Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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III

Als der Zug in Poitiers anhielt, beeilte sich Schwester Hyacinthe, auszusteigen. Die Bahnbediensteten öffneten die Türen. Die Pilger stürzten ins Freie.

»Wartet, wartet!« wiederholte sie immer von neuem. »Laßt mich zuerst heraus, ich will nachsehen, ob es ganz aus mit ihm ist.«

Als sie in die andere Abteilung eingestiegen war, richtete sie den Kopf des Mannes in die Höhe; anfangs glaubte sie, daß er in der Tat hinübergegangen wäre, als sie ihn bleich und mit leeren Augen daliegen sah. Aber sie fühlte noch ein schwaches Atmen.

»Nein, nein! Er atmet noch! Schnell, wir müssen uns beeilen!«

Und als sie die andere Schwester bemerkte, die an diesem Ende des Wagens ihres Amtes waltete, rief sie:

»Ich bitte Sie, Schwester Claire des Anges, holen Sie schnell den Pater Massias herbei, er muß im dritten oder vierten Wagen sein. Sagen Sie ihm, daß wir einen Kranken haben, der in großer Gefahr schwebt; er soll sogleich das geweihte Öl bringen.«

Ohne zu antworten, verschwand die Schwester in dem Gewühle. Sie war klein, fein und zart, mit stillen Gesichtszügen und Märchenaugen und dabei unermüdlich tätig.

Pierre, der in der andern Abteilung stand und dem Vorgange gefolgt war, erlaubte sich eine Bemerkung.

»Sollte man nicht vielleicht auch den Arzt holen?«

»Gewiß, ich dachte auch schon daran«, antwortete Schwester Hyacinthe. »Oh, Herr Abbé, würden Sie wohl so liebenswürdig sein und selbst zu ihm laufen?«

Pierre war gerade im Begriff, in die Kantine im Packwagen zu gehen, um für Marie eine Bouillon zu holen. Die Kranke, die sich etwas leichter fühlte, seitdem sie nicht mehr hin und her geschüttelt wurde, hatte die Augen geöffnet und sich von ihrem Vater in die Höhe setzen lassen. Sie hätte gar zu gerne gehabt, wenn man sie nur einen Augenblick an die frische Luft getragen hätte. Aber sie fühlte, daß dies zuviel verlangt wäre, daß es zuviel Mühe machen würde, sie dann wieder in den Wagen hineinzuschaffen. Herr von Guersaint, der wie die meisten Pilger und Kranken in dem Wagen gefrühstückt hatte, blieb in der Nähe der offenstehenden Wagentür, um eine Zigarette zu rauchen, während Pierre in die Kantine im Packwagen eilte, wo sich der diensthabende Arzt aufhielt.

In dem Wagen waren noch andere Kranke geblieben, die man unmöglich hätte herausschaffen können. Die Grivotte hatte Erstickungsanfälle und phantasierte. Sie hielt auch Frau von Jonquière im Wagen fest, die sich mit ihrer Tochter Raymonde, mit Frau Volmar und Frau Desagneaux am Büfett verabredet hatte, um dort zusammen zu frühstücken. Aber wie konnte sie dieses unglückliche Geschöpf, das im Todeskampfe zu liegen schien, ganz allein auf der harten Bank lassen? Herr Sabathier erwartete, an seinen Platz festgeschmiedet, seine Gattin, die fortgegangen war, um ihm eine Weintraube zu holen, während Martha ihren Bruder nicht verließ, dessen leises Wehklagen noch immer fortdauerte. Die anderen, die gehen konnten, drängten nach den Türen hin, um auszusteigen, in der Absicht, nach siebenstündiger Fahrt nur einen kurzen Augenblick aus diesen Wagen voll Jammer und Elend herauszukommen. Frau Maze war sofort beiseite geschlichen und hatte einen einsamen Winkel des Bahnhofs aufgesucht, wo sie sich wieder in ihre Melancholie vergrub. Ganz stumpfsinnig vor Schmerz hatte Frau Vêtu die Kraft besessen, einige Schritte zu tun und sich im vollen Sonnenscheine, dessen Brennen sie nicht einmal fühlte, auf eine Bank zu setzen, während Elise Rouquet, die ihr Gesicht wieder mit dem schwarzen Tuche umwickelt hatte, einen Brunnen suchte, von dem Verlangen nach frischem Wasser verzehrt. Frau Vincent wandelte, ihre kleine Rose auf dem Arm, mit langsamen Schritten auf und ab, lächelte zärtlich auf sie herab und suchte sie zu erheitern, indem sie ihr rohbemalte Bilder zeigte, die das schwerkranke Kind anstarrte, ohne etwas davon zu sehen.

Indessen hatte Pierre die größte Mühe, sich durch die Menschenmenge, die den Bahnsteig überflutete, einen Weg zu bahnen. Mehr als tausend Menschen wogten hin und her und drängten sich mühsam aneinander vorbei. Jeder Wagen hatte seine elenden Insassen herausgelassen, wie ein Hospitalssaal, den man ausräumt. Man konnte jetzt sehen, welch eine entsetzliche Menge von Leiden dieser schreckliche weiße Zug mit sich führte. Hier schleppten sich einige Kranke mühsam fort, dort wurden andere getragen und viele blieben auf dem Perron eng zusammengedrückt liegen. Schreie wurden laut und heftige Rufe, und ununterbrochen gab es ein Hasten und Drängen nach der Bahnhofsrestauration. Jeder beeilte sich, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er war so kurz, dieser Aufenthalt von einer halben Stunde, der einzige, den man bis nach Lourdes haben sollte. Den einzig heiteren, erbaulichen Anblick mitten unter den schwarzen Soutanen, den abgetragenen Kleidern der armen Leute, die keine bestimmte Farbe mehr hatten, bot das lachende Weiß der kleinen Schwestern von Mariä Himmelfahrt, die in ihren schneeigen Hauben, Schleiern und Schürzen geschäftig hin und her eilten.

