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Jetzt zogen die grünen Gefilde von Poitou vorüber, und der Abbé Pierre Froment sah, die Augen starr nach außen gerichtet, die Bäume vorbeifliegen, bis schließlich alles vor seinen Augen verschwamm. Ein Kirchturm erschien und verschwand; alle Pilger bekreuzigten sich. Man sollte um zwölf Uhr fünfunddreißig Minuten in Poitiers sein; der Zug rollte unaufhaltsam weiter und weiter in der erschlaffenden Schwüle des gewitterschwangeren Tages. Und der junge Priester verfiel in eine tiefe Träumerei. Das Singen traf sein Ohr nur noch wie das einschläfernde langsame Auf- und Abwogen des Meeres.
Ein Vergessen der Gegenwart, ein Wiedererwachen der Vergangenheit nahm sein ganzes Wesen gefangen. Er ging in seinen Erinnerungen zurück, soweit ihm das möglich war. Er sah das Haus in Neuilly wieder, in dem er geboren worden war und das er jetzt noch bewohnte, dieses Haus des Friedens und der Arbeit mit seinem Garten, in dem schöne Bäume standen. Nur eine lebende Hecke trennte ihn von dem Garten des Hauses nebenan, das dem seinigen ähnlich war. Er war drei, vielleicht auch vier Jahre alt, und er sah, wie an einem Sommertage in dem Schatten eines alten Kastanienbaumes sein Vater, seine Mutter und sein älterer Bruder an einem Tische beim Frühstück saßen. Sein Vater, Michel Froment, hatte kein besonders auffallendes Gesicht; er sah ihn nur verwischt und unbestimmt vor sich, den berühmten Chemiker, der Mitglied des Instituts war und der sich in seinem Laboratorium vergrub, das er im Hintergrunde seines weltentlegenen Besitztums hatte errichten lassen. Seinen Bruder Guillaume, der damals vierzehn Jahre alt und am Morgen zu einem kurzen Ferienaufenthalte aus dem Lyzeum eingetroffen war, sah er ganz deutlich vor sich, und vor allem seine sanfte Mutter, aus deren Augen eine so rührende Demut sprach. Später hatte er die Sorgen dieser frommen, gläubigen Seele kennengelernt, die sich aus Achtung und Dankbarkeit dazu verstanden hatte, einen Ungläubigen zu heiraten, der fünfzehn Jahre älter als sie war und der ihrer Familie große Dienste geleistet hatte. Er selbst, ein Spätling dieser Ehe, der erst geboren worden, als sein Vater schon in den fünfzig stand, hatte seine Mutter nur als demütige und ergebene Frau ihrem Gatten gegenüber gekannt, den sie heiß liebte mit der schrecklichen Qual im Herzen, ihn dem ewigen Verderben verfallen zu wissen. Und plötzlich stieg ihm eine andere Erinnerung auf, die entsetzliche Erinnerung an den Tag, an dem sein Vater in seinem Laboratorium, durch das Platzen einer Retorte, getötet worden war. Er war damals fünf Jahre alt gewesen. Er erinnerte sich noch der unbedeutendsten Einzelheiten, des Schreies seiner Mutter, als sie den zerrissenen Körper gefunden hatte mitten unter all den Trümmern, und dann ihres Entsetzens, ihres Jammers und ihrer Gebete bei dem Gedanken, Gott habe den Gottlosen, auf ewig Verdammten niedergeschmettert. Da sie seine Papiere und Bücher nicht zu verbrennen wagte, hatte sie sich damit begnügt, sie in ein Zimmer zu schließen, das niemand mehr betrat. Seit diesem Augenblicke wurde sie von dem Bilde der Hölle heimgesucht, und sie hatte nur noch den einen Gedanken, ihren jüngeren Sohn ganz strenggläubig zu erziehen als Sühne und zur Erlösung seines Vaters. Der ältere, Guillaume, war ihr schon entwachsen, er war im Lyzeum auferzogen und ganz von den Gedanken und Bestrebungen des Jahrhunderts erfüllt. Er selbst, der jüngere, durfte das Haus nicht verlassen und erhielt einen Geistlichen als Erzieher. Ihr geheimer Traum, ihre heiße Hoffnung war, ihn eines Tages selbst als Geistlichen zu sehen, wie er seine erste Messe las und die leidenden Seelen tröstete.
Ein anderes lebhaftes Bild tauchte zwischen den grünen, von den Sonnenstrahlen durchbrochenen Zweigen auf. Pierre sah plötzlich Marie von Guersaint, so wie er sie eines Morgens durch ein Loch in dem Zaune erblickt hatte, der die beiden benachbarten Besitzungen trennte. Herr von Guersaint, einem kleinen Adelsgeschlecht der Normandie entstammend, war Architekt, damals gerade mit der Erbauung von Arbeitersiedlungen mit Kirche und Schule beschäftigt. Eine schwere Aufgabe, zu der er nicht genügende Vorbereitung besaß und bei der er seine dreimalhunderttausend Frank Vermögen riskierte, dank der ihm eigenen Hartnäckigkeit und künstlerischen Unvorsichtigkeit. Die gleiche tiefe Frömmigkeit hatte Frau von Guersaint mit Frau Froment zusammengebracht. Aber die erstere war eine entschlossene, strenge Frau, die das Regiment führte und mit eiserner Hand verhinderte, daß Katastrophen über das Haus hereinbrachen. Sie erzog ihre beiden Töchter streng religiös. Die ältere war schon ernst wie sie, während die jüngere, obgleich sehr fromm, doch Spiel und Fröhlichkeit sehr liebte in dem lebhaften Jugenddrange, der sich in ihrem schönen, klangvollen Lachen kundgab. Seit ihrer frühesten Jugend spielten Pierre und Marie zusammen. An jenem sonnenhellen Morgen, an dem er sie jetzt wieder vor sich sah, wie sie die Zweige auseinanderbog, war sie zehn Jahre alt. Er zählte sechzehn Jahre und sollte am folgenden Dienstag in das Seminar eintreten. Niemals war sie ihm so schön erschienen. Ihre wie reines Gold glänzenden Haare waren so lang, daß sie, wenn sie sich lösten, sie ganz umhüllten. Er sah ihr Gesicht von damals ganz deutlich vor sich, ihre runden Backen, ihre blauen Augen, ihren roten Mund und vor allem den Glanz ihrer schneeweißen Haut. Sie war heiter und strahlend wie die Sonne. An ihren Augenlidern schimmerten Tränen, denn sie wußte, daß er fortgehen würde. Sie saßen zusammen im Schatten der Hecke im Hintergrunde des Gartens. Ihre Hände waren verschlungen und ihre Herzen schwer. Dennoch hatten sie niemals bei ihren Tändeleien Schwüre ausgetauscht, so unberührt waren noch ihre Seelen. Aber am Abende vor ihrer Trennung trat ihnen ihre zärtliche Liebe auf die Zunge. Sie sprachen davon, ohne es zu wissen, sie schwuren, unablässig aneinander zu denken und sich eines Tages wiederzufinden, wie man sich im Himmel wiederfindet, um glücklich zu sein. Dann hatten sie sich in die Arme genommen, ohne weiter zu fragen, und sich bis zum Ersticken geküßt und heiße Tränen vergossen. Es war eine köstliche Erinnerung, die Pierre damals mit fortgenommen hatte und die er immer noch lebendig in sich fühlte, trotzdem so viele Jahre und so viel schmerzliches Entsagen dazwischen lagen.
