Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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III

Schon um zweieinhalb Uhr befand sich der weiße Zug, der Lourdes um drei Uhr vierzig verlassen sollte, der Bahnhofshalle gegenüber auf dem zweiten Bahnsteig. Er hatte drei Tage, vollständig zur Abfahrt aufgestellt, wie er von Paris gekommen war, auf einem Nebengeleise gewartet. Und seitdem man ihn hierhergebracht hatte, flatterten die weißen Fahnen über dem ersten und letzten Wagen, um ihn den Pilgern, deren Unterbringung gewöhnlich sehr lang und mühsam war, zu bezeichnen. Die vierzehn Züge der nationalen Pilgerfahrt mußten übrigens an diesem Tage abfahren. Um zehn Uhr morgens war der grüne Zug abgegangen, dann der rosa Zug, dann der gelbe Zug. Und nach dem weißen Zug sollten die anderen, der orangefarbene, der graue, der blaue folgen. Das war für das Bahnpersonal wieder ein schrecklicher Tag, ein Tumult, ein Durcheinander, das die Beamten betäubte.

Aber die Abfahrt des weißen Zuges beanspruchte immer das lebhafteste Interesse, er war die Hauptaufregung des Tages, denn er führte die Schwerkranken fort, die er gebracht hatte, und unter diesen waren natürlich die Lieblinge der Heiligen Jungfrau, die für das Wunder Auserkorenen. Daher drängte sich auch eine dichte Menge unter dem leinenen Sonnendach und versperrte die große bedeckte, etwa hundert Meter lange Halle. Alle Bänke waren besetzt, mit Paketen und Pilgern überfüllt, die schon warteten. In der einen Ecke hatte man die kleinen Tische des Büfetts im Sturm genommen. Die Männer tranken Bier, die Frauen ließen sich Brauselimonade geben, während am andern Ende vor der Tür der Gepäckkammern Bahrenträger den Weg freihielten, um den schnellen Transport der Kranken, die man herbeibrachte, zu sichern. Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen armer, bestürzter Leute, hin- und herlaufender Priester, die man an allen möglichen Orten sah, neugieriger und friedlicher Herren im Überrock, kurz, das gemischteste, buntscheckigste Gewirr, das sich jemals auf einem Bahnhof herumgedrückt hat.

Um zwei Uhr fand sich Baron Suire ein. Er war voller Unruhe, weil es an Pferden fehlte, denn eine große Anzahl von Touristen, die unerwartet eingetroffen waren, hatte die Wagen nach Barèges, Cauterets und Gavarnie gemietet. Er stürzte auf Berthaud und Gérard zu, die endlich herbeikamen, nachdem sie die Stadt durchstreift hatten. Aber alles ginge wunderbar, versicherten sie. Sie hatten die notwendigen Pferde aufgetrieben, und der Transport der Kranken würde in ganz ausgezeichneter Weise vor sich gehen. Im Hofe warteten ganze Züge von Sänftenträgern mit ihren Bahren und kleinen Wagen auf die Packwagen, die Möbelwagen und die sonstigen Fahrgelegenheiten aller Art, die man für die Fortschaffung aus dem Hospital aufgetrieben hatte. Ein Reservevorrat von Matratzen und Kissen lag am Fuße einer Gaslaterne aufgehäuft. Aber als die ersten Kranken ankamen, verlor der Baron Suire von neuem den Kopf, während Berthaud und Gérard sich beeilten, den Bahnsteig zu erreichen, auf dem der Zug stand. Sie führten die Aufsicht und gaben unter dem wachsenden Wirrwarr ihre Befehle.

Auf diesem Bahnsteig blieb der Pater Fourcade, der am Arme des Paters Massias am Zuge entlang spazierenging, stehen, als er Doktor Bonamy kommen sah.

»Ach, Doktor, ich bin glücklich... Pater Massias, der abreisen will, erzählte mir noch im Augenblick von der außerordentlichen Gunst, mit der die Heilige Jungfrau das interessante junge Mädchen, Fräulein Marie von Guersaint, begnadet hat. Seit Jahren hat sich ein so auffallendes Wunder nicht ereignet. Das ist ein glückliches Zeichen für uns alle, das ist ein Segen, der den Erfolg unserer Anstrengungen befruchten muß ... Für die ganze Christenheit wird dieser Fall eine Erleuchtung, ein Trost, eine Bereicherung sein.«

Er strahlte vor Vergnügen, und bald war auch der Doktor mit seinem rasierten Gesicht, den groben, friedlichen Zügen und den sonst müden Augen außer sich vor Freude.

»Es ist wunderbar, wunderbar, mein hochverehrter Pater! Ich werde eine Broschüre darüber schreiben. Noch nie hat sich eine Heilung auf übernatürliche Weise in glaubwürdigerer Art vollzogen ... Oh, was das für ein Aufsehen erregen wird.«

Als alle drei dann wieder angefangen hatten, hin und her zu gehen, bemerkte er, daß der Pater Fourcade das Bein noch mehr nachschleppte, indem er sich kräftig auf den Arm seines Gefährten stützte.

»Hat sich Ihr Gichtanfall wieder verschlimmert, mein hochverehrtester Pater?« fragte er. »Sie scheinen sehr zu leiden.«

»Oh, sprechen Sie mir nicht davon, ich habe die Nacht kein Auge schließen können. Es ist recht unangenehm mit diesem Anfall, der mich am Tage meiner Ankunft gepackt hat ... Er hätte auch warten können, aber es ist nichts dagegen zu tun, sprechen wir nicht davon. Ich bin über die Ergebnisse dieses Jahres zu glücklich.«

»Ah! ja, ja!« sagte der Pater Massias mit einer vor Inbrunst zitternden Stimme, »wir können stolz sein und dürfen mit begeistertem und dankbarem Herzen von dannen ziehen. Wieviel andere Wunder außer an diesem jungen Mädchen haben sich begeben! Sie lassen sich gar nicht mehr zählen. Taube und Stumme sind geheilt, von Wunden angefressene Gesichter sind glatt wie eine Hand geworden, todkranke Schwindsüchtige essen, tanzen und sind zu neuem Leben auferstanden. Das ist nicht mehr ein Krankenzug, das ist ein Zug der Auferstehung, ein Zug des Ruhmes, den ich von dannen führe.«

Er sah die Kranken in seiner Umgebung nicht mehr und schritt in vollem, göttlichen Triumphe in der Verblendung seines Glaubens dahin. Alle drei setzten ihren langsamen Spaziergang an den Wagen entlang fort, deren Abteile sich zu füllen begannen, lächelten den Pilgern zu, die sie grüßten, und blieben von Zeit zu Zeit immer wieder stehen, um irgendeiner bekümmerten Frau, die bleich und zitternd auf einer Bahre vorbeigetragen wurde, ein gutes Wort zu sagen. Sie erklärten stets, sie sehe weit besser aus und würde bald genesen.

Aber nun eilte der Stationsvorsteher sehr geschäftig vorüber und schrie mit scharfer Stimme: »Versperren Sie den Bahnsteig nicht!«

Als Berthaud ihm aber zu bedenken gab, daß man doch die Tragbahren niedersetzen müßte, bevor man die Kranken einlud, wurde er ärgerlich.

»Sagen Sie selbst, ist das vernünftig? Sehen Sie doch nur dort unten den kleinen Wagen, der auf dem Geleise stehengeblieben ist! In einigen Augenblicken erwarte ich den Zug aus Toulouse ... Wollen Sie denn, daß Ihre Leute überfahren werden?«

Damit eilte er davon, um Leute aufzustellen, die die verwirrte Schar der Pilger, die aufs Geratewohl herumlief, von den Geleisen herunterbringen sollten.

Viele Pilger, alte und einfältige Leute, erkannten nicht einmal die Farbe ihres Zuges. Deshalb trugen alle am Halse eine Karte in der betreffenden Farbe, damit man sie zurechtweisen und wie gezeichnetes Vieh verladen konnte. Welche beständige Aufmerksamkeit erforderte diese Abfahrt der vierzehn eingeschobenen Züge, durch die der Verkehr der gewöhnlichen Züge nicht unterbrochen werden durfte!