Als Pierre endlich an den Kantinenwagen in der Mitte des Zuges kam, fand er ihn vollständig umlagert. Ein Petroleumherd befand sich dort und eine kleine Kücheneinrichtung. Die Bouillon, aus konzentrierter Brühe hergestellt, kochte in schmiedeeisernen Töpfen. Von der in Flaschen eingeschlossenen kondensierten Milch war nur so viel verdünnt und genießbar gemacht worden, als wirklich gebraucht wurde. Verschiedene andere Vorräte waren auf Brettern aufgestapelt, Biskuit, Früchte und Schokolade. Aber beim Anblick der vielen Hände, die sich ihr gierig entgegenstreckten, verlor die Schwester Saint-François, die mit der Leitung der Küche betraut war, eine kleine, dicke Frau von fünfundvierzig Jahren, von gutem, frischen Aussehen, den Kopf. Sie mußte die Verteilung fortsetzen, während sie Pierre anhörte, der nach dem Arzte fragte. Als ihr der Priester nähere Erklärungen gab und von dem armen Manne berichtete, der im Sterben lag, ließ sie eine andere an ihren Platz treten, da sie selbst nach dem Unglücklichen sehen wollte.

»Liebe Schwester, ich bin auch hierhergekommen, um Sie um eine Bouillon für eine Kranke zu bitten.«

»Gut, Herr Abbé. Ich werde sie bringen. Gehen Sie nur voraus.«

Der Arzt und der Abbé beeilten sich, und tauschten unterwegs rasch einige Fragen und Antworten aus. Ihnen folgte Schwester Saint-François, welche die Tasse Bouillon vorsichtig durch die Menschenmenge trug. Der Arzt war ein brünetter Mann von ungefähr achtundzwanzig Jahren, mit dem Kopfe eines jungen römischen Cäsaren, eine Gestalt, wie sie noch den sonnenverbrannten Gefilden der Provence entsproßt. Sobald Schwester Hyacinthe ihn erblickte, rief sie erstaunt aus:

»Wie, Sie sind es, Herr Ferrand?«

Sie waren beide auf das höchste verwundert über dieses Zusammentreffen. Die Schwestern von Mariä Himmelfahrt haben die schwere Aufgabe, Kranke zu pflegen, und zwar nur die armen Kranken, die nicht zahlen können, die in elenden Dachkammern mit dem Tode ringen. Sie richten sich häuslich ein in der Nähe des armseligen Lagers, leisten den Kranken alle erdenklichen Dienste, besorgen die Küche und die Haushaltung und leben als Dienerinnen und als Verwandte bis zur Genesung oder bis zum Tode des Kranken. So hatte sich auch eines Tages Schwester Hyacinthe mit ihrem jugendfrischen, milchweißen Gesicht des jungen Mediziners, der damals noch studierte und von einem typhösen Fieber befallen war, angenommen. Wegen seiner großen Armut bewohnte er in der Rue de Four ein kellerartiges Loch, das nicht geheizt werden konnte. Sie hatte ihn nicht mehr verlassen, sie hatte ihn gerettet in ihrer Leidenschaft, für andere zu leben, sie, die einst als kleines Mädchen an einer Kirchentüre gefunden worden war, und die keine andere Familie hatte als die Leidenden, denen sie sich widmete mit ihrem heißen Verlangen nach Liebe. Und welch köstlicher Monat folgte dann, welch vortreffliche Kameradschaft in diesem reinen, durch das Leiden herbeigeführten geschwisterlichen Verhältnisse! Wenn er sie »liebe Schwester« nannte, so war es wirklich seine Schwester, mit der er sprach. Sie war aber zugleich auch seine Mutter, die ihn in die Höhe richtete und wieder in die Kissen bettete wie ihr Kind, ohne daß irgendein anderes Band zwischen ihnen bestanden hätte als wie das innigste Mitleid, die göttliche Liebe der Barmherzigen.

»O Schwester Hyacinthe! Schwester Hyacinthe!« flüsterte er entzückt.

Ein Zufall hatte sie einander wieder zu Gesicht gebracht; denn Ferrand war kein Gläubiger, und wenn er sich hier befand, so kam das nur daher, daß er in der letzten Minute sich bereit erklärt hatte, für einen Freund einzuspringen, der plötzlich verhindert worden war. Seit beinahe einem Jahre war er Assistenzarzt an der Pitié

Die Freude des Wiedersehens ließ sie den Kranken vergessen. Sie faßte sich zuerst wieder.

»Sehen Sie, Herr Ferrand, hier ist der arme Mensch! Wir hielten ihn schon einen Augenblick für tot ... Seit Amboise macht er uns viel Sorge und Angst, und ich habe soeben nach dem geweihten Öle geschickt ... Glauben Sie auch, daß es so schlimm mit ihm steht? Können Sie ihm nicht etwas Lebenskraft einflößen?«

Der junge Arzt untersuchte ihn. Die Teilnahme der anderen Kranken, die in dem Wagen geblieben waren, wurde wach. Marie, der Schwester Saint-François die Tasse Bouillon gereicht hatte, hielt sie mit so heftig zitternder Hand, daß Pierre sie ihr wieder abnehmen und versuchen mußte, ihr den Trank einzuflößen. Aber sie konnte nicht trinken. Ihre Augen ruhten starr und in banger Erwartung auf dem Manne, gleich als ob es sich um ihr eigenes Leben gehandelt hätte.

»Sagen Sie mir«, sagte Schwester Hyacinthe von neuem, »wie finden Sie ihn? Welche Krankheit hat er?«

»Oh, welche Krankheit!« murmelte Ferrand. »Er hat alle möglichen.«

Dann zog er ein kleines Fläschchen aus seiner Tasche und versuchte dem Kranken einige Tropfen durch die fest aufeinander gepreßten Zähne einzuflößen. Dieser stieß einen Seufzer aus, hob die Augenlider langsam in die Höhe und ließ sie gleich wieder niederfallen. Dies war alles, sonst gab er kein anderes Lebenszeichen.

Schwester Hyacinthe, die so gefaßt war und niemals in Verzweiflung geriet, wurde ungeduldig.

»Das ist schrecklich, und Schwester Claire des Anges kommt auch gar nicht zurück! Ich habe ihr doch ganz genau den Wagen des Paters Massias bezeichnet ... Mein Gott! was sollen wir nur machen?«

Schwester Saint-François schickte sich an, in ihren Küchenwagen zurückzukehren, da sie sah, daß sie hier unnötig war. Vorher fragte sie jedoch, ob der Kranke nicht vielleicht nur vor Hunger stürbe. Das käme vor, und sie wäre nur hierhergekommen, um ihre Vorräte anzubieten. Als sie fortging, versprach sie, Schwester Claire des Anges zur Eile antreiben zu wollen, wenn sie ihr zufällig begegnen würde. Sie war noch nicht zwanzig Meter weit entfernt, als sie sich umdrehte und mit der Hand auf die Schwester wies, die mit kleinen und geräuschlosen Schritten zurückkehrte.