Ein heftiger Stoß weckte ihn aus seinen Träumereien. Er blickte im Wagen umher und sah in undeutlichen Umrissen die Gestalten der Leidenden; Frau Maze saß, unbeweglich und von ihrem Schmerz betäubt da. Die kleine Rose stöhnte leise auf den Knien ihrer Mutter. Einen Augenblick trat die heiter lächelnde Gestalt der Schwester Hyacinthe in den Vordergrund mit ihrer weißen Haube und dem weißen Brusttuche. Dann verschwamm alles von neuem in einem Nebel, der aus der fernen Vergangenheit herbeizog. Es blieb nur noch der einschläfernde Gesang der undeutlichen Traumstimmen, die aus dem Unsichtbaren hervordrangen.
Später war Pierre auf dem Seminar. Deutlich erschienen ihm wieder die Schulzimmer, der kleine Klosterhof mit seinen Bäumen. Plötzlich aber sah er wie in einem Spiegel die Gestalt eines jungen Menschen, so, wie er damals war, und er betrachtete sie genau, er zergliederte sie, wie die Gestalt eines Fremden. Groß und schlank, hatte er ein langes Gesicht mit einer stark entwickelten Stirn, hoch und gerade wie ein Turm, während die Kinnbacken zurücktraten und in einem sehr feinen Kinn endigten. Er schien ganz Verstand zu sein; nur der etwas große Mund war zart. Wenn das ernste Gesicht einen freundlicheren Ausdruck annahm, dann verrieten der Mund und die Augen eine unendliche Zärtlichkeit, ein unstillbares Verlangen zu lieben, sich hinzugeben und zu leben. Daneben stand die geistige Leidenschaft hochstehender Wesen, Neues zu lernen und zu erfahren. Diese Begierde hatte stets an ihm gezehrt. Mit Erstaunen gedachte er dieser Seminarjahre wieder. Wie hatte er nur so lange Zeit die herbe Lehre des blinden Glaubens ruhig hinnehmen können, wie hatte er sich gehorsam ohne Prüfung all dem unterwerfen können? Man hatte von ihm eine vollständige Preisgabe seines Verstandes verlangt. Er hatte sich zwingen lassen und war schließlich dahin gelangt, das quälende Verlangen nach Wahrheit ganz in sich zu ersticken. Ohne Zweifel hatten ihn die Tränen seiner Mutter gerührt. Er kannte nur den Wunsch, ihr das erträumte Glück zu verschaffen. Dennoch erinnerte er sich in dieser Stunde an manche aufrührerische Gedanken. Er fand in seinem Gedächtnis die in Tränen zugebrachten Nächte wieder, ohne daß er gewußt hatte, warum, Nächte voll unklarer Bilder, in die das freie Leben des Mannes von außen eindrang und in denen dann immer und immer Mariens Bild erschien, so, wie er sie eines Morgens gesehen hatte, erblassend und in Tränen gebadet und ihn mit heißer Inbrunst küssend. Dieses Bild blieb ihm jetzt allein vor Augen. Die Jahre seiner frommen Studien mit ihren eintönigen Stunden, mit ihren immer gleichen Übungen und Zeremonien verschwanden in einem unklaren Halbdunkel, erfüllt von einer schwülen Totenstille.
Dann gingen ihm, gerade als man eine Station durchfahren hatte, bei dem betäubenden Gerassel der Räder eine Menge Dinge in buntem Durcheinander durch den Sinn. Sein Traum verwirrte sich. Ein langes Unwohlsein das ihn in seinen Studien sehr zurückbrachte, hatte ihn veranlaßt, aufs Land zu gehen. Lange Zeit hatte er Marie nicht wiedergesehen. Zweimal verbrachte er seine Ferien in Neuilly, ohne daß er sie dort antraf, denn sie befand sich fast immer auf Reisen. Er wußte, daß sie sehr leidend war infolge eines Sturzes vom Pferde, den sie im Alter von dreizehn Jahren getan hatte, gerade als sie Weib zu werden anfing. Ihre Mutter schleppte sie in ihrer Verzweiflung jedes Jahr an einen andern Kurort. Dann hatte er den neuen schweren Schlag, der sie getroffen, erfahren, den plötzlichen Tod ihrer strengen, aber so besorgten Mutter: in fünf Tagen hatte sie eine Lungenentzündung hinweggerafft, die sie sich bei einem Abendspaziergang in La Boule geholt, als sie ihren Mantel ausgezogen hatte, um ihn Marie um die Schultern zu legen. Ihr Vater hatte in Eile abreisen und seine vor Schmerz halb wahnsinnige Tochter und die tote Mutter heimbringen müssen. Das schlimmste war, daß nach dem Hinscheiden der Mutter sich die Verhältnisse der Familie wieder verschlechterten und nach und nach immer verwickelter wurden, da der Architekt sein Vermögen, ohne zu rechnen, in den Abgrund seiner Unternehmungen warf. Marie konnte sich nicht mehr von ihrem Krankenstuhl erheben. So war nur Blanche da zur Leitung des Hauswesens, und diese war ganz in Anspruch genommen von den Prüfungen, die sie noch zu bestehen hatte, und von den Zeugnissen, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte, da sie voraussah, daß sie sich eines Tages ihren Lebensunterhalt selbst würde verdienen müssen.
