekannte Fläche an den beiden Seiten des Zuges vorübersauste, ohne daß man wissen konnte, welche Wälder, welche Ströme, welche Hügel man durchfuhr. Soeben waren lebhafte Strahlen erschienen, vielleicht ferne Schmiedewerkstätten, traurige Lampen von Arbeitern oder Kranken. Aber von neuem umfloß sie tiefe Nacht, ein dunkles, unendliches, unbekanntes Meer, auf dem man immer weiter vordrang und sich doch überall und nirgends befand.

Nun legte Marie, unter ihren Tränen errötend, ihre Lippen an das Ohr Pierres:

»Hören Sie mich, liebster Freund... Es besteht ein großes Geheimnis zwischen der Heiligen Jungfrau und mir... Ich hatte ihr geschworen, es niemand zu sagen, aber Sie sind zu unglücklich, Sie leiden zu sehr, und sie wird mir verzeihen, ich will es Ihnen daher anvertrauen.«

Dann hauchte sie:

»Während der Nacht der Andacht, Sie wissen, in der Nacht glühender Ekstase, die ich vor der Grotte zubrachte, habe ich mich durch ein Gelübde verpflichtet und der Heiligen Jungfrau versprochen, ihr das Opfer meiner Jungfräulichkeit zu bringen, wenn sie mich heilte. Sie hat mich geheilt, und niemals, hören Sie wohl, Pierre, niemals werde ich jemanden heiraten.«

Welch unerwartetes Glück! Er glaubte, Tau fiele auf sein armes, gemartertes Herz. Das war ein göttliches Zaubermittel, eine köstliche Erleichterung. Wenn sie keinem andern angehörte, so würde sie doch stets ein wenig ihm angehören. Wie sie sein Leiden begriffen hatte, und wie sie die Worte fand, die sie sagen mußte, um ihm sein Dasein erträglich zu machen!

Auch er wollte nun glückliche Worte finden, ihr danken und versprechen, daß auch er auf ewig nur ihr angehören wolle, daß er sie lieben würde ohne Ende, wie er sie seit der Kindheit liebte, als das teure Geschöpf, dessen einziger Kuß genügt hatte, um sein ganzes Leben zu verklären. Sie aber, die bereits unruhig war, hieß ihn schweigen, denn sie fürchtete, diese reine Minute zu vergällen.

»Nein, nein, Pierre, sprechen wir nicht mehr. Es wäre vielleicht schlecht ... Ich bin sehr müde und will jetzt ruhig schlafen.«

So blieb sie, den Kopf an seine Schultern gelehnt, und schlief sofort wie eine Schwester ein. Einen Augenblick hielt er sich in dem schmerzlichen Glück der Entsagung wach, das sie eben durchkostet hatten. Diesmal war es zu Ende, das Opfer war vollbracht. Er würde einsam, abgesondert von dem Leben der andern Männer, leben. Nie würde er das Leben kennenlernen, nie würde er einem lebenden Wesen das Dasein geben. Er hatte nur noch den tröstlichen Stolz dieses selbstgewollten Selbstmords, in den er sich in der traurigen Größe der außerhalb der Natur stehenden Existenzen gefügt hatte.

Aber die Erschöpfung überfiel auch ihn, seine Augen schlossen sich, und er schlief ebenfalls ein. Dann glitt sein Kopf herab, seine Wange berührte die Wange seiner Freundin, die sehr sanft, die Stirn an seine Schulter gelehnt, schlief. Zweifellos suchte sie derselbe Traum des Glücks heim, denn ihre zärtlichen Gesichter hatten denselben Ausdruck des Entzückens angenommen. Es war die keusche und leidenschaftliche Hingabe, die Unschuld dieses Zufallsschlummers, der sie so einander in die Arme legte, mit verschlungenen Gliedern, die warmen Lippen nahe beieinander, wie Kinder, die in derselben Wiege liegen. Das war ihre Hochzeitsnacht, die Vollziehung der geistigen Ehe, in der sie leben sollten, eine köstliche Versunkenheit in das Nichts, kaum ein flüchtiger Traum mystischen Besitzes inmitten dieses Wagens voller Elend und des Leidens, der noch immer, noch immer durch die dunkle Nacht dahinrollte. Stunden, Stunden verflogen, die Räder knirschten, die Gepäckstücke schaukelten sich an den Haken, indes aus den eng aneinandergepreßten, zusammengekauerten Körpern nur die ungeheure Ermüdung aufstieg, die große körperliche Ermattung, die man sich im Lande der Wunder zugezogen hatte, da man den Seelen allzu viel zugemutet hatte.

Endlich um fünf Uhr, als die Sonne aufging, fand ein plötzliches Erwachen statt. Dröhnend fuhr man in einen großen Bahnhof. Rufe der Beamten wurden laut, Türen öffneten sich, Leute stießen und drängten sich. Man war in Poitiers, und der ganze Wagen war in Bewegung unter Stimmengewirr, Schreien und Lachen.