An die Tür gelehnt rief Schwester Hyacinthe mit verstärkter, hastiger Stimme:

»So beeilen Sie sich doch! So beeilen Sie sich doch ... Nun, und Pater Massias?«

»Er ist nicht da!«

»Wie? Er ist nicht da?«

»Nein. Man kann unmöglich vorwärtskommen durch die Menschenmasse. Als ich endlich den Wagen erreichte, war Pater Massias schon ausgestiegen und vom Bahnhof weggegangen.«

Der Pater müsse, wie man ihr erzählt habe, eine Zusammenkunft mit dem Kurat von Sainte-Radegonde verabredet haben. In den früheren Jahren hätte der nationale Pilgerzug hier einen Aufenthalt von vierundzwanzig Stunden gehabt. Man hatte die Kranken in das Hospital in der Stadt gebracht und sich in Prozession nach Sainte-Radegonde begeben. Dieses Jahr wäre jedoch ein Hindernis eingetreten, der Zug führe direkt bis Lourdes. Der Pater wäre sicher dort und spräche mit dem Kuraten, mit dem er etwas zu verhandeln hätte.

»Man hat mir versprochen, ihm den Auftrag auszurichten und ihn mit dem geweihten Öle herzuschicken, sobald man ihn finden würde.«

Das war ein wirkliches Unglück für Schwester Hyacinthe. Da die Wissenschaft nicht helfen konnte, so hätte vielleicht das geweihte Öl dem Kranken Erleichterung verschafft. Sie hatte das schon oft gesehen.

»Oh, liebe Schwester, liebe Schwester! Was habe ich für Kummer und Sorge ... Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein und noch einmal hingehen und auf den Pater Massias warten, damit Sie ihn mir gleich bringen können, wenn er zurückkommt?«

»Ja, liebe Schwester«, antwortete Schwester Claire bereitwillig und machte sich mit ihrer ernsten, geheimnisvollen Miene wieder auf den Weg, indem sie sich geschmeidig durch die Menschenmenge wand.

Ferrand war untröstlich darüber, daß er der Schwester Hyacinthe nicht die Freude bereiten konnte, ihn wieder zu beleben. Als er sein Unvermögen durch eine bedauernde Geste zu erkennen gab, bat sie flehentlich:

»Bleiben Sie bei mir, Herr Ferrand, warten Sie, bis der Pater kommt ... Ich werde dann etwas ruhiger sein.«

Er blieb, er half ihr den Mann wieder in die Höhe richten, wenn er von der Bank herunterrutschen wollte. Das Warten zog sich lange hinaus unter dem Unbehagen der in dem Wagen zurückgebliebenen Kranken und der Neugierde derjenigen, die sich draußen anzusammeln begannen.

Ein junges Mädchen drängte lebhaft durch die Menge und wendete sich, auf das Trittbrett steigend, an Frau von Jonquière:

»Warum kommst du denn nicht, Mama? Die Damen warten mit dem Essen auf dich.«

Es war Raymonde von Jonquière. Schon etwas verblüht für ihre fünfundzwanzig Jahre, sah sie ihrer Mutter auffallend ähnlich mit ihrem dunklen Teint, ihrer kräftigen Nase, ihrem großen Munde und ihrer vollen, angenehmen Gestalt.

»Wie du siehst, liebes Kind, kann ich diese arme Frau nicht verlassen.«

Und sie zeigte auf die Grivotte, die wieder einen Hustenanfall hatte, der sie furchtbar mitnahm.

»O Mama, das ist schade! Frau Desagneaux und Frau Volmar haben sich so sehr auf das kleine Frühstück zu vieren gefreut!«

»Was willst du, mein armes Kind? Fangt nur immer ohne mich an ... Sage den Damen, daß ich mich, sobald ich könnte, hier losmachen und sie aufsuchen würde.«

Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke.

»Halt, dort ist ein Arzt! Ich will versuchen, ob ich ihm meine Kranke anvertrauen kann. Geh voraus, ich werde dir sofort folgen. Du weißt, daß ich fast vor Hunger sterbe!«

Raymonde kehrte rasch ans Büfett zurück, während Frau von Jonquière Doktor Ferrand bat, zu ihr zu kommen und zuzusehen, ob er der Grivotte nicht etwas Erleichterung verschaffen könnte. Schon hatte er auf Marthas Wunsch den Bruder Isidor untersucht, dessen Stöhnen nicht aufhörte, und wiederum hatte er mit tiefbetrübter Miene sein Unvermögen zu helfen eingestehen müssen. Dennoch beeilte er sich, dem Rufe der Frau von Jonquière Folge zu leisten, richtete die Schwindsüchtige in die Höhe, da er wollte, daß sie aufrecht sitzen sollte, in der Hoffnung, den Husten dadurch etwas zu mildern, der auch allmählich nachließ. Dann half er Frau von Jonquière, der Kranken einen beruhigenden Trank einzuflößen. Die Anwesenheit des Arztes in dem Wagen fuhr fort, die Kranken aufzuregen. Herr Sabathier, der langsam die Weintraube verzehrte, die ihm seine Frau geholt hatte, befragte ihn nicht, da er die Antwort im voraus kannte und der Sache müde war, nachdem er schon, wie er sagte, alle Fürsten der Wissenschaft konsultiert hatte. Er fühlte jedoch ein gewisses Wohlbehagen, als er sah, wie der Arzt das arme Mädchen in die Höhe richtete, dessen Nachbarschaft ihn störte.

Auf dem Perron wurde der Lärm und das Gedränge immer stärker. Man hatte nur noch eine Viertelstunde Aufenthalt. Wie unempfindlich, mit weitgeöffneten Augen und dennoch ohne etwas zu sehen, schläferte Frau Vêtu ihre Schmerzen in dem glühenden Brande der vollen Mittagsonne ein, während vor ihr mit immer gleichen wiegenden Schritten Frau Vincent ihre kleine Rose spazieren trug. Viele Leute liefen an den Brunnen, um ihre Trinkgefäße, Krüge und Flaschen zu füllen. Frau Maze, die sehr sauber und auf ihr Äußeres bedacht war, ging auch hin in der Absicht, sich die Hände zu waschen; als sie aber hinkam, traf sie Elise Rouquet dort, die gerade dort trank. Sie wich entsetzt zurück vor diesem Schreckbilde, vor diesem Hundskopfe mit dem zerfressenen Munde, an dessen Stelle ein schiefgezogenes Loch ihr entgegengähnte, aus dem die Zunge heraushing. Alle packte dasselbe Entsetzen, alle zauderten, ihre Flaschen, Krüge und Trinkgefäße aus demselben Brunnen zu füllen, aus dem sie getrunken hatte. Eine große Anzahl Pilger hatte sich den Perron entlang gelagert, um zu essen. Man vernahm das Klappern von Krücken, auf denen eine Frau mitten durch die verschiedenen Gruppen hindurch ruhelos hin und her stelzte. Dieses ganze Heer von Kranken, dieses rollende Hospital, das für eine einzige halbe Stunde sich geleert hatte, atmete mitten unter dem unaufhörlichen Auf und Ab der Gesunden in dem vollen Mittagssonnenschein frische Luft.