Plötzlich trat vor Pierres Augen eine lichte Erscheinung, die sich loslöste von der Masse dieser halb vergessenen trüben Ereignisse. Es war während eines Urlaubs, den er wegen seines Gesundheitszustandes hatte nehmen müssen. Er war vierundzwanzig Jahre alt, aber in seiner Ausbildung sehr zurück, denn er hatte bis dahin erst die vier niederen Weihen erhalten. Nach seiner Rückkehr sollte er das Unterdiakonat bekommen, das ihn für immer durch einen unverletzlichen Eid band. Und die Szene trat ihm wieder vor die Augen, in dem kleinen Garten in Neuilly, der Guersaint gehörte und in den er einst so oft zum Spielen gekommen war. Man hatte unter die großen Bäume in der Nähe des Zaunes Mariens Krankenstuhl gerollt. Sie waren allein in dem trübseligen Frieden des Herbstnachmittags. Er sah Marie in tiefer Trauer um ihre Mutter halb ausgestreckt mit gelähmten Beinen daliegen, während er selbst ebenfalls schwarz gekleidet schon in der Soutane neben ihr auf einem eisernen Stuhle saß. Sie zählte achtzehn Jahre und sah sehr bleich und abgezehrt aus, ohne daß sie aufgehört hatte, anbetungswert zu sein. Er glaubte, sie wisse, daß sie für immer gelähmt und verdammt sei, niemals Mutter zu werden. Die Ärzte, die sich nicht miteinander verständigen konnten, gaben sie auf. Jedenfalls sie erzählte ihm alles das an jenem trübseligen Nachmittage, indes die welken Blätter auf sie herabregneten. Aber er erinnerte sich nicht mehr ihrer Worte, nur ihr trauriges Lächeln, ihr noch so jugendlich reizendes und doch schon durch den Verzicht auf das Leben gezeichnetes Gesicht waren ihm gegenwärtig. Dann dachte er daran, wie sie den Tag ihrer Trennung ihm ins Gedächtnis zurückrief, ihrer Trennung auf der gleichen Stelle hinter der von den Sonnenstrahlen durchschienenen Hecke. Alles dies war tot, ihre Tränen, ihre Umarmung, ihr Versprechen, sich eines Tages wiederzufinden in der Gewißheit ihres Glückes. Sie hatten sich wiedergefunden, aber was nützte ihnen das jetzt, wo sie ja wie tot war und er im Begriffe stand, für das Leben dieser Welt zu sterben? Von dem Augenblicke an, da es gewiß war, daß sie nicht mehr Frau, weder Gattin noch Mutter werden würde, konnte auch er darauf verzichten, Mann zu sein, und konnte ganz in dem Gott aufgehen, dem seine Mutter ihn geweiht hatte. Er fühlte noch die süße Bitterkeit dieser letzten Zusammenkunft in sich. Marie lächelte schmerzlich über ihre alten Träume und sprach von dem Glück, das er in dem Dienste Gottes finden würde, und er war gerührt bei dem Gedanken, daß sie sich von ihm hatte versprechen lassen, sie zur Anhörung seiner ersten Messe einzuladen ...
Auf der Station Sainte-Maure entstand ein Lärm, der die Aufmerksamkeit Pierres wieder auf seine Umgebung in dem Wagen richtete. Er glaubte, es wäre irgendein Unfall vorgekommen. Aber die Leidensgesichter, denen seine Augen begegneten, waren noch dieselben, zeigten noch dieselben schmerzverzerrten Züge und die angstvolle Erwartung auf die göttliche Hilfe, die nur langsam herankam. Frau von Jonquière hatte ein Zinngeschirr, das sie reinigte, auf den Boden fallen lassen. Sofort ließ die Schwester Hyacinthe den Rosenkranz von neuem beten, wobei sie mit dem Angelus noch wartete, das nach dem festgestellten Programm erst in Châtellerault gebetet werden sollte. Die Ave folgten rasch aufeinander, es war nur noch ein dumpfes Murmeln, das in dem Lärm und dem Rasseln der Räder sich verlor.
Pierre zählte sechsundzwanzig Jahre und war Priester. Noch einige Tage vor seiner Weihe waren ihm Bedenken gekommen. Das dumpfe Bewußtsein bedrückte ihn, daß er sich binden wollte, ohne sich streng geprüft zu haben. Aber er hatte absichtlich unterlassen, dies zu tun, da er glaubte, mit einem einzigen Entschluß alle Menschlichkeit in sich ertötet zu haben. Sein Fleisch war mit dem unschuldigen Romane seiner Kindheit abgestorben. Er hatte seine Vernunft zum Opfer gebracht in der Hoffnung, das Wollen an sich genüge, das Denken sei gar nicht nötig. Jetzt war es zu spät. Er konnte im letzten Augenblicke nicht zurücktreten. Und wenn er in der Stunde, in der er den Schwur leistete, von einem geheimen Schrecken sich gepackt gefühlt hatte, von einem unendlichen, ungeheuren Bedauern, so hatte er alles vergessen und war göttlich belohnt worden für sein Opfer an dem Tage, als er seiner Mutter die große, lange ersehnte Freude bereitet hatte, ihn seine erste Messe lesen zu hören. Er sah sie noch, seine arme Mutter, in der kleinen Kirche zu Neuilly, in der das Leichenbegängnis seines Vaters gefeiert worden war; er sah sie noch, wie sie an jenem kalten Novembermorgen fast ganz allein in der kleinen dunklen Kapelle kniete und, das Gesicht in die Hände gedrückt, lange weinte, während er die Hostie in die Höhe hob. Sie hatte damals ihr letztes Glück genossen, denn sie lebte einsam und verhärmt. Ihren älteren Sohn sah sie nie. Der war, von anderen Ideen ergriffen, fortgegangen und hatte alle Beziehungen zu seiner Familie abgebrochen, seitdem sein Bruder sich entschlossen hatte, Priester zu werden. Man sagte, daß Guillaume, wie sein Vater ein bedeutender Chemiker, aber verbummelt und in revolutionären Träumereien befangen, ein kleines Haus an der Bannmeile bewohnte, wo er sich mit gefährlichen Studien über Sprengstoffe beschäftigen sollte. Man fügte hinzu, er habe jedes Band zwischen sich und seiner frommen und ehrbaren Mutter dadurch gelöst, daß er in wilder Ehe mit einer Frauensperson lebte, von der man nicht wußte, woher sie stammte. Seit drei Jahren hatte ihn Pierre, der in seiner Jugend Guillaume wie einen älteren väterlichen und guten, lustigen Freund verehrt hatte, nicht wiedergesehen.