Als Pierre, seinen Koffer in der Hand, am Bahnhof anlangte, kostete es ihn schon Mühe, den Bahnsteig zu erreichen. Er war allein. Marie hatte den heißen Wunsch geäußert, noch einmal in der Grotte niederzuknien, damit ihre Seele bis zur letzten Minute in Dankbarkeit vor der Heiligen Jungfrau erglühe, und er hatte sie von Herrn von Guersaint dorthin führen lassen, während er im Hotel bezahlte. Übrigens hatte er ihnen das Versprechen abgenommen, daß sie dann einen Wagen nähmen. Sie würden auf diese Weise sicher rechtzeitig da sein. Während er auf sie wartete, war sein erster Gedanke, ihren Wagen aufzusuchen und sich seines Koffers zu entledigen. Das war aber keine leichte Arbeit, und er erkannte ihn schließlich nur an der Tafel, die seit drei Tagen unter der Sonne und den Stürmen dort schaukelte, ein Viereck aus starkem Papier, das die Namen der Frau von Jonquière, der Schwester Hyacinthe und der Schwester Claire des Anges trug. Das war der Wagen. Er sah in der Erinnerung die mit seinen Reisegefährten gefüllten Abteile wieder. Schon bezeichneten Kissen den Platz des Herrn Sabathier, während er auf der Bank, auf der Marie so viel gelitten hatte, einen von einem Eisenbeschlag des Wägelchens im Holz zurückgelassenen Einschnitt wiederfand. Als er seinen Koffer an seinen Platz gestellt hatte, blieb er auf dem Bahnsteig, wartete geduldig und sah sich um, ein wenig überrascht darüber, daß er Doktor Chassaigne nicht bemerkte, der ihm doch versprochen hatte, sich von ihm am Zuge zu verabschieden.

Jetzt, da Marie wieder auf den Beinen war, hatte Pierre seine Trägerriemen abgelegt und trug auf seiner Soutane nur noch das rote Kreuz der Pilger. Der Bahnhof, den er nur in dem fahlen, schwachen Lichte, in der Beklemmung an jenem entsetzlichen Morgen der Ankunft gesehen hatte, überraschte ihn durch seine breiten Bahnsteige, seine geräumigen Treppen, seine helle Fröhlichkeit. Die Berge sah man nicht, aber auf der andern Seite, den Wartesälen gegenüber, stiegen grünende Hügel von entzückendem Reize empor. An diesem Nachmittag war das Wetter von unendlicher Freundlichkeit, ein feiner Flaum von Wolken hatte an dem milchweißen Himmel, von dem nur ein mattes Licht, ein wie Perlen glänzender Staub, herabsank, die Sonne verschleiert. Es war ein Damenwetter, wie die guten Leute sagen.

Es hatte noch nicht drei Uhr geschlagen, und Pierre blickte auf die große Uhr, als er Frau Desagneaux und Frau Volmar ankommen sah, denen Frau von Jonquière und ihre Tochter folgten. Die Damen, die ein Landauer aus dem Hotel hergebracht hatte, suchten ebenfalls gleich ihren Wagen. Raymonde erkannte sofort das Abteil erster Klasse, in dem sie gekommen waren.

»Mama, hierher, hier ist es ... Bleib ein bißchen bei uns, du hast Zeit, dich mit deinen Kranken einzurichten, sie sind ja noch gar nicht da.«

Nun stand Pierre wieder Frau Volmar gegenüber. Ihre Blicke begegneten sich. Aber er erkannte sie nicht, denn sie erhob kaum die Wimpern. Wieder war sie die schwarz gekleidete, langsame, für alles gleichgültige Frau von vollkommener Anspruchslosigkeit, die glücklich ist, unbeachtet zu bleiben. Das Feuer ihrer großen Augen war verglommen unter ihrem Schleier von Gleichgültigkeit, der wie ein dichter Schatten sie auszulöschen schien.

»Oh, ich litt an einer gräßlichen Migräne«, sagte sie immer wieder zu Frau Desagneaux. »Sie sehen, ich weiß jetzt noch nicht, wo mir mein armer Kopf steht... Das kommt von der Reise, das ist jedes Jahr so, darauf kann ich mich verlassen.«

Lebhafter, rosiger als je, bewegte sich die andere mit etwas zerzausten Haaren hin und her und sagte:

»Meine Liebe, mir geht's für den Augenblick ebenso ... Ja, das hat mich heut morgen gepackt, eine Neuralgie, die mich fast umbringt... aber...« sie beugte sich vor und fuhr mit leiser Stimme fort:

»Aber ich glaube, daß es nun endlich so weit ist... Ja, ja, es ist das Kind, nach dem ich mich so sehr sehne, das nicht kommen will... Ich habe die Heilige Jungfrau angefleht und war dann leidend, oh, so leidend bei meinem Erwachen, kurz alle Zeichen... Denken Sie sich nur, was mein Mann, der mich in Trouville erwartet, für ein Gesicht machen wird!«

Frau Volmar hörte sehr ernsthaft zu, dann sagte sie mit sehr ruhiger Miene:

»Nun, meine Liebe, ich kenne eine Person, die keine Kinder mehr haben wollte, sie ist hierhergekommen und hat dann auch keine mehr gekriegt.«

Gérard und Berthaud, die die Damen bemerkt hatten, kamen eiligst herangelaufen.

Am Morgen des vorhergehenden Tages hatten sich die beiden Herren im Hospital Notre-Dame des Douleurs vorgestellt, und Frau von Jonquière hatte sie im Büro neben der Wäschekammer empfangen. Hier hatte sich Berthaud mit lächelnder Gutmütigkeit wegen des etwas übereilten Schrittes in durchaus korrekter Weise entschuldigt und um die Hand des Fräulein Raymonde für seinen Freund Gérard angehalten. Man hatte sofort ganz ungezwungen miteinander verkehrt, die Mutter hatte eine tiefe Rührung gezeigt und gesagt, Lourdes würde dem jungen Paare Glück bringen. Und so wurde die Heirat mit wenigen Worten, zur allgemeinen Zufriedenheit abgeschlossen. Man verabredete eine Zusammenkunft für den fünfzehnten September im Schloß Berneville bei Caen, einer Besitzung des Onkels, des Diplomaten, den Berthaud kannte und zu dem er Gérard zu begleiten versprach. Dann wurde Raymonde gerufen. Sie wurde vor Vergnügen rot, als sie ihre beiden kleinen Hände in die ihres Verlobten legte.

Gérard zeigte sich diensteifrig und fragte das junge Mädchen:

»Wünschen Sie Kopfkissen für die Nacht? Genieren Sie sich nicht, ich kann Ihnen welche geben, ebenso den Damen, die Sie begleiten.« Raymonde lehnte heiter ab. »Nein, nein, wir sind nicht so verzärtelt, Sie müssen das für die armen Kranken behalten ...«

Übrigens sprachen die Damen alle auf einmal. Frau von Jonquière erklärte, sie sei so ermüdet, daß sie kaum mehr fühle, ob sie noch lebe oder nicht, und doch zeigte sie sich sehr glücklich. Ihre Blicke strahlten förmlich vor Zufriedenheit, wenn sie ihre Tochter und den jungen Mann anschaute, während sie zusammen plauderten. Aber Berthaud konnte nicht dableiben, sein Dienst rief ihn, auch Gérard. Beide nahmen Abschied, nachdem sie noch an die Zusammenkunft erinnert hatten. Also nicht wahr, am fünfzehnten September im Schloß Berneville? Ja, ja, das war abgemacht. Und nun hörte man noch lachen, Händedrücke wurden gewechselt, während die Augen voller Zärtlichkeit und Entzücken vollendeten, was man inmitten dieser Menge nicht laut zu sagen wagte.

»Wie«, rief die kleine Frau Desagneaux, »Sie gehen am fünfzehnten nach Berneville? Wenn wir bis zum zwanzigsten in Trouville bleiben, wie mein Mann es wünscht, werden wir Sie besuchen.«

Dann wandte sie sich an die schweigsame Frau Volmar:

»Kommen Sie doch auch, es wäre so hübsch, wenn wir uns alle dort wiederfänden.«

Die junge Frau machte eine langsame Bewegung und sagte mit ihrer Miene müder Teilnahmlosigkeit:

»Ach, für mich ist das Vergnügen zu Ende, ich kehre nach Hause zurück.«

Wiederum begegnete ihr Blick dem Pierres, der neben den Damen stehengeblieben war, und er glaubte zu sehen, wie sie einen Augenblick verwirrt wurde, während ein Ausdruck namenlosen Schmerzes über ihr totes Gesicht huschte.