Pierre verließ Marie nicht, denn Herr von Guersaint war verschwunden, angelockt von dem grünen Fleckchen Erde, das man am Ende des Bahnhofs wahrnahm. Der junge Priester bemühte sich mit lächelnder Miene, als er mit Besorgnis sah, daß sie die Bouillon nicht austrank, den Appetit der Kranken zu erregen, indem er sich erbot, einen Pfirsich zu kaufen. Aber sie dankte; sie litt zu sehr, nichts machte ihr Vergnügen. Sie sah ihn mit ihren großen, traurigen Augen an, hin und her schwankend zwischen ihrer Ungeduld über diesen Aufenthalt, der ihre Heilung so lange verzögerte, und ihrer Angst vor der qualvollen, endlosen Eisenbahnfahrt.

Ein dicker Herr trat heran und berührte Pierres Arm. Sein Haar war ergraut; er trug einen Vollbart, und sein breites Gesicht hatte einen väterlich besorgten Ausdruck.

»Verzeihung, Herr Abbé, befindet sich nicht in diesem Wagen ein Kranker, der mit dem Tode ringt?«

Und als der Priester bejahend antwortete, wurde er sofort sehr freundschaftlich und vertraut.

»Ich heiße Vigneron, bin Abteilungsleiter im Finanzministerium und habe meinen Abschied erbeten, um mit meiner Frau meinen Sohn Gustave nach Lourdes zu begleiten ... Das liebe Kind setzt seine ganze Hoffnung auf die Heilige Jungfrau, zu der wir morgens und abends beten ... Wir sind dort in dem Wagen vor dem Ihrigen, wo wir eine Abteilung zweiter Klasse besetzt haben.«

Dann drehte er sich herum und rief seine Leute herbei.

»Kommt her, kommt her, hier ist es! Der unglückliche Kranke befindet sich wirklich sehr schlecht.«

Frau Vigneron war klein und ihr Gesicht lang und bleich und sehr blutarm, was sich auf ihren Sohn Gustave in erschreckender Weise vererbt hatte. Dieser, ein Knabe von fünfzehn Jahren, der jedoch kaum zehn alt zu sein schien, war schief gewachsen und dürr wie ein Skelett. Das rechte Bein war infolge von Blutarmut zu einem Nichts zusammengeschrumpft, was ihn zwang, an einer Krücke zu gehen. Er hatte ein kleines, feines, etwas schiefes Gesicht, von dem man eigentlich nichts weiter als die Augen sah, aber Augen, aus denen ein klarer Verstand blitzte, die durch die Schmerzen geschärft waren und bis auf den Grund der Seele zu blicken schienen. Eine alte Dame mit gepudertem Gesicht, die die Beine mühsam nachschleppte, folgte, und Herr Vigneron, der sich daran erinnerte, daß er sie vergessen hatte, trat wieder an Pierre heran und holte die Vorstellung nach.

»Frau Chaise, die ältere Schwester meiner Frau, die ebenfalls unsern Gustave, den sie sehr liebhat, begleiten wollte.«

Und sich nahe zu Pierre hinbeugend, fügte er mit leiser Stimme in vertraulichem Tone hinzu:

»Das ist Frau Chaise, die Witwe des Seidenhändlers, ungeheuer reich. Sie hat ein Herzleiden, das ihr viel Sorge und Unruhe verursacht.«

Dann sah die ganze Familie, in eine Gruppe zusammengedrängt, mit lebhafter Neugierde zu, was im Wagen vor sich ging. Immer mehr Zuschauer sammelten sich an, der Vater hob seinen Sohn, damit er alles gut sehen konnte, eine Zeitlang auf seinen Armen in die Höhe, während die Tante die Krücke hielt und die Mutter sich auf die Fußspitzen stellte.

In dem Wagen bot sich noch immer der nämliche Anblick: der Mann saß starr und leblos auf seinem Platze in der Ecke und lehnte den Kopf an die harte Holzwand. Er war ganz bleich, die Augenlider fest geschlossen, der Mund im Todeskampfe verzerrt und das Gesicht von kaltem Schweiße bedeckt, den Schwester Hyacinthe von Zeit zu Zeit mit einem Linnentuche abtrocknete. Sie hatte ihre Ruhe wiedergefunden und rechnete auf den Himmel. Zuweilen warf sie einen Blick auf den Bahnsteig, um zu sehen, ob der Pater Massias immer noch nicht käme.

»Sieh genau hin, Gustave«, sagte Vigneron zu seinem Sohne, »das soll ein Schwindsüchtiger sein.«

Das Kind schien sich leidenschaftlich für diesen Todeskampf zu interessieren. Er hatte keine Furcht, nur ein unendlich trauriges Lächeln flog über sein Gesicht.

»Oh, das ist entsetzlich!« murmelte Frau Chaise, die aus Angst vor dem Tode ganz bleich war.