Die kleine Sophie Couteau stieg hier aus und verabschiedete sich. Sie umarmte alle Damen und kletterte sogar über die Scheidewand, um von Schwester Claire des Anges Abschied zu nehmen, die niemand seit dem vorigen Abend wiedergesehen hatte, als sie zart und schweigsam mit ihren geheimnisvollen Augen in ihrem Winkel verschwunden war.

Dann kam das Kind wieder zurück, nahm sein kleines Bündel und zeigte sich namentlich Schwester Haycinthe. und Frau von Jonquière gegenüber sehr zärtlich.

»Auf Wiedersehen, liebe Schwester, auf Wiedersehen, gnädige Frau... Ich danke Ihnen auch für all Ihre Güte.«

»Sie müssen im nächsten Jahre wiederkommen, mein Kind.«

»Oh, liebe Schwester, ich werde nicht verfehlen, das ist meine Pflicht.«

»Und betragen Sie sich recht gut, liebe Kleine, führen Sie sich brav auf, damit die Heilige Jungfrau auf Sie stolz ist.«

»Gewiß, gnädige Frau, sie ist gütig gewesen, und es macht mir großes Vergnügen, sie wiederzusehen.«

Als sie auf dem Bahnsteig stand, beugten sich alle Pilger aus dem Wagen und folgten ihr mit glücklichen Gesichtern, grüßend und schreiend.

»Auf nächstes Jahr, auf nächstes Jahr!«

»Ja, ja, danke schön, auf nächstes Jahr.«

Man sollte das Morgengebet erst in Châtellerault sprechen. Als der Zug nach dem Aufenthalt in Poitiers von neuem in dem leichten Morgenwinde dahinrollte, erklärte Herr von Guersaint mit seiner fröhlichen Miene, er habe trotz der Härte der Bank ausgezeichnet geschlafen. Auch Frau von Jonquière pries sich glücklich wegen dieser guten Ruhe, deren sie so sehr bedurfte, war aber dennoch ein wenig verwirrt, daß sie Schwester Hyacinthe allein bei der Grivotte hatte wachen lassen, die jetzt wieder, von ihrem gräßlichen Husten gepackt, in anhaltendem Fieber mit den Zähnen klapperte. Die anderen Pilger machten ein wenig Toilette, die zehn Frauen im Hintergrunde knüpften ihre Halstücher zu und banden mit einer gewissen Unruhe in ihrer traurigen, armseligen Häßlichkeit die Bänder ihrer Hauben zusammen. Elise Rouquet hörte, das Gesicht auf ihren Spiegel geheftet, nicht auf, ihre Nase, den Mund, die Wangen prüfend zu betrachten, sie bewunderte sich und fand, daß sie entschieden wieder sehr hübsch werde.

Nun empfanden Pierre und Marie wieder ein tiefes Mitleid, als sie Frau Vincent betrachteten, die nichts aus der Starrheit, in der sie sich befand, hatte reißen können, weder der lärmende Aufenthalt in Poitiers, noch das Geräusch der Stimmen, seitdem man von neuem dahinrollte. Auf der Bank ausgestreckt, hatte sie die Augen noch nicht geöffnet und schlummerte noch immer, von schrecklichen Träumen gequält. Und während nach wie vor große Tränen von ihren Wimpern herabrollten, erfaßte sie das Kopfkissen, das man ihr mit Gewalt aufgedrängt hatte, und drückte es in einem bösen Traum innig an die Brust.

Ihre armen Mutterarme, die so lange die sterbende Tochter getragen hatten, ihre unbeschäftigten, auf immer leeren Arme hatten in ihrem Schlummer dieses Kissen gefunden und hielten es in blinder Umarmung wie ein Phantom umschlossen.

Herr Sabathier hatte ein fröhliches Erwachen. Während Frau Sabathier die Decke zurückschlug und sorgfältig seine toten Beine umwickelte, begann er, wieder ganz im Banne der gnadenreichen Illusion, mit glänzenden Augen zu plaudern. Er erzählte, er habe von Lourdes geträumt, und die Heilige Jungfrau habe sich mit einem Lächeln wohlwollenden Versprechens über ihn geneigt. Und vor Frau Vincent, dieser Mutter, deren Tochter sie hatte sterben lassen, vor der Grivotte dieser elenden, von ihr geheilten Frau, die wieder so rauh in ihr tödliches Leiden zurückgesunken war, freute er sich und sprach wiederholt zu Herrn von Guersaint mit einem Ausdruck unbedingter Gewißheit:

»Ich kehre ganz ruhig nach Hause zurück... Im nächsten Jahre werde ich geheilt werden ... Ja, ja, wie es eben diese liebe Kleine rief: nächstes Jahr, nächstes Jahr!«

Das war die unzerstörbare, die siegreiche Illusion der Gewißheit, die ewige Hoffnung, die nicht sterben wollte, die nach jeder Niederlage auf den Ruinen aller Erwartungen nur um so lebhafter emporblühte.

In Châtellerault ließ Schwester Hyacinthe das Morgengebet sprechen, das Pater und das Ave, das Credo, einen Aufruf an Gott, um das Glück eines glorreichen Tages von ihm zu erbitten. Oh, mein Gott, gib mir die nötige Kraft, um alles Böse zu vermeiden, um alles Gute auszuüben und alle Leiden zu erdulden!


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