Jetzt kamen die Schwestern von Mariä Himmelfahrt, und die Damen traten vor dem Speisewagen zu ihnen. Ferrand, der mit den Nonnen im Wagen gekommen war, stieg zuerst ein. Dann half er der Schwester St. François beim Betreten des hohen Trittbrettes und blieb auf der Schwelle des Wagens stehen, in dem sich die Vorräte für die Reise: Fleischbrühe, Milch und Schokolade befanden. Schwester Hyacinthe und Schwester Ciaire des Anges, die auf dem Bahnsteig geblieben waren, reichten ihm seine kleine Apotheke sowie andere Pakete und winzige Gepäckstücke.

»Sie haben doch alles?« fragte ihn Schwester Hyacinthe. »Gut. Da Sie sich darüber beklagen, daß man Ihre Dienste nicht in Anspruch nimmt, so brauchen Sie sich jetzt nur in Ihren Winkel zu legen und zu schlafen.«

Ferrand fing leise zu lachen an.

»Liebe Schwester, ich werde der Schwester St. François helfen ... ich werde Feuer machen, die Tassen waschen und die Portionen austragen ... Sollten Sie aber doch einen Arzt nötig haben, so, bitte, holen Sie mich.«

Schwester Hyacinthe lachte nun auch.

»Aber wir brauchen ja keinen Arzt mehr, da alle unsere Kranken geheilt sind.«

Dann sagte sie mit ihrer ruhigen und schwesterlichen Miene:

»Adieu, Herr Ferrand.«

Er lächelte noch immer, während eine unendliche Rührung seine Augen befeuchtete. Der zitternde Ton seiner Stimme sprach von der unvergeßlichen Reise, von der Freude, sie wiedergesehen zu haben, von der Erinnerung ewiger und göttlicher Zärtlichkeit, die er mit fortnahm.

»Adieu, liebe Schwester!«

Frau von Jonquière sagte, sie wolle mit Schwester Claire des Anges und Schwester Hyacinthe zu ihrem Wagen gehen. Diese versicherte ihr jedoch, es eile durchaus nicht, denn es seien fast noch gar keine Kranken gebracht worden. Sie verließ sie, nahm die andere Schwester mit und versprach, über alles zu wachen, ja, sie wollte ihr durchaus ihre kleine Tasche abnehmen, indem sie ihr sagte, sie würde sie an ihrem Platze wiederfinden. So setzten denn die Damen ihren Spaziergang fort und plauderten heiter miteinander auf dem breiten Bahnsteig.

Jetzt fing Pierre an unruhig zu werden, als er Marie mit ihrem Vater noch immer nicht kommen sah. Wenn Herr von Guersaint sie auf dem Wege nur nicht verloren hatte! Und er wartete noch immer, als er Herrn Vigneron bemerkte, der außer Atem seine Frau und den kleinen Gustave wütend vor sich hertrieb.

»Oh, Herr Abbé, ich bitte Sie, sagen Sie mir, wo ist unser Wagen? Helfen Sie mir mein Gepäck und das Kind unterbringen ... Ich verliere den Kopf, sie haben mich ganz verrückt gemacht.«

Als sie vor dem Abteil zweiter Klasse standen und Pierre gerade den kleinen Kranken hinaufheben wollte, sprudelte es aus Herrn Vigneron, der die Hände des Priesters ergriff, wie aus einer Quelle hervor:

»Können Sie sich das vorstellen? Sie bestehen darauf, daß ich abreise, und haben mir gesagt, wenn ich bis morgen warte, würde meine Rückfahrkarte keine Gültigkeit mehr haben ... Ich möchte Ihnen noch viel von dem Unglücksfall erzählen ... Nicht wahr, es ist doch gewiß nicht angenehm, bei der Toten zu bleiben, bei ihr zu wachen, sie in den Sarg zu legen und in vorgeschriebener Frist fortzubringen ... Nun, sie behaupten, das gehe sie alles nichts an, sie hätten schon genügend große Ermäßigungen auf die Fahrkarten für die Pilgerfahrt bewilligt und könnten sich nicht um die Geschichten der Leute kümmern, die da sterben.«

Frau Vigneron hörte ihm zitternd zu, während Gustave, vergessen, vor Ermüdung auf seiner Krücke wankend, sein armes Gesicht, das eines neugierigen Todkranken erhob.

»Ich habe ihnen schließlich in allen Tonarten zugeschrien, daß hier ganz besondere zwingende Umstände vorlägen ... Was soll ich denn mit der Leiche tun? Ich kann sie doch nicht unter den Arm nehmen und als Gepäckstück fortschleppen. Ich bin also doch gezwungen, dazubleiben ... Nein, was gibt es doch für dumme und boshafte Menschen!«

»Haben Sie mit dem Stationsvorsteher gesprochen?« fragte Pierre.

»O ja, der Stationsvorsteher! Der ist da unten in dem Gewirr, man hat ihn nicht auffinden können. Wie sollen denn die Sachen ordentlich vonstatten gehen bei einem solchen Durcheinander?... Aber ich muß ihn ausfindig machen, ich muß ihm meine Meinung sagen.«

Dann schrie er seine Frau an, die starr und unbeweglich dastand:

»Was machst du denn da? Steig doch ein, damit man dir das Gepäck und den Kleinen hinaufreichen kann.«

Er stieß sie geradezu hinein und warf ihr Pakete zu, während der Priester Gustave in seine Arme nahm. Das arme, vogelleichte Wesen schien noch magerer geworden zu sein, es war mit Wunden bedeckt und litt so heftige Schmerzen, daß es einen leisen Schrei ausstieß.

»Oh, mein Kleiner, habe ich dir wehe getan?«

»Nein, nein, Herr Abbé, ich habe zuviel Bewegung gehabt, ich bin heute abend sehr müde.«

Er lächelte mit seiner feinen und traurigen Miene. Dann kauerte er sich in seinen Winkel und schloß, schon von dem Vorgefühl dieser tödlichen Reise ganz vernichtet, die Augen.

»Sie begreifen«, fuhr Herr Vigneron fort, »es macht mir keinen Spaß, hier allein zu bleiben und unnütz die Zeit zu vertrödeln, während meine Frau und mein Sohn ohne mich nach Paris zurückkehren. Es muß aber wohl sein. Das Leben im Hotel ist nicht mehr auszuhalten, außerdem sehen Sie mich gezwungen, drei Plätze noch einmal zu bezahlen, wenn sie an der Bahn nicht Vernunft annehmen wollen... Dabei ist meine Frau so ungeschickt, sie wird es nie lernen, sich aus einer Verlegenheit herauszuwinden.«

Nun überschüttete er mit dem letzten Aufwand seines Atems Frau Vigneron mit den genauesten Verhaltungsmaßregeln. Er gab an, was sie während der Reise tun sollte, wie sie in ihre Wohnung zurückkehren müßte und wie sie Gustave zu pflegen hätte, wenn er einen Anfall bekäme. Geduldig und ein wenig erschreckt, antwortete sie auf jeden Satz:

»Ja, ja, mein Lieber... Gewiß, mein Lieber...« Dann wurde er plötzlich wieder vom Zorn erfaßt.

»Wird denn meine Fahrkarte nun schließlich Gültigkeit haben, ja oder nein? Ich will es doch wissen ... Ich muß den Stationsvorsteher auf alle Fälle finden!«

Er wollte sich gerade von neuem unter die Menge stürzen, als er bemerkte, daß Gustaves Krücke auf dem Bahnsteig liegengeblieben war. Das war in seinen Augen ein Unglück, das ihn veranlaßte, die Arme zum Himmel zu erheben, um Gott zum Zeugen dafür anzurufen, daß er nie aus so vielen Verwicklungen herauskommen würde. Dann warf er sie seiner Frau zu und entfernte sich, indem er außer sich rief:

»Du, du vergißt alles.«

Jetzt wälzte sich der Strom der Kranken heran. Und wie bei der Ankunft fand in einem allgemeinen Durcheinander wieder ein nicht enden wollendes Hin- und Herfahren der Krankenwagen auf dem Bahnsteig und über die Geleise hinweg statt. All die gräßlichen Übel, alle Wunden, alle Unförmlichkeiten zogen noch einmal vorüber, ohne daß die Gefährlichkeit oder die Zahl geringer erschien, gerade wie wenn die wenigen Heilungen nur den schwachen, kaum wahrnehmbaren Freudenschimmer, inmitten der unendlichen Trauer bildeten. Man brachte sie so fort, wie man sie hergebracht hatte. Die kleinen Wagen mit alten, gebrechlichen Frauen, die ihre Bündel zu ihren Füßen liegen hatten, klapperten auf den Schienen. Die Tragbahren, auf denen aufgedunsene Körper, bleiche Gesichter mit leuchtenden Augen lagen, schwankten unter dem Hin- und Herstoßen der Menge. Es war eine tolle Hast ohne Sinn und Verstand, eine unerklärliche Verwirrung, hier Bitten und Rufe, dort ein eiliges Hin- und Herlaufen. Es war wie das Drehen und Wenden einer Herde, die die Tür zum Stalle nicht mehr findet. Die Träger verloren schließlich den Kopf, sie wußten nicht mehr, welchen Weg sie einschlagen sollten vor dem »Achtung!«-Rufen der Bahnbeamten, das die Leute jedesmal erschreckte, sie verwirrte und ängstigte.