»Donnerwetter!« sagte Vigneron philosophisch, »jeder zu seiner Zeit, wir sind alle sterblich!«

»Laß ihn wieder herunter«, sagte Frau Vigneron zu ihrem Gatten. »Du ermüdest ihn, wenn du ihn so lange an den Beinen hältst.«

Sie war ebenso wie Frau Chaise eifrig darauf bedacht, das Kind vor jedem Stoß zu bewahren. Der arme Liebling hatte es nötig, sorgfältig behütet und gepflegt zu werden. Jede Minute fürchtete man ihn zu verlieren. Auch der Vater war der Meinung, daß es besser wäre, wenn man ihn wieder in den Wagen zurückbrächte. Als die beiden Frauen den Kleinen fortführten, wandte sich Herr Vigneron noch einmal an Pierre und fügte tiefbewegt hinzu:

»Ach, Herr Abbé! Wenn der liebe Gott ihn uns nehmen würde, was wäre dann unser Leben... Ich will gar nicht von dem Vermögen seiner Tante reden, das auf andere Neffen übergehen würde. Und nicht wahr, es wäre doch ganz gegen die Natur, wenn er vor ihr sterben würde, besonders bei dem Gesundheitszustande, in welchem sie sich befindet... Nun, wir stehen alle in der Hand der Vorsehung, und wir rechnen fest auf die Heilige Jungfrau, die sicherlich ein Wunder tun wird.«

Endlich hatte Frau von Jonquière vom Doktor Ferrand die Versicherung erhalten, sie könne die Grivotte ruhig verlassen. Dennoch gebrauchte sie noch die Vorsicht, Pierre zu sagen:

»Ich sterbe vor Hunger und will einen Augenblick an das Büfett gehen. Aber ich bitte Sie dringend, mich sofort wieder holen zu lassen, wenn der Husten meiner Kranken von neuem beginnt.«

Als es ihr endlich mit großer Mühe gelungen war, sich auf dem Bahnsteig durchzuarbeiten, geriet sie am Büfett in ein anderes Gedränge. Die bemittelteren Pilger hatten mit Sturm die Tische genommen, und besonders viele Priester waren zu dem Geklapper der Messer, Gabeln und Teller herbeigeeilt. Die drei oder vier Kellner kamen nicht dazu, ihres Amtes zu walten, da die Menschenmenge sie daran hinderte, die sich an den Ladentisch herandrängte und Früchte, kleine Brote und kaltes Fleisch kaufte. Im Hintergrunde des Saales frühstückte Raymonde an einem kleinen Tische mit Frau Desagneaux und Frau Volmar.

»Ah, Mama, endlich!« rief sie. »Ich wollte gerade noch einmal kommen und dich holen. Man muß dich doch wenigstens essen lassen.«

Sie lachte, sehr angeregt und beglückt von all den Reiseerlebnissen, von dieser schlechten Mahlzeit, die man mit Windeseile hinunteressen mußte.

»Hier habe ich dir deine Portion Forelle aufgehoben, und dort ist auch noch ein Kotelett, das auf dich wartet... Wir anderen sind schon bei den Artischocken.«

Dann wurde es reizend. Es war ein Winkel des Frohsinns und der Heiterkeit, den man nur mit Vergnügen betrachten konnte.

Besonders anziehend war die junge Frau Desagneaux, eine zarte Blondine mit eigensinnigen, fliegenden Haaren, einem runden, milchweißen Gesicht und Grübchen in Wangen und Kinn. Sie lachte stets und besaß ein gutes Herz. Reich verheiratet, ließ sie seit drei Jahren ihren Mann mitten in den schönen Augusttagen in Trouville allein, um die nationale Pilgerfahrt zu begleiten. Es war ihre Leidenschaft, sich während dieser fünf Tage ganz den Kranken zu widmen. Es war ein wahres Schwelgen in vollständiger Hingabe, die sie hoch beglückte. Ihr einziger Kummer war, daß sie noch kein Kind hatte, und sie bedauerte zuweilen, ihren Beruf als barmherzige Schwester verkannt zu haben.

»Oh, mein liebes Kind«, sagte sie lebhaft zu Raymonde, »bedauern Sie doch Ihre Mutter nicht, daß sie so sehr von ihren Kranken in Anspruch genommen ist. Sie hat doch wenigstens eine Beschäftigung.«

Dann wandte sie sich an Frau von Jonquière und sagte:

»Wenn Sie wüßten, wie langsam die Stunden in unserem schönen Kupee erster Klasse verrinnen! Man darf sich nicht einmal mit einer kleinen Arbeit beschäftigen, das ist verboten... Ich hatte gebeten, man sollte mich bei den Kranken verwenden. Aber es waren schon alle Plätze besetzt, und ich bin deshalb gezwungen, heute nacht den Versuch zu machen, in meiner Ecke zu schlafen.«

Sie lachte und fügte dann hinzu:

»Nicht wahr, Frau Volmar, wir werden schlafen, da die Unterhaltung Sie zu ermüden scheint?«

Diese mußte schon die Dreißig überschritten haben; sie war sehr brünett mit einem schmalen Gesicht, feinen, müden Zügen und prachtvollen Augen, die glühenden Kohlen glichen, über welche für Augenblicke ein Schimmer huschte, der sie auszulöschen schien. Sie war auf den ersten Blick nicht schön. Je länger man sie aber betrachtete, um so berückender, sieghafter und begehrenswerter wurde sie. Übrigens bemühte sie sich, so unbeachtet wie möglich zu bleiben, war sehr bescheiden und zurückhaltend, kleidete sich immer schwarz und trug nie Schmuck, obgleich sie die Frau eines Pariser Diamantenhändlers war.

»Oh«, flüsterte sie, »wenn man mich nur nicht allzusehr hin und her stößt, bin ich zufrieden.«

Sie war schon zweimal nach Lourdes gegangen als Pflegerin, aber man sah sie dort niemals in dem Hospital Notre-Dame des Douleurs, da sie jedesmal nach der Ankunft von einer solchen Abspannung ergriffen wurde, daß sie, wie sie sagte, sich gezwungen sah, das Zimmer zu hüten.

Frau von Jonquière zeigte sich ihr gegenüber von liebenswürdiger Nachsicht.

»Oh, mein Gott! Sie haben jetzt Zeit, sich auszuruhen. Schlafen Sie doch, wenn Sie können. Wenn ich mich nicht mehr aufrechthalten kann, wird auch die Reihe an Sie kommen.«

Dann wandte sie sich an ihre Tochter.

»Du, mein Liebling, wirst guttun, dich nicht zu sehr aufzuregen, wenn du deinen Kopf freihalten willst.«

Aber Raymonde sah sie vorwurfsvoll an und sagte lächelnd:

»Mama, Mama! Warum sagst du mir das... Bin ich denn ein unvernünftiges Kind?«

Sie brauchte sich nicht zu rühmen, denn ein starker Wille und der feste Entschluß, sich ihr Leben selbst zu gestalten, sprach aus den grauen Augen und leuchtete aus ihrem jugendlich unbekümmerten Wesen und der lauten Freude am Leben hervor.