Der Tod der Mutter war der nächste schwere Kummer seines Lebens. Es war ein ganz unerwarteter Schlag. Nach einer nur dreitägigen Krankheit war sie plötzlich verschieden. Er hatte sie eines Abends, als er weggelaufen war, um einen Arzt zu holen, bei seiner Rückkehr tot wiedergefunden. Während seiner Abwesenheit war sie gestorben, und seine Lippen hatten noch den erkalteten Hauch ihres letzten Kusses bewahrt. An das übrige erinnerte er sich nicht mehr, weder an die Totenwache noch an die Vorbereitungen, noch an die Beerdigung. Alles dies verschwand in dem Dunkel seines Schmerzes, der so wild sich aufbäumte, daß er beinahe daran gestorben wäre. Bei der Rückkehr vom Friedhof hatte ihn ein heftiger Schüttelfrost befallen, ein Fieber stellte sich ein, und drei Wochen schwebte er, unaufhörlich phantasierend, zwischen Leben und Tod. Sein Bruder war gekommen und hatte ihn gepflegt. Dann hatte Guillaume sich mit der Erbschaftsangelegenheit beschäftigt und nach der Teilung des kleinen Vermögens ihm das Haus und eine kleine Rente überlassen, während er seinen Anteil in barem Gelde mitnahm. Als er ihn außer Gefahr gesehen hatte, war er wieder gegangen und in sein Dunkel zurückgekehrt. Pierre hatte nichts getan, um Guillaume zurückzuhalten, denn er sah ein, daß zwischen ihnen eine weite Kluft sich gebildet hatte. Anfangs hatte er unter der Einsamkeit schwer gelitten. Dann aber hatte er sich in der tiefen Stille der Zimmer, die der Lärm der Straße nicht störte, und unter dem verschwiegenen Schatten des kleinen Gartens sehr wohl befunden. Sein Zufluchtsort war vor allem das alte Laboratorium seines Vaters, das seine Mutter zwanzig Jahre sorgfältig verschlossen gehalten hatte, gleichsam als wollte sie auf diese Weise dort die Vergangenheit mit ihrem Unglauben und ihrer Verdammnis einmauern. Vielleicht wäre sie trotz ihrer Sanftmut und ihrer andächtigen Verehrung für den Gatten doch noch eines Tages zur Vernichtung der Bücher und Papiere geschritten, wenn der Tod sie nicht überrascht hätte. Pierre hatte die Fenster wieder öffnen, den Schreibtisch und die Bücher abstauben lassen, sich in dem großen Lehnstuhl niedergelassen und verbrachte dort köstliche Stunden. Wie neugeboren durch seine Krankheit und in die Tage seiner Jugend zurückversetzt, genoß er durch die Lektüre der Bücher, die ihm unter die Hände kamen, ein ihm unbekanntes geistiges Behagen.
Während dieser zwei Monate langsamer Wiedergenesung hatte er, soviel er sich erinnerte, nur den Doktor Chassaigne empfangen. Das war ein alter Freund seines Vaters, ein gediegener Arzt, der sich bescheiden auf seine Eigenschaft als Praktiker beschränkte und nur den einen Ehrgeiz besaß, seine Kranken zu kurieren. Vergebens bemühte er sich um Frau Froment, aber er durfte sich rühmen, den jungen Priester aus einer schlimmen Lage gerettet zu haben. Von Zeit zu Zeit besuchte er ihn, plauderte mit ihm und suchte ihn zu zerstreuen. Er erzählte ihm von seinem Vater, dem großen Chemiker. Er wußte reizende Anekdoten von ihm zu berichten und rührende Einzelheiten einer innigen Freundschaft. So hatte sich der Sohn während seiner langsam fortschreitenden Erholung von seinem Vater ein Bild von verehrungswürdiger Einfachheit, Güte und Liebenswürdigkeit gebildet. Das war sein Vater, wie er wirklich war, und nicht der Mann der strengen Wissenschaft, wie er sich ihn früher nach den Erzählungen seiner Mutter vorgestellt hatte. Sie hatte ihn allerdings niemals anderes als aufrichtige Verehrung und Hochachtung des teuren Verstorbenen gelehrt. Aber war er nicht der Ungläubige, der Mann der Verneinung, der die Engel weinen machte, der Helfershelfer der Ruchlosigkeit, die sich gegen Gottes Werk richtete? So war er eine düstere Schreckenserscheinung gewesen, ein Verdammter, der als Gespenst im Hause umging, während er jetzt zum hellen, freundlichen Licht wurde, als ein von heißem Verlangen nach Wahrheit beseelter Arbeiter, der niemals anderes erstrebt hatte als die Liebe und das Glück aller. Doktor Chassaigne, ein Sohn der Pyrenäen, geboren in einem Dorfe, wo man noch an Hexen glaubte, würde sich noch eher der Religion zugewendet haben, wenn er auch seit den vierzig Jahren, die er in Paris lebte, seinen Fuß niemals in eine Kirche gesetzt hätte. Er war der felsenfesten Überzeugung, daß Michel Froment, wenn es irgendwo einen Himmel gäbe, sich dort befände und auf einem Throne zur Rechten des lieben Gottes säße.