»Achtung, Achtung, da drüben! ... Beeilen Sie sich doch! ... Nein, nein, gehen Sie nicht mehr hinüber! Der Zug von Toulouse kommt! Der Zug von Toulouse kommt!«

Pierre, der zurückgekommen war, bemerkte wieder die Damen, Frau von Jonquière und die anderen, die noch immer heiter plauderten. Neben ihnen hörte er Berthaud, den der Pater Fourcade angehalten hatte, um ihm wegen der guten Ordnung während der ganzen Pilgerfahrt seinen Glückwunsch zu sagen. Der frühere Beamte verbeugte sich geschmeichelt.

»Nicht wahr, mein hochverehrter Pater, das ist eine Lehre, die der Republik erteilt worden ist. In Paris tötet man sich, wenn solche Menschenmassen irgendeine blutige Begebenheit ihrer gräßlichen Geschichte feiern ... sie sollen nur hierherkommen und lernen, wie es zu machen ist.«

Der Gedanke, der Regierung unangenehm zu sein, die ihn gezwungen hatte, seinen Abschied zu nehmen, entzückte ihn. Er war nie so glücklich in Lourdes, als unter dem großen Andrang der Gläubigen, wenn es so zuging, daß die Frauen fast erdrückt wurden. Trotzdem schien er nicht ganz befriedigt von dem Resultat der politischen Propaganda, die er hier jedes Jahr drei Tage hindurch machte. Ungeduld erfaßte ihn, es ging nicht schnell genug.

Wann würde Unsere Liebe Frau von Lourdes wohl die Monarchie zurückbringen?

»Sehen Sie, mein hochverehrter Pater, das einzige Mittel, der wahre Triumph bestände darin, die Arbeiter der Städte in Massen hierherzubringen. Ich denke nur noch daran, ich beschäftige mich nur noch damit. Ach, wenn man doch nur eine katholische Demokratie schaffen könnte.«

Der Pater Fourcade war sehr ernst geworden. Seine schönen, intelligenten Augen nahmen einen träumerischen Ausdruck an und verloren sich in der Ferne. Wie oft hatte er seinen Bemühungen die Erschaffung dieses neuen Volkes zum Ziel gesetzt! Aber war dazu nicht der Odem eines neuen Messias erforderlich?

»Ja, ja«, murmelte er, »eine katholische Demokratie ... Oh, die Geschichte der Menschheit würde wieder von vorn beginnen.«

Der Pater Massias unterbrach ihn mit leidenschaftlicher Stimme und sagte, alle Nationen der Erde würden schließlich dahin kommen, während der Doktor Bonamy, der bereits fühlte, daß in der Frömmigkeit der Pilger sich eine leichte Erkältung geltend machte, den Kopf schüttelte und der Ansicht war, daß alle Gläubigen der Grotte ihren Eifer verdoppeln müßten. Er erhoffte den Erfolg namentlich von der möglich größten Verbreitung, die den Wundern gegeben wurde. Und er tat, als strahle er, und lachte wohlgefällig, indem er auf das lärmende Vorbeiziehen der Kranken wies:

»Sehen Sie sie doch an, reisen sie nicht mit einem besseren Aussehen ab? Viele sehen nicht geheilt aus und tragen doch den Keim der Heilung mit sich fort, seien Sie dessen ganz sicher... Oh, die braven Leute, sie tun für den Ruhm Unserer Lieben Frau von Lourdes mehr als wir alle.«

Aber er mußte schweigen. Frau Dieulafay wurde in ihrem mit Seide ausgeschlagenen Kasten vorübergetragen. Man setzte sie vor der Tür des Wagens erster Klasse nieder, in dem eine Kammerfrau bereits die Gepäckstücke ordnete. Tiefes Mitleid erfüllte die Herzen, denn die arme Frau schien während der drei Tage, die sie in Lourdes verlebt hatte, nicht aus ihrer Erschöpfung erwacht zu sein. So, wie sie sie am Morgen der Ankunft inmitten ihres Luxus' ausgeladen hatten, so luden die Sänftenträger sie jetzt wieder ein, mit Spitzen bekleidet, mit Juwelen bedeckt, mit ihrem toten und blöden Mumiengesicht, das sich sozusagen verflüchtigte. Ja, man konnte glauben, sie wäre noch schlimmer daran als vorher, man führe sie mehr eingefallen von dannen, mehr und mehr zur Gestalt eines Kindes zusammengesunken durch das schreckliche Leiden, das erst die Knochen zerstörte und jetzt den weichen Stoff der Muskeln zerfraß. Untröstlich, mit rotgeweinten Augen, von dem Verlust ihrer letzten Hoffnung vernichtet, folgten ihr ihr Gatte und ihre Schwester mit dem Abbé Judaine, wie man einem Leichnam auf den Kirchhof folgt.

»Nein, nein, noch nicht« sagte der Priester zu den Trägern, indem er sie verhinderte, die Kranke in den Wagen zu schieben. »Es ist noch Zeit genug, sie hineinzusetzen. Mag wenigstens die Freundlichkeit dieses schönen Himmels bis zur letzten Minute auf ihr ruhen.« Als er dann Pierre in seiner Nähe sah, führte er ihn einige Schritte weg und sagte zu ihm mit gramerfüllter Stimme:

»Ach, mir bricht das Herz. Noch heute morgen hatte ich Hoffnung, ich habe sie nach der Grotte bringen lassen, habe meine Messe für sie gesprochen und habe dann noch bis elf Uhr gebetet. Aber es half nichts, die Heilige Jungfrau hat mich nicht gehört ... Ich, den sie geheilt hat, einen armen, unnützen alten Mann, ich habe die Genesung dieser schönen, jungen, reichen Frau nicht erlangen können, deren Leben doch ein beständiges Fest sein sollte ... Gewiß, die Heilige Jungfrau weiß besser als wir alle, was sie zu tun hat, und ich beuge mich und segne ihren Namen. Aber wahrhaftig, meine Seele ist von Traurigkeit erfüllt.«

Er sagte nicht alles, er gestand den Gedanken nicht ein, der ihn in seiner kindlichen Einfachheit und in seiner Eigenschaft eines braven Mannes, den weder die Leidenschaft noch der Zweifel jemals heimgesucht haben, so außer sich brachte. Es war der Gedanke, daß die bedauernswerten Leute, die da weinten, der Mann und die Schwester, zu viele Millionen besaßen, daß sie zu schöne Geschenke mitgebracht, daß sie der Basilika zuviel Geld gegeben hatten. Man erkauft das Wunder nicht, die Reichtümer dieser Welt schaden vielmehr vor Gott. Gewiß war die Heilige Jungfrau ihnen gegenüber nicht taub gewesen, sie hatte ihnen nur ein strenges und kaltes Herz gezeigt, um mehr auf die schwache Stimme der Armen zu hören, die mit leeren Händen, nur in ihrer Liebe reich, zu ihr gekommen waren. Diese überhäufte sie mit ihrer Gnade und überflutete sie mit der glühenden Zärtlichkeit einer göttlichen Mutter. Und diese armen Reichen, die nicht erhört worden waren, diese Schwester, dieser Gatte, die mit unglücklicher Miene bei dem traurigen Körper standen, den sie wieder mitnahmen, sie fühlten sich selbst als Parias inmitten der Menge geheilter oder getrösteter Armen. Sie schienen verlegen über ihren Luxus, sie wichen zurück, von Unbehagen und Mißmut erfüllt. Sie schämten sich, als sie sahen, daß Unsere Liebe Frau von Lourdes Bettlern Erleichterung gewährt hatte, während sie der schönen und mächtigen Dame, die sich in ihren Spitzen in Todeskämpfen wand, nicht einmal einen Blick gegönnt.