»Es ist wahr«, gestand die Mutter etwas verwirrt, »dieses kleine Mädchen hat zuweilen mehr recht als ich... Bitte, gib mir jetzt das Kotelett her! Gott im Himmel, was hatte ich für einen Hunger!«

Das Frühstück nahm seinen Fortgang, durch das Lachen der Frau Desagneaux und Raymondens erheitert und gewürzt. Diese lebte ordentlich auf, und ihr Gesicht, das schon etwas verblüht war, bekam die rosige Farbe des zwanzigsten Jahres wieder. Man nahm doppelte Bissen, denn man hatte nur noch zehn Minuten. In dem Saale herrschte jetzt ein noch größerer Lärm als vorher, da die Gäste fürchteten, keine Zeit mehr zum Kaffee zu haben.

Da erschien Pierre. Die Grivotte hatte einen neuen Erstickungsanfall bekommen. Frau von Jonquière verzehrte rasch ihre Artischocke. Dann kehrte sie zu ihrem Wagen zurück, nachdem sie vorher ihre Tochter umarmt hatte, die ihr heiter und unter Scherzworten gute Nacht sagte. Inzwischen hatte der junge Priester, als er Frau Volmar mit dem roten Kreuz auf ihrem schwarzen Kleide erblickte, seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, sie hier zu finden. Er kannte sie, denn er besuchte, wenn auch selten, die alte Frau Volmar, die Mutter des Diamantenhändlers, eine alte Bekannte seiner Mutter. Sie war ihm die schrecklichste aller Frauen und von einer solch übertriebenen Frömmigkeit und Strenge, daß sie die Fensterläden stets geschlossen hielt, damit ihre Schwiegertochter nicht auf die Straße sehen konnte. Er kannte ihre Geschichte: seit dem Tage nach ihrer Hochzeit lebte die arme junge Frau wie eine Gefangene zwischen ihrer Schwiegermutter, die sie terrorisierte, und ihrem Manne, der in seiner Eifersucht so weit ging, sie zu schlagen, obgleich er sich selbst verschiedene Mädchen hielt. Man ließ sie kaum allein in die Kirche gehen. Pierre war eines Tages hinter ihr Geheimnis gekommen, als er sie hinter der Kirche rasch einige Worte mit einem eleganten Herrn von vornehmem Aussehen wechseln sah. Verwirrt reichte sie ihm ihre kleine, schmale, kühle Hand.

»Oh, welche Überraschung, Herr Abbé... Es ist schon lange her, daß man sich nicht gesehen hat.«

Sie teilte ihm mit, es sei nun schon das drittemal, daß sie nach Lourdes gehe. Ihre Schwiegermutter habe sie gezwungen, der Association de Notre-Dame de salut beizutreten.

»Es ist merkwürdig, daß Sie sie nicht auf dem Bahnhofe gesehen haben. Sie hat mich in den Zug gesetzt und wird mich auch bei der Rückkehr wieder abholen.«

Das wurde sehr einfach gesagt, aber mit solch scharfer Ironie, daß Pierre sich das Seinige dabei dachte. Er wußte, daß sie an nichts glaubte und die Religion nur ausübte, um sich dadurch von Zeit zu Zeit eine freie Stunde zu verschaffen. Und plötzlich kam ihm die Erkenntnis, daß sie in Lourdes erwartet wurde, daß sie nur ihrer Leidenschaft nacheilte mit ihrem heißen Gesicht und den Flammenaugen, die sie unter dem Schleier toter Gleichgültigkeit verbarg.

»Ich begleite eine Jugendfreundin, ein armes, krankes junges Mädchen«, sagte er seinerseits. »Ich empfehle sie Ihnen, Sie können sie vielleicht pflegen.«

Sie wurde etwas rot, und nun zweifelte er nicht mehr. Raymonde brachte die Rechnung in Ordnung mit der Sicherheit einer Person, die mit Zahlen umzugehen weiß. Frau Desagneaux führte Frau Volmar fort. Die Kellner verloren ihren Kopf vollständig, die Tische leerten sich und alles stürzte eilig davon, als man eine Glocke läuten hörte.

Auch Pierre beeilte sich, zu seinem Wagen zurückzukehren. Da wurde er von neuem aufgehalten.

»Ah, Herr Kurat!« rief er. »Ich habe Sie schon bei der Abfahrt gesehen, aber ich konnte leider nicht bis zu Ihnen gelangen, um Ihnen die Hand zu drücken.«

Er reichte einem alten Geistlichen von ehrwürdigem Aussehen die Hand, der ihn lächelnd betrachtete. Der Abbé Judaine war Kurat in Saligny, einer kleinen Gemeinde der Oise. Von großer und kräftiger Gestalt, hatte er ein breites, rotes, von weißen Locken umrahmtes Gesicht. Man fühlte es, daß er ein frommer Mann war, den weder das Fleisch noch der Verstand jemals gequält hatte. Von ruhiger Frömmigkeit, glaubte er fest und unerschütterlich, ohne jede Anfechtung mit dem bequemen Glauben eines Kindes, das keine Leidenschaft kennt. Nachdem ihn in Lourdes die Heilige Jungfrau von einem Augenleiden durch ein Wunder befreit hatte, von dem man noch jetzt sprach, war sein Glaube noch blinder und inniger geworden.

»Ich bin zufrieden, daß ich Sie hier bei uns sehe, mein junger Freund«, sagte er sanft, »weil die jungen Priester bei diesen Pilgerfahrten viel lernen können ... Man hat mir versichert, daß zuweilen unter ihnen ein aufrührerischer Geist herrsche. Nun, sie sehen, daß alle diese armen Leute hier beten gehen; das ist ein Schauspiel, das einem Tränen entlocken muß ... Und wie ist es möglich, daß man sich nicht Gott in die Hände gibt beim Anblick von so viel geheilten oder doch wenigstens gemilderten Leiden?«

Auch er begleitete eine Kranke. Er zeigte auf eine Abteilung erster Klasse: »Abbé Judaine, reserviert.« Dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu:

»Wissen Sie, es ist Frau Dieulafay, die Frau des großen Bankiers. Ihr Schloß, ein wahrer Königssitz, gehört zu meinem Kirchspiele. Da sie wußten, daß die Heilige Jungfrau sich mir so außerordentlich gnädig erwiesen hatte, haben sie mich gebeten, für die arme Kranke Fürsprache einzulegen. Ich habe Messen gelesen, heiße Gelübde getan ... Sehen Sie, dort, auf der Erde! Sie hat durchaus gewollt, daß man sie einen Augenblick herausschaffen soll trotz der Mühe, die es kosten wird, sie wieder hineinzubringen.«