Und Pierre durchlebte noch einmal in wenigen Minuten die entsetzlichen zwei Monate, in deren Verlauf ihn eine schwere Krisis heimgesucht hatte, nicht etwa, weil er in der Bibliothek Bücher antireligiösen Inhalts gefunden hatte, sondern es war nach und nach ganz gegen seinen Willen in ihm eine wissenschaftliche Klarheit aufgestiegen, ein Ganzes von bewiesenen Phänomenen hatte sich gebildet und die Dogmen zerstört und in ihm nichts von all den Dingen übriggelassen, an die er glauben sollte. Er kam sich nach der Krankheit wie neugeboren vor, es schien, als ob er noch einmal anfinge zu leben und zu lernen in dem angenehmen körperlichen Befinden des Wiedergenesenden, in jenem noch nicht ganz gekräftigten Zustande, der seinem Verstande eine durchdringende Klarheit verlieh. Im Seminar hatte er unter dem Einflusse seiner Lehrer seinen nachgrübelnden Geist, seinen unstillbaren Wissensdurst im Zaume gehalten. Was man ihn lehrte, das überraschte ihn wohl. Aber er kam doch dahin, seine Vernunft der Lehre zum Opfer zu bringen. In jener Zeit wurde der mühsame Bau des Dogmas durch eine Empörung der siegenden Vernunft gestürzt, die ihr Recht forderte und nicht mehr zum Schweigen gebracht werden konnte. Die Wahrheit brach sich mit so unwiderstehlicher Gewalt Bahn, daß er einsah, er würde niemals wieder den Irrtum in seinem Geiste von neuem zur Herrschaft bringen können. Es war der vollständige Zusammenbruch des Glaubens. Wenn er es vermocht hatte, das Fleisch in sich zu töten, indem er auf den Traum seiner Jugend verzichtete, wenn er so sehr Herr über seine Sinnlichkeit war, daß er aufgehört hatte, Mann zu sein, so wußte er jetzt doch, daß ihm der Verzicht auf seine Vernunft unmöglich sein würde. Und er täuschte sich nicht. Es war sein Vater, der in seinem Innern wieder erstand, und der schließlich in diesem ererbten Dualismus über die Mutter den Sieg davontrug. Sein langes Gesicht mit der hohen Stirn seinen sich noch verlängert zu haben, während das feine Kinn und der weiche Mund immer mehr zurücktraten. Und doch empfand er Trauer darüber, daß er nicht mehr glaubte, und das heiße Verlangen, noch glauben zu können, überwältigte ihn immer wieder, wenn sein gutes Herz, sein Bedürfnis nach Liebe wach wurde in stillen Dämmerstunden. Dann mußte erst die Lampe kommen, er mußte wieder Helligkeit in und um sich sehen, um die Energie und die Ruhe seiner Vernunft wiederzufinden, die Stärke des Märtyrers, den Willen, alles für den Frieden seines Gewissens zu opfern.
Schließlich hatte sich die Krisis gelöst. Er war Priester und glaubte nicht mehr. Wie ein unendlicher Abgrund tat sich diese Erkenntnis vor ihm auf. Das war das Ende seines Lebens, der Zusammenbruch von allem. Was sollte er tun? Gebot ihm nicht die Ehrlichkeit, die Soutane von sich zu werfen und wieder in die Welt zurückzukehren? Aber er hatte schon genug abtrünnige Priester gesehen, und hatte sie verachtet. Ein verheirateter Priester erfüllte ihn mit Abscheu. Das war ohne Zweifel ein Überbleibsel seiner langen religiösen Erziehung. Er hielt noch fest an der Unverletzlichkeit des Priestertums, an dem Gedanken, daß der, der sich Gott geweiht hatte, sich nicht wieder frei machen könnte. Vielleicht hielt er sich auch schon für zu sehr gekennzeichnet, für so verschieden von den anderen Menschen, daß er fürchten mußte, von ihnen als ein Fremder in ihrer eigenen Welt angesehen zu werden. Da man ihn seiner Männlichkeit beraubt hatte, wollte er auch in seinem schmerzensreichen Stolze für sich bleiben. Und nach langen qual- und angstvollen Tagen, nach unaufhörlich wiederkehrenden Kämpfen, in denen sich sein Verlangen nach Glück und die Kraft seiner wiedergewonnenen Gesundheit stritten, faßte er den heroischen Entschluß, Priester zu bleiben, und zwar ein ehrbarer Priester. Da er sein Fleisch ertötet hatte, wenn es ihm auch nicht gelungen war, seine Vernunft zum Schweigen zu bringen, so war er sicher, daß er das Gelübde der Keuschheit halten würde. Und das Leben, das er lebte, war nach seiner festen Überzeugung ein reines und rechtschaffenes. Was bedeutete es für ihn, daß er zu leiden hatte, wenn nur niemand auf der Welt den erloschenen Vulkan in seinem Herzen ahnte, die Nichtigkeit seines Glaubens, die entsetzliche Lüge, an der er sich zu Tode quälte! Sein fester Halt würde seine Unbescholtenheit sein, er würde sein Priesteramt als ehrbarer Mann ausüben, ohne eines der Gelübde zu brechen, die er getan hatte. Er wollte fortfahren, nach den Kirchenvorschriften seine Pflichten als Diener Gottes auszuüben. Er würde predigen, er würde am Altar das Hochamt abhalten, er würde an die Gläubigen das Lebensbrot austeilen. Wer würde wagen, es ihm als Verbrechen anzurechnen, daß er den Glauben verloren hatte? Was konnte man von ihm denn noch mehr verlangen? Hatte er nicht sein Leben seinem Gelübde geweiht, hatte er sein Priestertum nicht hochgehalten, hatte er nicht alle Werke der christlichen Liebe ausgeübt, ohne jede Hoffnung auf eine zukünftige Belohnung? So hatte er sich schließlich beruhigt, stolz und mit hocherhobenem Haupte, in der trostlosen Größe eines Priesters durch die Welt zu gehen, der nicht mehr glaubt und doch fortfährt, über den Glauben der anderen zu wachen. Er stand gewiß nicht allein, er wußte, daß er Brüder hatte, Priester, die dem Zweifel verfallen waren, die aber dennoch am Altare blieben, wie Soldaten ohne Vaterland, und die den Mut hatten, den frommen Betrug auf die kniende Menge herabstrahlen zu lassen.
Seit seiner vollständigen Genesung hatte Pierre sein Amt an der kleinen Kirche zu Neuilly wieder übernommen. Jeden Morgen las er seine Messe. Er war fest entschlossen, jede andere Stellung, jede Beförderung abzulehnen. So gingen Monate, Jahre dahin. Hartnäckig blieb er bei seinem Vorsatze, nur ein gewöhnlicher Priester zu sein, der unbekannteste und niedrigste der Priester, die man in einem Kirchspiel duldet, die erscheinen und wieder verschwinden, wenn sie ihre Pflicht erfüllt haben. Jede höhere Würde wäre ihm nur wie eine Verschlimmerung seiner Lage vorgekommen, wie ein Raub, den er an Würdigeren beging. Er mußte sich wehren gegen die Anerbieten, denn seine Verdienste konnten nicht unbeachtet bleiben. Man wunderte sich im erzbischöflichen Palaste über diese eigensinnige Bescheidenheit. Man wollte die Kraft, die man in ihm ahnte, nutzbar machen. Nur zuweilen empfand er es mit bitterem Bedauern, daß er sich nicht nützlich machte, daß er nicht an einem großen Werke arbeitete, an der Wiederherstellung des Friedens auf der Erde, an dem Heile und dem Glücke aller. Glücklicherweise waren seine Tage frei, und er tröstete sich durch wahre Arbeitswut. Alle Bücher der Bibliothek seines Vaters wurden verschlungen. Dann nahm er seine Studien und Untersuchungen wieder vor und beschäftigte sich eifrig mit der Geschichte der Völker, von dem Wunsche erfüllt, dem sozialen und religiösen Übel auf den Grund zu kommen. Er wollte sich Klarheit verschaffen, ob denn wirklich gar keine Hilfe vorhanden wäre.