Pierre kam, als er Herrn von Guersaint und Marie noch immer nicht kommen sah, plötzlich der Gedanke, daß diese sich vielleicht schon im Wagen befänden. Er kehrte zurück, sah aber immer nur noch seinen Koffer, der auf der Bank lag. Schwester Hyacinthe und Schwester Ciaire des Anges fingen an, sich einzurichten und warteten auf ihre Kranken, und als Gérard Herrn Sabathier in einem kleinen Wagen herbeibrachte, leistete Pierre ihm hilfreiche Hand, um ihn hineinzuschaffen. Es war eine harte Arbeit, die sie in Schweiß brachte. Mit niedergeschlagener Miene, aber dennoch sehr ruhig und gefaßt, streckte sich der frühere Professor sogleich aus und nahm wieder Besitz von seiner Ecke.

»Ich danke, meine Herren, endlich sind wir so weit, das ist ein wahres Glück! Jetzt braucht man mich nur noch in Paris herauszuheben.«

Frau Sabathier stieg wieder aus, nachdem sie ihm die Beine in eine Decke gewickelt hatte, und blieb vor der geöffneten Wagentür stehen. Sie plauderte mit Pierre, unterbrach sich aber plötzlich und sagte:

»Da nimmt ja auch Frau Maze ihren Platz wieder ein... Sie hat mir neulich Geständnisse gemacht. Eine recht unglückliche, arme Frau.«

In liebenswürdigem Tone redete sie sie an und erbot sich, auf ihre Sachen aufzupassen. Aber die Neuangekommene erhob Einspruch, lachte und bewegte sich mit verstörter Miene hin und her.

»Nein, nein, ich fahre nicht mit.«

»Wie, Sie fahren nicht mit?«

»Nein, nein, ich fahre nicht mit, das heißt, ich fahre schon, aber nicht mit Ihnen, nicht mit Ihnen.«

Sie war so merkwürdig, so von sonniger Freude übergossen, daß beide Mühe hatten, sie wiederzuerkennen. Ihr Gesicht strahlte, sie schien aus der unendlichen Traurigkeit, aus ihrer Verlassenheit plötzlich herausgerissen, um zehn Jahre verjüngt.

Sie stieß einen Schrei überströmender Freude aus.

»Ich reise mit ihm, er ist gekommen, um mich abzuholen und nimmt mich mit... Ja, ja, wir reisen zusammen nach Luchon.«

Dann zeigte sie mit verzücktem Blick auf einen großen braunen Menschen mit fröhlicher Miene, der gerade im Begriff war, Zeitungen zu kaufen:

»Sehen Sie, das ist er, mein Mann, dieser schöne Mensch, der da drüben mit der Händlerin lacht... Heute morgen ist er gekommen. Er entführt mich, in zwei Minuten nehmen wir den Toulouser Zug... Oh, liebe Frau, ich habe Ihnen meine Qualen erzählt, Sie verstehen nun auch mein Glück, nicht wahr?«

Sie konnte nicht schweigen, sie sprach wieder von dem schrecklichen Brief, den sie am Sonntag bekommen und in dem er ihr mitgeteilt hatte, daß, wenn sie ihren Aufenthalt in Lourdes benütze, um ihn in Luchon aufzusuchen, er ihr seine Tür verschließen würde. Ein Mann, den sie aus Liebe geheiratet hatte! Ein Mann, der sie seit zehn Jahren vernachlässigte, der sein beständiges Umherziehen als Reisender dazu benutzte, um leichtfertige Geschöpfe von einem Ende Frankreichs zum andern spazierenzuführen. Jetzt war es aber zu Ende. Sie hatte den Himmel gebeten, sie von ihrem Kummer durch den Tod zu befreien, denn sie wußte wohl, daß der Treulose in diesem Augenblick sogar mit zwei Damen, zwei Schwestern, seinen Geliebten, in Luchon war. Was war denn nun geschehen, mein Gott? Ganz gewiß war es wie ein Blitzschlag herniedergefahren! Die beiden Damen hatten ohne Zweifel einen Wink von oben bekommen, das plötzliche Bewußtsein ihrer Sünde war ihnen aufgegangen, vielleicht in einem Traum, in dem sie sich im Fegefeuer gesehen hatten. Ohne eine Erklärung waren sie eines Abends aus dem Hotel verschwunden und hatten ihn dort sitzen lassen. Und er, der nicht allein leben konnte, hatte sich in so hohem Grade bestraft gefühlt, daß ihm der plötzliche Gedanke gekommen war, seine Frau aufzusuchen, um sie mitzunehmen und acht Tage bei sich zu behalten. Er sagte es nicht, aber sicher hatte ihn die göttliche Gnade berührt, und sie fand ihn zu hübsch, um nicht an einen wirklichen Beginn seiner Bekehrung zu glauben.

»Ach, wie dankbar bin ich der Heiligen Jungfrau«, fuhr sie fort. »Von ihr allein kommt sicher alles her, ich habe sie gestern abend wohl verstanden. Es war mir, als machte sie mir ein kleines Zeichen gerade in dem Augenblick, in dem mein Mann den Entschluß faßte, mich aufzusuchen ... Ich habe sie gerade um diese Stunde gebeten, das stimmt vollkommen... Sehen Sie, es gibt kein größeres Wunder, die anderen ringen mir ein Lächeln ab, die wiederhergestellten Beine und die verschwundenen Wunden. Ach, Unsere Liebe Frau von Lourdes sei gesegnet, sie hat mein Herz geheilt!«

Der große braune Mann drehte sich um, sie stürzte auf ihn zu und vergaß darüber, Adieu zu sagen. Diese unerhoffte Liebe, dieses verspätete Wiederaufblühen des Honigmondes, eine ganze Woche, die sie mit dem Manne verbringen würde, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte, machte sie wirklich vor Freude wahnsinnig. Er war ein guter Kerl, der sich in einer Stunde des Ärgers und der Einsamkeit ihr wieder zugewandt hatte, und wurde schließlich ganz weich. Das Abenteuer amüsierte ihn, und er fand sie viel hübscher, als er geglaubt hatte.

In diesem Augenblick kam in der wachsenden Flut der Kranken, die man herbeibrachte, der Zug von Toulouse endlich an. Das steigerte noch den Tumult, und es entstand eine außerordentliche Verwirrung. Man sah den Stationsvorsteher hin und her laufen, und aus voller Brust schrie er:

»Achtung da unten, machen Sie doch das Geleise frei I«

Ein Beamter mußte hineilen und einen kleinen, auf den Schienen vergessenen Wagen mit einer alten Frau fortstoßen. Eine entsetzte Schar von Pilgern lief noch etwa dreißig Meter vor der Lokomotive hin und her, die langsam, grollend und fauchend vorrückte. Andere verloren den Kopf und wären unter die Räder gekommen, wenn die Beamten sie nicht brutal bei den Schultern gefaßt hätten.

Endlich hielt der Zug, ohne jemand überfahren zu haben, inmitten der umherliegenden Matratzen, Kopfkissen und Kissen und der entsetzten Gruppen, die noch immer hin und her liefen. Die Türen wurden geöffnet, eine Flut von Reisenden stieg aus, eine andere stieg ein, so ergab sich eine doppelte Gegenströmung, und man drängte sich mit einem Eigensinn, der den Tumult bis zum äußersten steigerte. An den Fenstern der geschlossenen Abteile waren Köpfe erschienen, die zuerst nur neugierig geblickt hatten, dann aber angesichts des erstaunlichen Schauspiels von Entsetzen erfaßt wurden. Da waren besonders zwei junge, wunderhübsche Mädchen, deren treuherzige, große Augen schließlich das schmerzlichste Mitleid ausgedrückt hatten.

Frau Maze war, von ihrem Mann begleitet, in einen Wagen gestiegen. Sie war so glücklich, es war ihr so leicht, daß sie wie am schon fernliegenden Abend ihrer Hochzeitsreise zwanzig Jahre alt erschien. Die Türen wurden wieder geschlossen, die Lokomotive ließ einen lauten Pfiff ertönen, dann fuhr sie unter heftiger Erschütterung langsam, schwerfällig, inmitten des Wirrwarrs ab, der hinter dem Zuge wie der Erguß einer neu geöffneten und wieder strömenden Schleuse auf die Schienen zurückflutete.