An einer schattigen Stelle des Perrons lag eine Frau, deren schönes Gesicht von reinem Oval mit wunderbaren Augen auf ein Alter von nicht mehr als sechsundzwanzig Jahren schließen ließ. Sie war von einer schrecklichen Krankheit befallen, dem Schwinden der kalkartigen Salze, das eine Erweichung des ganzen Knochengerüstes nach sich zog. Als sie vor drei Jahren mit einem toten Kinde niedergekommen war, verspürte sie unbestimmte Schmerzen in der Wirbelsäule. Dann waren die Knochen nach und nach dünn geworden und veränderten ihre Form, die Wirbelknochen wurden krumm, die Beckenknochen platt, die Arm- und Beinknochen schrumpften zusammen, und so war sie wie zusammengeschmolzen zu einem kleinen Stückchen Mensch, das man nicht aufrecht setzen konnte, das man nur mit aller erdenklichen Sorgfalt transportieren durfte in der stetigen Angst, es durch die Finger entschlüpfen zu sehen. Der Kopf, der regungslos dalag, bewahrte seine Schönheit. Und diesen beklagenswerten Rest von einer Frau umgab ein verschwenderischer Luxus, der dem Beschauer das Herz noch mehr bedrückte: ihre Tragbahre war mit blauer Seide gepolstert, sie selbst war eingehüllt in kostbare Spitzen. Der Reichtum breitete sich noch über das Totenbett aus.

»Oh, welch ein Jammer!« begann der Abbé Judaine von neuem mit leiser Stimme, »sich sagen zu müssen, daß sie noch so jung, daß sie so reizend und so ungeheuer reich ist! Und wenn Sie wüßten, wie man sie liebt, mit welcher Verehrung man sie noch jetzt umgibt ... Der vornehme Herr, der bei ihr steht, ist ihr Gemahl, und dort die elegante Dame ist Frau Jousseur, ihre Schwester.«

Pierre erinnerte sich, den Namen der Frau Jousseur in den Zeitungen gelesen zu haben. Sie war die Gattin eines Diplomaten und spielte eine große Rolle in der vornehmen katholischen Welt in Paris. Sie war sehr hübsch, mit einer wunderbaren Einfachheit gekleidet und um ihre arme Schwester mit dem Ausdrucke der hingehendsten Aufopferung beschäftigt. Der Gatte, der vor kurzem das große Bankhaus seines Vaters geerbt hatte, war ein schöner, mit peinlicher Sorgfalt gekleideter Mann von fünfunddreißig Jahren, mit hellem Teint. Seine Augen schwammen in Tränen, denn er liebte seine Frau abgöttisch und hatte alle seine Geschäfte im Stich gelassen, da er seine Frau durchaus selbst hatte nach Lourdes bringen wollen. In diesen Anruf der göttlichen Barmherzigkeit setzte er seine letzte Hoffnung.

Pierre hatte viele entsetzliche Leiden gesehen in diesem schmerzensreichen weißen Zuge. Aber nichts erschütterte ihn so wie dieses jammervolle Frauenskelett, das sich mitten in seinen Spitzen und seinen Millionen auflöste.

»Die Unglückliche!« flüsterte er zusammenschaudernd.

Den Abbé Judaine überkam eine Freudigkeit himmlischer Hoffnung. Er sagte vertrauensvoll:

»Die Heilige Jungfrau wird sie heilen, ich habe sie so heiß darum angefleht.«

Jetzt ertönte noch einmal die Glocke, und diesmal war es das Zeichen zur Abfahrt. Noch zwei Minuten hatte man Zeit. Ein letztes Drängen und Hasten begann. Leute kamen zurück mit Nahrungsmitteln in Papier eingewickelt, mit Flaschen und Krügen, die sie an dem Brunnen gefüllt hatten. Viele konnten ihren Wagen nicht wiederfinden, und liefen verzweifelt den Zug entlang, während die Kranken sich unter dem beschleunigten Geklapper der Krücken rascher vorwärtsschoben und andere, denen das Gehen Schwierigkeiten verursachte, am Arme von Pflegerinnen ihre Schritte zu beschleunigen suchten. Vier Männern kostete es unendliche Mühe, Frau Dieulafay wieder in ihre Abteilung erster Klasse zurückzuschaffen. Schon waren die Vignerons, die sich begnügten, zweiter Klasse zu reisen, wieder in ihrer Abteilung mitten unter einer gewaltigen Menge von Körben, Kasten und Koffern, die es dem kleinen Gustave unmöglich machten, seine armen, verkrüppelten Glieder auszustrecken. Dann erschienen sie alle wieder: Frau Maze glitt in ihrer stummen Weise herein; Frau Vincent hob ihr liebes Töchterchen vorsichtig in den Wagen, immer von der Angst gepeinigt, sie plötzlich einen Schrei ausstoßen zu hören. Frau Vêtu mußte hereingeschoben werden, nachdem man sie aus der Betäubung ihrer Schmerzen erweckt hatte. Elise Rouquet, die sich bei ihrem gierigen Trinken naß gemacht hatte, wischte sich ihr furchtbares Gesicht ab. Während jeder seinen Platz wieder einnahm, hörte Marie ihrem Vater zu, der ganz entzückt war, daß er bis an das Ende des Bahnhofs gegangen, bis zu einem kleinen Weichenstellerhäuschen, von wo aus man ein wirklich sehenswertes Landschaftsbild zu sehen bekäme.

»Wünschen Sie, daß wir Sie sofort wieder niederlegen?« fragte Pierre, den das angstverzerrte Gesicht der Kranken tief bekümmerte.

»O nein, nein, nachher!« antwortete sie. »Ich habe noch Zeit genug, die Räder in meinem Kopfe rasseln zu hören!«

Schwester Hyacinthe bat Ferrand, noch einmal nach dem Manne zu sehen, bevor er in den Küchenwagen zurückkehrte. Sie wartete immer noch auf den Pater Massias, sehr verwundert über sein unerklärliches Ausbleiben. Sie verzweifelte aber trotzdem nicht, denn auch Schwester Claire des Anges war noch nicht wieder erschienen.