Eines Morgens hatte Pierre, als er in einer der großen Schubladen kramte, die sich unten in den Bibliothekschränken befanden, ein Bündel Abhandlungen und Akten über die Erscheinungen von Lourdes entdeckt. Es befanden sich darunter die vollständigen Dokumente, Abschriften der Verhöre der Bernadette, der behördlichen Protokolle, der Polizeiberichte und der ärztlichen Konsultationen, dazu Privatbriefe und vertrauliche Schreiben vom höchsten Interesse. Er war sehr erstaunt über diesen Fund und hatte den Doktor Chassaigne darüber befragt, der sich auch erinnerte, daß sein Freund, Michel Froment, sich leidenschaftlich mit dem Fall der Bernadette beschäftigt hatte. Er selbst, der aus einem in der Nachbarschaft von Lourdes gelegenen Dorfe stammte, hatte dem Chemiker einen Teil dieser Akten verschafft. Pierre hatte sich einen Monat lang leidenschaftlich mit der Sache beschäftigt, von der reinen Gestalt der Seherin wunderbar angezogen, zugleich aber auch empört über das, was später geschehen war, über den rohen Fetischismus, über den jammervollen Aberglauben, über die triumphierende Geschäftstüchtigkeit. In seinem Ringen mit dem Unglauben schien diese Geschichte nur dazu zu dienen, die Niederlage des Glaubens zu beschleunigen. Zugleich aber war sie auch derart, daß sie seine Wißbegierde reizte. Er hätte gern eine Untersuchung angestellt, die wissenschaftliche Wahrheit festgestellt und dem reinen Christentum den Dienst erwiesen, es von dieser Schlacke zu befreien. Er hatte sein Studium aufgeben müssen, da er vor einer Reise nach der Grotte zurückschreckte und die übergroßen Schwierigkeiten erkannte, die ihm die Beschaffung der ihm fehlenden Aufschlüsse machte. So lebte in ihm nur seine zärtliche Liebe für Bernadette fort, an die er nie ohne eine wunderbar rührende Empfindung und ohne unendliches Mitleid denken konnte.
Die Tage schwanden dahin. Pierres Leben wurde immer einsamer. Doktor Chassaigne war plötzlich nach den Pyrenäen gereist. Er hatte seine Praxis aufgegeben und seine kranke Frau nach Cauterets gebracht, die, wie er und seine Tochter mit Bekümmernis sahen, täglich mehr und mehr dahinschwand. Seit dieser Zeit war es in dem kleinen Haus in Neuilly ganz einsam geworden. Pierre hatte keine andere Zerstreuung als die Besuche, die er von Zeit zu Zeit bei Guersaints machte. Sie waren schon lange aus dem Nachbarhaus fortgezogen und hatten sich in einer elenden Straße des Stadtviertels in einer kleinen Wohnung eingemietet. Die Erinnerung seines ersten Besuches dort lebte noch so in ihm, daß er jedesmal einen Stich in seinem Herzen verspürte, wenn er sich seine Aufregung beim Anblick der armen Marie wieder ins Gedächtnis zurückrief.
Er erwachte aus seinen Träumereien, sah sich um und bemerkte Marie ausgestreckt auf der Bank liegen, so, wie er sie damals wiedergefunden hatte, gefesselt an ihren einer Dachrinne ähnlichen Sarg, an dem man Räder anbringen konnte, um sie fortzubewegen. Sie, die einst übersprudelte, immer bereit, zu lachen und zu springen, litt unter der Untätigkeit und dem erzwungenen Stilliegen. Nur ihre Haare hatten sich erhalten. Sie umhüllten sie wie ein goldener Mantel. Sie selbst war so abgemagert, daß sie kleiner geworden zu sein und die Finger eines Kindes wiederbekommen zu haben schien. Was aber in diesem bleichen Gesichte am schmerzlichsten berührte, das waren die leeren, starren Blicke, die nichts sahen, die einen Ausdruck des vollständigen Aufgehens in ihrer Krankheit hatten. Dennoch bemerkte sie, daß er sie ansah, und wollte ihm zulächeln. Nur Klagelaute entschlüpften den Lippen dieses armen, gelähmten Wesens, das überzeugt war, es würde vor dem Wunder sterben! Er war tief erschüttert. Er hörte nur noch sie, er sah nur noch sie unter allen den anderen Kranken, die der Wagen beherbergte, gleichsam als ob sie all die anderen Qualen in dem Todeskampf ihrer Schönheit, ihres Frohsinns und ihrer Jugend zusammenfaßte.