»Sperren Sie doch den Bahnsteig ab«, schrie der Stationsvorsteher seinen Leuten zu, »und passen Sie auf, wenn die Maschine kommt.«

Inmitten dieses Lärmens kamen die verspäteten Pilger und Kranken an. Die Grivotte mit ihren fieberhaften Augen schritt in ihrer tanzenden Aufregung vorüber, begleitet von Louise Roquet und Sophie Couteau, die sehr heiter und vom Laufen außer Atem waren. Alle drei beeilten sich, den Wagen zu erreichen, in dem Schwester Hyacinthe sie ausschalt. Sie waren beinahe in der Grotte geblieben, wo Pilger, die sich nicht losreißen konnten, sondern immer noch einmal zur Heiligen Jungfrau flehen und ihr danken wollten, sich manchmal vergaßen, während der Zug auf dem Bahnhof auf sie wartete.

Plötzlich bemerkte Pierre, der ebenfalls beunruhigt war, denn er wußte nicht, was er davon denken sollte, Herrn von Guersaint und Marie, die ruhig unter dem Sonnendach stehengeblieben und in einer Unterhaltung mit dem Abbé Judaine begriffen waren. Er eilte auf sie zu und erklärte ihnen seine Ungeduld.

»Was haben Sie denn gemacht? Ich fing schon an, alle Hoffnung aufzugeben.« »Wie, was wir getan haben?« erwiderte Herr von Guersaint erstaunt und friedlich. »Nun, wir waren in der Grotte, Sie wissen es doch... Ein Priester war da, der in ganz bemerkenswerter Weise predigte. Wir wären noch dort, wenn ich mich nicht daran erinnert hätte, daß wir abreisen wollen. Und wir haben auch einen Wagen genommen, wie wir es Ihnen versprochen hatten...«

Er unterbrach sich, um auf die große Uhr zu blicken.

»Es eilt ja nicht, der Zug wird vor einer Viertelstunde nicht abfahren.«

Das war richtig, und Marie zeigte ein Lächeln göttlicher Freude.

»Pierre, wenn Sie wüßten, welches Glück ich von diesem letzten Besuche bei der Heiligen Jungfrau mit fortnehme! Ich habe gesehen, wie sie mir zulächelte, ich habe gefühlt, wie sie mir die Kraft zum Leben gab... Wahrhaftig, das war ein köstliches Lebewohl, und Sie dürfen uns nicht schelten, Pierre.«

Über seine ängstliche Aufregung ein wenig beschämt, hatte er selbst zu lächeln angefangen. War denn der Wunsch, von Lourdes fortzukommen, so lebhaft in ihm? Fürchtete er, daß Marie von der Grotte behalten werden würde und nicht mehr zurückkehrte? Jetzt, da sie da war, wunderte er sich und fühlte sich ganz ruhig.

Als er ihnen aber schließlich doch riet, sich in den Wagen zu setzen, erblickte er Doktor Chassaigne, der auf sie zulief.

»Oh, mein guter Doktor, ich erwarte Sie. Es hätte mir einen großen Kummer bereitet, wenn ich Sie vor der Abreise nicht noch einmal hätte umarmen können.«

Aber der alte Arzt unterbrach ihn zitternd vor Aufregung:

»Ja, ja, ich habe mich verspätet. Denken Sie sich nur, als ich vor zehn Minuten hier ankam, plauderte ich dort unten mit dem Hauptmann, Sie kennen ihn ja, das Original. Er kicherte, als er Ihre Kranken wieder den Zug besteigen sah, der sie nach Hause brachte, damit sie dort sterben könnten, was sie schon vorher hätten tun sollen ... Da plötzlich ist er vor mir, wie vom Donner gerührt, niedergestürzt... Es war sein dritter Schlaganfall, auf den er gewartet hatte...«

»Oh, mein Gott«, murmelte der Abbé Judaine, der zugehört hatte, »er lästerte, der Himmel hat ihn bestraft.«

Herr von Guersaint und Marie lauschten gespannt und bewegt.

»Ich habe ihn hierher in eine Ecke des Schuppens tragen lassen«, fuhr der Doktor fort. »Es ist wohl mit ihm zu Ende, ich kann nichts tun, er wird zweifellos vor Ablauf einer Viertelstunde sterben... Da habe ich an einen Priester gedacht und mich beeilt, hierherzulaufen.«

Er wandte sich um.

»Herr Pfarrer, Sie kennen ihn, kommen Sie doch mit. Man kann doch einen Christen nicht so sterben lassen. Vielleicht läßt er sich rühren, erkennt seinen Irrtum an und versöhnt sich mit Gott...«

Lebhaft folgte ihm der Abbé Judaine, und hinter ihnen nahm Herr von Guersaint Marie und Pierre mit, die der Gedanke an dieses Drama leidenschaftlich bewegte. Alle vier traten in den Gepäckschuppen, zwanzig Schritte von der tosenden Menge, von der niemand ahnte, daß ein Mensch so nahe bei ihnen im Todeskampf lag.

In einer einsamen Ecke, zwischen zwei Reihen von Hafersäcken, lag der Hauptmann auf einer Matratze, die man zur Reserve mitgenommen hatte. Er war mit seinem ewigen Überrock bekleidet, sein breites rotes Band schmückte das Knopfloch, und jemand hatte die Vorsicht gehabt, seinen Stock mit dem silbernen Knopf aufzuheben und ihn sorgsam neben die Matratze auf die Erde gelegt.

Der Abbé Judaine beugte sich sogleich zu ihm nieder.

»Mein armer Freund, Sie erkennen uns, Sie hören uns, nicht wahr?«

An dem Hauptmann schienen nur noch die Augen zu leben, diese aber lebten und leuchteten noch mit einer Flamme hartnäckiger Energie. Der Anfall, der diesmal die rechte Seite getroffen hatte, mußte ihm wohl die Sprache geraubt haben. Dennoch stammelte er einige Worte, und es gelang ihm, sich dahin verständlich zu machen, daß er hier endigen wollte, ohne daß man ihn von der Stelle rühre und ihn noch mehr belästige. Er hatte keinen Verwandten in Lourdes, niemand wußte hier etwas von seiner Vergangenheit oder seiner Familie, er lebte hier seit drei Jahren von seiner kleinen Anstellung auf dem Bahnhof und sah jetzt mit vollkommen glücklicher Miene endlich seinen glühenden, seinen einzigen Wunsch sich verwirklichen, den Wunsch, zu scheiden, in den ewigen Schlaf, in das heilende Nichts zu versinken. In seinen Augen strahlte in der Tat seine ganze große Freude.

»Haben Sie irgendeinen Wunsch auszusprechen?« fuhr der Abbé Judaine fort, »können wir Ihnen nicht in irgendeiner Weise nützlich sein?«

Nein, nein, seine Augen antworteten, daß er sich wohlfühlte, daß er zufrieden wäre. Schon seit drei Jahren war er nicht einen Morgen aufgestanden, ohne zu hoffen, er werde abends auf dem Kirchhof liegen. Wenn die Sonne glänzte, hatte er gewöhnlich mit sehnsüchtiger Miene gesagt: »Ach, welch schöner Tag zum Scheiden!« Mit Freuden wurde er empfangen, der Tod, der endlich kam, um ihn von diesem entsetzlichen Leben zu befreien.

Doktor Chassaigne konnte dem Priester, der ihn anflehte, doch etwas zu versuchen, in bitterem Tone nur wiederholen:

»Ich kann nichts tun, die Wissenschaft ist ohnmächtig, sein Urteil ist gesprochen.«

In diesem Augenblick trat eine alte Frau, eine Pilgerin von achtzig Jahren, die sich verlaufen hatte und nicht mehr wußte, wohin sie gehen sollte, in den Schuppen. Sie schleppte sich, lahm und buckelig, zur Größe eines Kindes zusammengesunken, an allen Übeln des äußersten Greisenalters leidend, an einem Stocke dahin und nahm doch eine an einem Gurtriemen hängende, mit Wasser von Lourdes gefüllte Feldflasche mit, um ihr Leben trotz des entsetzlichen ruinenhaften Zustandes, in dem es sich befand, noch zu verlängern. Einen Augenblick geriet sie in ihrer greisenhaften Blödigkeit in Bestürzung, und sie betrachtete den Mann, der da mit steifen Gliedern sterbend auf der Erde lag. Dann erschien eine großmütterchenhafte Güte in ihren wirren Augen; eine Vertraulichkeit, die ihr das hohe Alter und ihre Gebrechlichkeit verliehen, veranlaßte sie, näherzutreten. Mit ihren beständig zitternden Händen ergriff sie ihre Feldflasche und hielt sie dem Manne hin.