»Bitte, Herr Ferrand, sagen Sie mir, ob der Unglückliche in direkter Gefahr schwebt.«

Von neuem untersuchte, behorchte und beklopfte ihn der junge Arzt. Dann zuckte er entmutigt die Achseln und sagte mit leiser Stimme:

»Meine feste Überzeugung ist, daß Sie ihn nicht mehr lebend nach Lourdes bringen werden.«

Alle Köpfe fuhren beängstigt in die Höhe. Wenn man nur wenigstens den Namen des Mannes gewußt hätte, woher er käme und wer er wäre! Aber niemand kannte den Unglücklichen, aus dem kein einziges Wort herauszubringen war und der in dem Wagen sterben wollte, ohne daß jemand imstande gewesen wäre, einen Namen auf sein Grab zu setzen!

Schwester Hyacinthe kam der Gedanke, ihn zu durchsuchen.

»Herr Ferrand, sehen Sie doch einmal in seine Taschen!«

Vorsichtig durchsuchte er den Mann. In den Taschen fand er nichts weiter als einen Rosenkranz, ein Messer und drei Sous. Daraus ließ sich nichts entnehmen.

Eine Stimme meldete in diesem Augenblicke die Schwester Claire des Anges und den Pater Massias. Dieser hatte sich bei einem Gespräch mit dem Kuraten von Sainte-Radegonde in einem Wartesaale verspätet. Es entstand eine lebhafte Bewegung. Alles schien einen Augenblick gesund. Aber der Zug wollte abfahren, die Bahnbediensteten schlossen schon die Türen, man mußte die Letzte Ölung in aller Eile vornehmen, wenn man nicht eine zu lange Verzögerung verursachen wollte.

»Hier, hier, verehrungswürdiger Pater!« rief Schwester Hyacinthe. »Ja, ja, steigen Sie ein! Unser unglücklicher Kranker ist hier!«

Pater Massias, der, obgleich fünf Jahre älter als Pierre, doch dessen Mitschüler im Seminar gewesen war, hatte einen großen, hageren Körper mit dem Gesichte eines Aszeten, das ein lichter Bart umrahmte, und in dem zwei unstät hin und her flackernde Augen glühten. Er war weder der von Zweifeln gepeinigte Priester, noch der Priester mit dem blinden Glauben eines Kindes, er war ein Apostel, von glühendem Fanatismus beseelt und stets bereit, zu kämpfen und zu siegen für den unbefleckten Ruhm der Heiligen Jungfrau. Unter seinem schweren Pilgergewande mit großer Kapuze strahlte er von Kampfesmut.

Sogleich hatte er aus seiner Tasche das Fläschchen mit dem geweihten Öl hervorgezogen. Die Zeremonie nahm ihren Anfang unter dem Zuschlagen der Türen und dem hastigen Hin und Her der Pilger, die sich verspätet hatten, während der Stationschef mit unruhigen Blicken auf die Bahnhofsuhr schaute, da er wohl sah, daß er einige Minuten zugeben mußte.

»Credo in unum Deum ...«, murmelte der Pater rasch.

»Amen!« antworteten Schwester Hyacinthe und der ganze Wagen.

Die es vermocht hatten, waren auf den Bänken niedergekniet. Die anderen falteten die Hände, verdoppelten das Zeichen des Kreuzes. Als bei dem Murmeln der Gebete das Klagelied der Agende folgte, da hoben sich die Stimmen, und kräftig erbrauste mit dem Kyrie eleison das heiße Verlangen nach der Vergebung der Sünden. Sein ganzes Leben, das man nicht kannte, sollte ihm vergeben sein und unbekannt und triumphierend sollte er eingehen in das Reich Gottes!

»Christe, exaudi nos.«

»Ora pro nobis, sancta Dei Genitrix.«

Pater Massias hatte die silberne Nadel herausgezogen, an der ein Tropfen geweihten Öles zitterte. Er konnte bei der Unordnung und vor den vielen Neugierigen, die ihre Köpfe durch die Tür steckten, nicht daran denken, die Ölung, wie es sonst gebräuchlich war, an allen Sinneswerkzeugen vorzunehmen als den Türen, die das Schlechte eindringen lassen. Wie ihn die Vorschrift ermächtigte, wenn der Fall dringend war, mußte er sich mit einer einzigen Salbung begnügen. Er nahm sie an dem Munde vor, an dem bleichen, halbgeöffneten Munde, aus dem kaum ein leiser Atemzug kam, während das Gesicht mit den geschlossenen Augenlidern, schon vollständig erstarrt, wieder zu Staub und Erde geworden zu sein schien.

»Per istam sanctam unctionem et suam piissimam misericordiam indulgent tibi Dominus, quidquid per visum, auditum, oderatum, gustum, tactum deliquisti.«

Der Schluß der Zeremonie ging in dem Lärm und der Abfahrt verloren. Der Pater hatte kaum noch Zeit, den kleinen Tropfen mit dem Stückchen Watte aufzutrocknen, das Schwester Hyacinthe bereit hielt. Er mußte den Wagen verlassen und den seinigen so rasch als möglich zu erreichen suchen, nachdem er die Flasche mit dem geweihten Öle wieder sorgfältig verwahrt hatte.

»Wir können nicht länger mehr warten, es ist unmöglich«, wiederholte der Stationschef in großer Erregung. »Sorgen Sie dafür, daß man sich beeilt!«

Endlich war es so weit. Alles hatte seinen Platz wieder eingenommen und war wieder in seine Ecke zurückgekehrt. Frau von Jonquière hatte, da der Zustand der Grivotte sie immer noch heftig beunruhigte, ihren Platz gewechselt und sich in ihre nächste Nähe gesetzt, Herrn Sabathier gegenüber, der in resigniertem Stillschweigen verharrte. Schwester Hyacinthe war nicht wieder in ihre Abteilung zurückgekehrt, da sie sich entschlossen hatte, bei dem Manne zu bleiben, um über ihn zu wachen und ihn zu pflegen. So konnte sie auch gleich mit für den Bruder Isidor sorgen, dessen Schwester Martha nicht wie sie dem Unglücklichen Erleichterung schaffen konnte. Marie fühlte erbleichend auf ihrem traurigen Lager schon jetzt das Stoßen des Zuges, noch bevor er unter der bleischweren, niederdrückenden Sonnenhitze seine Fahrt von neuem begonnen hatte, mit seiner Krankenlast in der verpesteten Atmosphäre der überhitzten Wagen weiterrollend.

Da ertönte ein lauter, langgezogener Pfiff, die Lokomotive begann zu schnaufen, und Schwester Hyacinthe erhob sich mit den Worten:

»Das Magnifikat, meine lieben Kinder!«


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