Allmählich kehrte Pierre, ohne daß seine Augen Marie verließen, in die Vergangenheit zurück. Er durchkostete noch einmal die Stunden, die er in ihrer Nähe verlebt hatte, wenn er in die armselige Wohnung hinaufgestiegen war, um ihr Gesellschaft zu leisten. Herr von Guersaint hatte sich vollständig ruiniert, da er sich in den Kopf gesetzt hatte, die Fabrikation von Heiligenbildern zu verbessern, deren Mittelmäßigkeit ihn ärgerte. Sein letztes Vermögen hatte der Bankerott eines Farbendruckgeschäftes verschlungen. In seiner Zerstreutheit und seinem Mangel an Umsicht bemerkte er gar nichts von der peinlichen Lage, die sich immer mehr verschlimmerte. In seiner kindlichen Liebe verließ er sich ganz auf den lieben Gott und war schon wieder mit dem Problem der Lenkbarkeit der Luftballons beschäftigt, ohne zu sehen, welch übermenschliche Anstrengungen seine ältere Tochter Blanche machen mußte, um wenigstens den Lebensunterhalt für die kleine Familie zu erwerben, für ihre beiden Kinder, wie sie ihren Vater und ihre Schwester nannte. Blanche schaffte das nötige Geld, das die Pflege Mariens erforderte, herbei, indem sie vom Morgen bis zum Abend in ganz Paris bei Hitze und Regen umherlief und französischen Sprachunterricht und Klavierstunden erteilte. Marie war oft der Verzweiflung nahe, brach in Tränen aus und klagte sich an, daß sie die Hauptursache des Zusammenbruchs der Familie sei, weil man ihretwegen schon seit so vielen Jahren die Ärzte bezahlen mußte, und sie in alle nur denkbaren Bäder gebracht hätte. Jetzt hatten die Ärzte sie nach zehnjähriger Behandlung aufgegeben. Die einen meinten, daß die großen Sehnen zerrissen wären, die anderen glaubten an das Vorhandensein einer Geschwulst, während die dritten sagten, die Lähmung käme vom Rückenmark. Und da sie jede genauere Untersuchung aus jungfräulichem Schamgefühl ablehnte und die Ärzte keine eingehenderen Fragen zu stellen wagten, so hielt jeder an seiner Erklärung fest, daß sie nicht wieder geheilt werden könne. Sie rechnete auf nichts anderes als auf die Hilfe Gottes, da sie seit ihrem Kranksein nur noch Tröstung in ihrem inbrünstigen Glauben fand. Ihr größter Kummer war, daß sie nicht in die Kirche gehen konnte, und sie las die Messe an jedem Morgen.
In diesem Augenblicke stieg Pierre eine neue Erinnerung auf. Es war an einem Abend, bevor man noch die Lampe angezündet hatte. Er saß bei ihr in der Dunkelheit. Plötzlich sagte ihm Marie, daß sie nach Lourdes gehen wollte und daß sie überzeugt wäre, sie würde von dort geheilt zurückkehren. Er hatte bei ihren Worten ein heftiges Unbehagen empfunden und, sich völlig vergessend, gerufen, es wäre eine Torheit, an dergleichen fromme Märchen zu glauben. Niemals hatte er mit ihr über Religion gesprochen. Er hatte sich stets geweigert, ihre Beichte zu hören und sie in den großen und kleinen Gewissensnöten, die sie als Gläubige hatte, auf den rechten Weg zu leiten. Scham und Mitleid hielten ihn davon ab. Er würde schwer darunter gelitten haben, wenn er sie hätte belügen müssen, und andererseits würde er sich für einen Verbrecher angesehen haben, wenn er auch nur mit einem Hauche den großen, reinen Glauben getrübt hätte, der sie stark gegen das Leiden machte. Daher hatte er auch den Ausruf bereut, den er nicht hatte zurückhalten können. Da hatte er gefühlt, wie die kleine, kalte Hand der Kranken die seinige ergriff; und ermutigt durch die Dunkelheit, hatte sie gewagt, mit sanfter, stockender Stimme ihm zu sagen, daß sie sein Geheimnis, daß sie sein Unglück kenne, das für einen Priester so entsetzliche Elend, nicht mehr zu glauben. Bei dem darauffolgenden Gespräche hatte er ihr ganz gegen seinen Willen alles gesagt. Sie war ihm bis auf den Grund des Gewissens gedrungen mit dem feinen Erkennungsvermögen der leidenden Freundin. Sie geriet darüber seinetwegen in furchtbare Unruhe und beklagte ihn wegen seiner tödlichen seelischen Krankheit noch mehr als sich selbst. Als er dann, tief ergriffen, nichts darauf zu antworten wußte und durch sein Schweigen die Wahrheit eingestand, hatte sie wieder angefangen, von Lourdes zu sprechen, und hinzugefügt, es sei ihr inniger Wunsch, daß auch er sich der Heiligen Jungfrau anvertrauen und sie anflehen sollte, ihm den Glauben wiederzugeben. Von diesem Abend an hatte sie nicht mehr aufgehört, davon zu reden. Aber die Geldfrage hielt sie in Paris fest. Sie hatte es nicht einmal gewagt, mit ihrer Schwester darüber zu sprechen. Zwei Monate vergingen. Sie wurde von Tag zu Tag schwächer und erschöpfte sich in sehnsüchtigen Träumen, die Augen dem himmlischen Glänze der Wundergrotte zugewendet.
Pierre hatte damals schlimme Tage verbracht. Zuerst hatte er es Marie rundweg abgeschlagen, sie zu begleiten. Dann wurde sein Wille durch den Gedanken erschüttert, daß er, wenn er sich zur Reise entschlösse, die Untersuchungen über Bernadette wieder aufnehmen und fördern könne. Und endlich hatte er gefühlt, wie eine wonnige Empfindung ihn durchdrang, eine uneingestandene Hoffnung, daß Marie vielleicht recht hätte und die Heilige Jungfrau sich seiner in Gnaden annehmen und ihm den Glauben wiedergeben würde, den Glauben des Kindes, das liebt und nicht prüft. Oh, wenn er doch von ganzer Seele glauben, wenn er doch in dem Glauben versinken könnte! Es gab kein anderes Glück. Er trachtete nach dem Glauben mit der ganzen Freude seiner Jugend, mit der ganzen Liebe, die er für seine Mutter empfunden hatte, mit all dem brennenden Verlangen, das ihn erfüllte, der Qual des Erkennens und Wissens zu entgehen und für immer im Schoße der göttlichen Unwissenheit einzuschlummern. Es war köstlich, nichts mehr zu sein als ein willenloses Ding in den Händen Gottes.