Das war für den Abbé ein plötzlicher Lichtstrahl, gleichsam eine Eingebung von oben. Er, der so viel für die Genesung der Frau Dieulafay gebetet und den die Heilige Jungfrau nicht erhört hatte, fühlte sich von einem neuen Glauben durchglüht und war überzeugt, der Hauptmann würde geheilt werden, wenn er tränke. Er fiel am Rande der Matratze auf die Knie nieder.

»Oh, mein Bruder, Gott sendet Ihnen diese Frau... Versöhnen Sie sich mit Gott, trinken Sie und beten Sie, während wir von ganzer Seele das himmlische Mitleid anflehen werden. Gott wird Ihnen seine Macht beweisen, Gott wird das große Wunder wirken, Sie aufrichten, damit Sie noch lange Jahre auf dieser Erde wandeln können, um ihn zu lieben und zu preisen.«

»Nein, nein!« Die glänzenden Augen des Hauptmanns schrien »nein!« Er sollte ebenso feige sein wie diese Herden von Pilgern, die unter so großer Mühsal weit herkamen, um sich zur Erde zu werfen, zu schluchzen und den Himmel anzuflehen, daß er sie noch einen Monat, ein Jahr, noch zehn Jahre leben lasse? ... Und es war doch so gut, so einfach, ruhig in seinem Bett zu sterben. Man dreht sich nach der Wand um und stirbt.

»Trinken Sie, mein Bruder, ich beschwöre Sie... Es ist das Leben, das Sie trinken werden, die Gesundheit, die Kraft, und es ist auch die Freude am Leben... Trinken Sie, um wieder jung zu werden und ein frommes Leben zu beginnen. Trinken Sie, um das Lob der göttlichen Mutter zu singen, die Ihren Körper und Ihre Seele retten wird... Sie spricht zu mir, Ihre Auferstehung ist gewiß...«

»Nein, nein!« Die Augen lehnten ab, sie stießen das Leben mit wachsender Hartnäckigkeit zurück. Und jetzt kam sogar eine dumpfe Furcht vor dem Wunder dazu. Der Hauptmann glaubte nicht. In den drei Jahren, die er hier war, hatte er angesichts der angeblichen Heilungen immer nur die Achseln gezuckt. Aber konnte man denn in dieser merkwürdigen Welt je wissen, was zu erwarten war? Es geschahen manchmal so außerordentliche Dinge!

Wenn ihr Wasser zufällig wirklich eine übernatürliche Kraft besäße und wenn sie ihm mit Gewalt davon zu trinken gäben, es wäre furchtbar, wieder aufzuleben, das Zuchthausdasein von neuem zu beginnen, das greuliche Leiden durchzumachen, das Lazarus, der bejammernswerte Auserkorene für das große Wunder, zweimal erduldet hatte! Nein, nein, er wollte nicht trinken, er wollte sich der schrecklichen Möglichkeit der Wiederauferstehung nicht aussetzen.

»Trinken Sie, trinken Sie, mein Bruder«, wiederholte der alter Priester mit Tränen in den Augen, »verharren Sie nicht in Ihrer Ablehnung der göttlichen Gnaden.«

Und nun sah man das Entsetzliche, wie dieser schon halbtote Mann sich aufrichtete, die beklemmenden Bande des Starrkrampfs abschüttelte, für eine Sekunde seine gefesselte Zunge löste und grollend und stammelnd mit rauher Stimme schrie:

»Nein, nein, nein!«

Pierre mußte die alte erschreckte Pilgerin fortführen und ihr den Weg zeigen. Sie hatte diese Zurückweisung des Wassers nicht begriffen, das sie als ein unschätzbares Gut, als das Geschenk der Ewigkeit Gottes für die armen Leute, die nicht sterben wollen, davontrug. Hinkend und buckelig den traurigen Rest ihrer achtzig Jahre an ihrem Stocke dahinschleppend, verschwand sie unter der hin und her eilenden Menge, verzehrt von der Leidenschaft zu leben, gierig nach frischer Luft, Sonne und Lärm. Marie und ihr Vater begannen zu zittern angesichts dieses Verlangens nach dem Tode, dieses heißhungrigen Begehrens nach dem Nichts. Ach, schlafen, schlafen ohne Traum, in der Unendlichkeit der Schatten, ewig, ewig! Nichts auf der Welt konnte so süß sein. Es war nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben, nicht der Wunsch, in einem Paradies der Gleichheit und Gerechtigkeit endlich glücklich zu werden. Es war nur das Bedürfnis nach der schwarzen Nacht, nach dem endlosen Schlummer, die Freude, auf ewig nicht mehr zu sein. Den Doktor Chassaigne überlief ein Schaudern, denn auch er nährte nur einen Gedanken, den an die Glückseligkeit der Minute, in der er sterben würde. Aber jenseits dieses Lebens erwarteten ihn seine teuren Toten, seine Frau und seine Tochter, beim Stelldichein im ewigen Leben!

Mühsam erhob sich der Abbé Judaine. Er hatte zu bemerken geglaubt, daß der Hauptmann jetzt seine lebhaften Augen auf Marie richtete. Über sein unnützes Flehen tief betrübt, wollte er ihm ein Beispiel der Güte Gottes zeigen, die er zurückstieß.

»Sie erkennen sie, nicht wahr? Ja, es ist das junge Mädchen, das Sonnabend so krank, an beiden Beinen gelähmt, hier ankam, und nun sehen Sie sie jetzt, gesund, stark und schön!... Der Himmel hat ihr Gnade erwiesen, sie fühlt sich in ihrer Jugend wie neugeboren zu dem langen Leben, zu dem sie geboren ist... Empfinden Sie keine Sehnsucht, wenn Sie sie betrachten? Möchten Sie auch dieses Kind am liebsten tot sehen? Hätten Sie ihr auch geraten, nicht zu trinken?«

Der Hauptmann konnte nicht antworten, aber seine Augen verließen das junge Gesicht Maries nicht mehr, in dem man ein großes Glück über ihre Auferstehung las, eine feste Hoffnung auf zahllose kommende Tage, und Tränen erschienen, quollen unter seinen Wimpern hervor, rollten an seinen bereits kalten Wangen hernieder. Er weinte gewiß über sie, er dachte an jenes andere Wunder, das er ihr gewünscht hatte, wenn sie gesund würde, nämlich, glücklich zu werden. Es war die Rührung eines alten Mannes, der das Elend dieser Welt kannte, und den all die Schmerzen, die dieses Geschöpf noch erwarteten, mit Mitleid erfüllten.

Ach, das arme Weib! Wie oft würde sie vielleicht bedauern, nicht in ihrem zwanzigsten Jahr gestorben zu sein!

Nun verdunkelten sich seine Augen, als wenn die Tränen des äußersten Mitleids sie aufgelöst hätten. Es war das Ende, der Verfall trat ein, das geistige Bewußtsein schwand mit dem Atem. Er wandte sich um und starb.

Sogleich schob Doktor Chassaigne Marie beiseite.

»Der Zug geht ab, beeilen Sie sich!«

In der Tat drang inmitten des immer mehr anschwellenden Tumults der Menge deutlich ein Glockenläuten bis zu ihnen. Der Doktor wollte, nachdem er zwei Sänftenträger beauftragt hatte, bei der Leiche zu wachen, die man später, wenn der Zug nicht mehr da wäre, fortbringen würde, seine Freunde bis zu ihrem Wagen begleiten.

Alle beeilten sich. Verzweifelt war der Abbé Judaine zu ihnen getreten, nachdem er für die Ruhe dieser empörten Seele ein kurzes Gebet gesprochen hatte. Aber als Marie, von Pierre und Herrn von Guersaint begleitet, den Bahnsteig entlang lief, wurde sie wieder von Doktor Bonamy aufgehalten, der sie triumphierend dem Pater Fourcade vorstellte.

Der Pater zeigte das strahlende Lächeln eines Generals, den man an seinen bedeutendsten Sieg erinnert.

»Ich weiß, ich weiß, ich war ja dabei. Meine teure Tochter, Gott hat Sie unter allen gesegnet, gehen Sie hin und preisen Sie seinen Namen.«

Dann beglückwünschte er Herrn von Guersaint, der in seinem väterlichen Stolz göttliche Freude empfand. Wieder begannen die Ovationen. Es erhob sich ein Konzert zärtlicher Worte, verwunderte, begeisterte Bücke, wie sie dem jungen Mädchen schon am Morgen durch die Straßen Lourdes' gefolgt waren, umfingen sie auch jetzt wieder in der letzten Minute vor der Abfahrt. Die Glocke mochte noch so viel läuten, ein Kreis entzückter Pilger hatte sich um sie gebildet, und in ihrer Person schien sich der Ruhm der Pilgerfahrt, der Triumph der Religion zu verkörpern, der von nun an von allen Enden der Welt widerhallen würde. Pierre war tief bewegt, als er in diesem Augenblick die schmerzliche Gruppe bemerkte, die nebenan Herr Dieulafay und Frau Jousseur bildeten. Ihre Blicke hatten sich auf Marie gerichtet, sie wunderten sich ebenso wie die andern über die außerordentliche Genesung des schönen, jungen Mädchens, das sie kraftlos, abgemagert, mit erdfahlem Antlitz gesehen hatten. Warum denn gerade dies Kind? Warum nicht die junge Frau, die teure Frau, die sie sterbenskrank wieder fortnahmen? Ihre Verwirrung, ihre Scham schienen noch zugenommen zu haben. In dem Unbehagen, das sie als zu reiche Parias empfanden, wichen sie zurück. Ja, es war eine Erleichterung für sie, als sie, nachdem drei Sänftenträger Frau Dieulafay mit großer Mühe in das Abteil erster Klasse hineingebracht hatten, in Gesellschaft des Abbé Judaine ebenfalls verschwinden konnten.

Schon riefen die Beamten: »Einsteigen, einsteigen!« Der Pater Massias, der mit der geistlichen Leitung des Zuges betraut war, hatte seinen Platz wieder eingenommen, und ließ den Pater Fourcade, der sich auf die Schulter des Doktor Bonamy stützte, auf dem Bahnsteig zurück. Mit lebhaftem Eifer grüßten Berthaud und Gérard noch einmal die Damen, während Raymonde zu Frau Desagneaux und Frau Volmar einstieg, die sich in einer Ecke niedergelassen hatten, und endlich lief auch Frau von Jonquière zu ihrem Wagen, an dem sie gleichzeitig mit den Guersaints anlangte. Man drängte sich, man hörte Geschrei und Rufe, einige liefen erschreckt von einem Ende des unendlichen Zuges zum andern, an den man eben die Lokomotive angehängt hatte, eine vollständig aus Kupfer gearbeitete Maschine, die wie ein Stern leuchtete.

Pierre ließ Marie vorangehen, als Herr Vigneron, der im Galopp zurückgelaufen kam, ihm zuschrie: »Es ist gültig, es ist gültig.« Damit zeigte er, über und über rot, seine Fahrkarte und schwenkte sie hin und her. Dann lief er bis zu dem Abteil, in dem sich seine Frau und sein Sohn befanden, um ihnen die gute Nachricht mitzuteilen.

Als Marie und ihr Vater sich niedergelassen hatten, blieb Pierre noch eine Minute bei Doktor Chassaigne, der ihn väterlich umarmte, auf dem Bahnsteig stehen. Er wollte ihm das Versprechen abnehmen, wieder nach Paris zurückzukehren und sich wieder ein wenig mit dem Dasein zu befreunden. Aber der alte Arzt schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, mein liebes Kind, ich bleibe... Sie sind hier und sie halten mich hier zurück.« Er sprach von seinen teuren Toten. Dann sagte er tiefgerührt, in sanftem Tone:

»Leben Sie wohl.«

»Nicht Lebewohl, verehrter Doktor, auf Wiedersehen!«

»Doch, doch, Lebewohl... Sehen Sie, der Hauptmann hatte doch recht... Es gibt nichts Schöneres, als zu sterben, aber nur, um zu einem neuen Leben aufzuerstehen.«

Der Baron Suire gab den Befehl, die weißen Fahnen am Anfang und Ende des Zuges fortzunehmen. Gebieterischer erklangen die Rufe der Beamten: »Einsteigen, einsteigen!« Und nun entstand der größte Wirrwarr: es war die Flut der Zuspätkommenden, die verwirrt, atemlos, wie ein Strom heranbrausten. In dem Wagen zählten Frau von Jonquière und Schwester Hyacinthe ihre Leute. Die Grivotte, Elise Rouquet und Sophie Couteau waren da. Frau Sabathier hatte sich ihrem Manne gegenüber auf ihren Platz gesetzt. Sabathier wartete mit halbgeschlossenen Augen geduldig auf die Abfahrt.

Da fragte eine Stimme:

»Und Frau Vincent, reist sie denn nicht mit uns?«

Schwester Hyacinthe, die sich herausbeugte und mit Ferrand, der auf der Schwelle des Gepäckwagens stand, noch ein Lächeln wechselte, rief: »Da kommt sie ja.«

Frau Vincent überschritt die Schienengeleise und kam als letzte, verstört und außer Atem, herbeigelaufen. Sogleich sah Pierre mit unwillkürlichem Blick nach ihren Armen, sie waren leer.

Alle Türen wurden jetzt geschlossen und klappten nacheinander zu. Die Wagen waren voll, es war nur noch das Zeichen zur Abfahrt zu geben. Zischend, rauchend ließ die Maschine in gellendem Freudenton ihr erstes Pfeifen erschallen, und in dieser Minute zerstreute die bis dahin verschleierte Sonne den leichten Nebel und überflutete den Zug mit der in vollem Goldglanze strahlenden Maschine, die nach dem Paradies der Legenden abzufahren schien. Es war eine Abfahrt voll kindlicher, göttlicher Fröhlichkeit, ohne irgendwelche Bitterkeit. Alle Kranken schienen geheilt zu sein. Wenn man sie auch so fortbrachte, wie man sie hergebracht hatte, sie schieden doch erleichtert und glücklich, wenigstens für eine Stunde. Nicht die geringste Eifersucht störte ihre Eintracht. Die nicht geheilt waren, freuten sich und triumphierten über die Genesung der anderen. An sie würde gewiß auch einmal die Reihe kommen, die geschehenen Wunder waren für sie ein förmliches Versprechen der kommenden Wunder. Am Schlusse der drei Tage voll glühender Bitten dauerte das Fieber des Wunsches ungeschwächt fort, und der Glaube der Vergessenen war noch ebenso lebendig wie zuvor, sie waren überzeugt, daß sich die Heilige Jungfrau sie zum Heil ihrer Seele einfach für später vorbehalten habe. In ihnen allen, in all diesen lebensbegierigen, armen Menschen brannte die unauslöschliche Liebe, die unbesiegliche Hoffnung. Ein letzter Ausbruch der Freude erschütterte die übervollen Wagen, ein Ungestüm außerordentlichen Glückes, das sich in Lachen und Schreien Luft machte: »Auf nächstes Jahr! Wir werden wiederkommen, wir werden wiederkommen!« Und die kleinen, fröhlichen Schwestern von Mariä Himmelfahrt klatschten in die Hände, und der Gesang der Dankbarkeit, das von achthundert Pilgern gesungene Magnifikat, stieg empor.

»Magnificat anima mea Dominum...«

Nun ließ der Stationsvorsteher, der sich endlich beruhigt hatte und mit schlenkernden Armen dastand, das Signal geben. Von neuem pfiff die Maschine, dann brauste sie los und rollte in der leuchtenden Sonne wie in einem Glorienscheine davon. Auf dem Bahnsteig war der Pater Fourcade, auf die Schulter des Doktor Bonamy gestützt, stehengeblieben, sein Bein verursachte ihm große Schmerzen, aber trotzdem begrüßte er noch mit einem Lächeln die Abfahrt seiner teuren Kinder, während Berthaud, Gérard und der Baron Suire eine andere Gruppe bildeten und neben ihnen Doktor Chassaigne und Herr Vigneron mit den Taschentüchern wehten. Aus den Türen der dahinfliegenden Wagen lehnten sich fröhliche Köpfe heraus, und Taschentücher flatterten ebenfalls in der von der Fahrt des Zuges bewegten Luft.

Frau Vigneron zwang den kleinen Gustave, sein bleiches Gesicht zu zeigen. Lange Zeit konnte man der rundlichen Hand Raymondes folgen, die Grüße zurücksandte. Marie aber betrachtete bis zuletzt das zwischen dem Grün verschwindende Lourdes.

Triumphierend, glänzend und rasselnd verschwand der Zug in der hellen Landschaft, während mit voller Stimme sich der Gesang erhob:

»Et exsultavit Spiritus meus in Deo salutari meo.«


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