Acht Tage später war die Reise nach Lourdes beschlossen. Pierre hatte eine letzte Besprechung der Ärzte gefordert, um zu erfahren, ob Marie den Anstrengungen der Reise wirklich gewachsen sei. Zwei der Ärzte, die die Kranke früher behandelt hatten, und von denen der eine an ein Zerreißen der großen Sehnen glaubte, der andere aber es für eine Lähmung des Rückenmarkes ansah, hatten sich schließlich dahin geeinigt, daß es Lähmung des Rückenmarkes sei in Verbindung mit Verletzungen, die sich vielleicht an den großen Sehnen befänden. Der Fall schien ihnen so klar, daß sie kein Bedenken trügen, jeder für sich einen Krankenschein auszustellen, der bei beiden beinahe gleich lautete. Sie hielten die Reise für möglich, wenn sie auch der Kranken heftige Schmerzen verursachen würde. Das hatte Pierre bestimmt, denn er hatte gefunden, daß die beiden Herren sehr klug und eifrig bestrebt gewesen waren, die Wahrheit zu ergründen. Eine unklare Erinnerung blieb ihm an den dritten Arzt, de Beauclair mit Namen, einen jungen Mann mit regem Verstande, noch wenig bekannt und, wie man sagte, etwas wunderlich. Nachdem er Marie lange betrachtet, hatte er sich genau nach ihren Vorfahren erkundigt und mit lebhaftem Interesse dem zugehört, was man ihm von Herrn von Guersaint erzählte, dem Architekten und verunglückten Erfinder mit dem schwachen Charakter und der üppig wuchernden Phantasie; dann hatte er den tatsächlichen Befund der Krankheit geprüft und dabei in diskreter Weise festgestellt, daß der Schmerz sich im linken Eierstock lokalisiert hatte, und daß dieser Schmerz, wenn man dort drückte, wie eine dicke Masse, die sie zu ersticken drohte, bis in ihre Kehle hinaufstieg. Auf die Lähmung der Beine schien er gar keinen Wert zu legen. Dann hatte er auf eine Frage sich sogar dahin geäußert, daß man sie nach Lourdes bringen müßte, da sie dort sicherlich geheilt werden würde, wenn sie davon überzeugt sei. Lächelnd fügte er hinzu, daß der Glaube genüge, daß zwei von seinen Patienten, sehr fromme Damen, von ihm im vorigen Jahre hingeschickt und strahlend von Gesundheit wieder zurückgekommen wären. Er gab sogar an, wie sich das Wunder vollziehen würde: beim Erwachen würde eine furchtbare Aufregung die Kranke ergreifen, während das Übel, jener quälende Druck, der sie zu ersticken drohte, zum letztenmal in ihr aufsteigen und verschwinden würde, als ob er durch den Mund entschlüpft wäre. Er schlug es rundweg ab, einen Krankheitsschein auszustellen. Seine beiden Kollegen behandelten ihn sehr kühl wie einen Kurpfuscher. Pierre hatte, wenn auch nur unklar, einige Stellen aus dem von Beauclair abgegebenen Gutachten behalten: eine Verrenkung des Organs mit leichten Rissen in den Sehnen infolge des Sturzes vom Pferde, dann eine langsame Wiederherstellung des natürlichen anatomischen Zustandes. Die Kranke habe jedoch stets unter dem nervösen Drucke der ersten Furcht gelebt. Ihre ganze Aufmerksamkeit sei auf die verletzte Stelle gerichtet; sie besitze gar nicht mehr die Fähigkeit, neue Vorstellungen zu bilden, es sei denn, daß dies durch die plötzliche Einwirkung einer heftigen Erregung geschähe. Allein der Gedanke, daß Mariens Leiden nur ein eingebildetes sein sollte, daß die entsetzlichen Schmerzen, die sie quälten, von einer längst geheilten Verletzung herrühren sollten, war Pierre so unglaublich vorgekommen, daß er sich dabei gar nicht weiter aufgehalten hatte. Er war bloß darüber glücklich, daß die drei Ärzte einmütig ihre Einwilligung zur Reise nach Lourdes erteilten. Es genügte ihm zu wissen, daß sie geheilt werden konnte. Er hätte sie bis an das Ende der Welt begleitet.
Ach, jene letzten Tage in Paris, in welcher Aufregung hatte er sie verbracht! Der nationale Pilgerzug war zum Aufbruch bereit. Er war auf den Gedanken verfallen, Marie in das Hospital aufnehmen zu lassen, um die großen Kosten zu ersparen. Dann hatte er seinen eigenen Eintritt in die Hospitalität von Notre-Dame de Salut durchgesetzt. Herr von Guersaint brannte vor Verlangen, die Pyrenäen kennenzulernen. Im übrigen bekümmerte er sich um gar nichts, nahm es ruhig an, daß der junge Priester für ihn die Reise bezahlte und sich seiner wie eines Kindes annahm. Seine Tochter Blanche hatte ihm noch im letzten Augenblicke ein Zwanzigfrankstück zugesteckt. Er hielt sich daher für reich. Die arme, heldenmütige Blanche besaß einen verborgenen Schatz, fünfzig Frank Ersparnisse, die man hatte annehmen müssen, denn auch sie wollte etwas zur Heilung ihrer Schwester beitragen. Sie konnte nicht mitreisen, da sie durch ihre Stunden in Paris zurückgehalten war, indes die Ihrigen in weiter Ferne in dem Zauberbanne der Wundergrotte auf den Knien lagen. So war man abgefahren und rollte nun dahin, rollte rastlos immer weiter.
Auf der Station Châtellerault riß ein lautes Stimmengewirr Pierre aus seinen Träumen. Was gab es denn? War man schon in Poitiers angekommen? Aber es war ja kaum Mittag, und Schwester Hyacinthe hatte das Angelus beten und dreimal drei Ave wiederholen lassen. Die Stimmen verhallten, ein neuer Gesang hob an und wurde nach und nach zu einem Klageliede. Noch fünfundzwanzig lange Minuten dauerte es, ehe man nach Poitiers kam. Dort sollte ein halbstündiger Aufenthalt den Leidenden Erleichterung verschaffen. Alle befanden sich in sehr trauriger Verfassung in dem verpesteten, glühendheißen Wagen. Tränen rollten über die Wangen der Frau Vincent, ein leiser Fluch war dem sonst so geduldigen Herrn Sabathier entschlüpft, während der Bruder Isidor, die Grivotte und Frau Vêtu gar nicht mehr zu leben schienen und Trümmerstücken glichen, die von der Flut mit fortgerissen wurden. Marie hatte ihre Augen geschlossen und gab keine Antwort mehr; sie wollte sie nicht wieder öffnen, da der entsetzliche Anblick des Gesichtes der Elise Rouquet, der für, sie das Bild des Todes war, sie unablässig verfolgte. Und während der Zug, der diese menschliche Verzweiflung mit sich führte, unter dem gewitterschwangeren Himmel dahinbrausend seine Geschwindigkeit vergrößerte, wurden alle in einen neuen Schrecken versetzt. Der Mann atmete nicht mehr, eine Stimme rief, er habe seinen Geist aufgegeben.