Emile Zola
Lourdes
Emile Zola

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Dritter Tag

I

An diesem schönen, warmen und hellen Augustsonntag befand sich Herr von Guersaint in einem der zwei kleinen Zimmer, die er im dritten Stock des Hotels des Apparitions in der Rue de la Grotte gemietet hatte. Er war gleich um elf Uhr zu Bett gegangen, wachte ausgeruht auf und kleidete sich an. Er ging dann sogleich ins andere Zimmer hinüber, das Pierre bewohnte. Dieser aber, der erst nach ein Uhr morgens zurückgekehrt war, war erst gegen Tag eingeschlummert und schlief noch. Seine über einen Stuhl geworfene Soutane und die anderen umherliegenden Kleidungsstücke verrieten seine Ermüdung und seine Aufregung.

»Sie Faulenzer!« rief Herr von Guersaint heiter. »Hören Sie die Glocken nicht läuten?«

Pierre fuhr aus dem Schlafe auf. Er war überrascht, sich in diesem engen, von der Sonne überfluteten Hotelzimmer zu finden. In der Tat drang durch das offene Fenster der fröhliche Schall der Glocken herein, in der ganzen glücklichen Stadt läutete es.

»Es wird uns nicht mehr gelingen, vor acht Uhr im Hospital zu sein, um Marie abzuholen«, sagte Herr von Guersaint. »Denn wir wollen jetzt frühstücken, nicht wahr?«

»Natürlich. Bestellen Sie rasch zwei Tassen Schokolade. Ich stehe unterdessen auf, ich werde nicht lange brauchen.«

Als Pierre sich allein befand, sprang er trotz der Steifheit, die seine Glieder zerbrach, aus dem Bett und beeilte sich. Er hatte noch das Gesicht in der Waschschüssel, um sich im kalten Wasser zu erfrischen, als Herr von Guersaint, der nicht allein bleiben konnte, wieder erschien.

»Es ist geschehen«, sagte er, »man bringt uns das Frühstück herauf ... Ach, dieses Hotel! Haben Sie den ganz weiß gekleideten, würdigen Eigentümer, Herrn Majesté, in seinem Büro gesehen? Es scheint, das Haus ist überfüllt... Noch nie hatten sie so viele Gäste... Darum auch der höllische Lärm! Dreimal haben sie mich diese Nacht aufgeweckt. Ich weiß nicht, was in dem Zimmer, das neben meinem Zimmer liegt, getrieben wird. Eben noch vernahm ich einen Stoß gegen die Wand, dann wisperte und dann seufzte es –«

Er unterbrach sich, um zu fragen:

»Haben Sie gut geschlafen?«

»Durchaus nicht«, antwortete Pierre. »Ich war wie zerschlagen, es ist mir unmöglich gewesen, die Augen zu schließen. Zweifellos ist all das Getöse daran schuld, von dem Sie sprechen.«

Er sprach von den dünnen Zwischenwänden, von dem vollgestopften Haus, das unter der Last aller dieser Leute fast zusammenbrach. Die ganze Nacht hindurch hörte man unerklärliche Stöße, ungestüme Laufereien in den Gängen, schwerfällige Schritte, laute Stimmen, ohne das Ächzen der Kranken zu zählen und den Husten, den schrecklichen Husten, der von allen Seiten aus den Mauern herauszukommen schien. Augenscheinlich kamen die ganze Nacht Leute nach Hause und gingen wieder fort, sie standen auf und legten sich wieder zu Bett. Denn man fragte gar nicht mehr nach der Zeit, man lebte in der Unregelmäßigkeit leidenschaftlicher Gemütsbewegungen und ging zur Andacht, wie man zum Vergnügen gegangen wäre.

»Und wie haben Sie Marie gestern abend verlassen?« fragte Herr von Guersaint plötzlich.

»Viel besser«, antwortete Pierre. »Sie hatte eine schlimme Krise, fand dann aber bald all ihren Mut und ihren ganzen Glauben wieder.«

Es trat Stillschweigen ein.

»Oh, ich bin nicht besorgt«, nahm der Vater in seinem ruhigen Optimismus die Rede wieder auf. »Sie werden sehen, daß es sehr gut gehen wird ... Ich bin entzückt. Ich hatte von der Heiligen Jungfrau ihren Beistand für meine Angelegenheiten erbeten, Sie wissen, für meine große Erfindung, das lenkbare Luftschiff. Nun denn, wenn ich Ihnen sagen würde, daß sie mir ihre Gunst schon zu erkennen gegeben hat? Jawohl, als ich gestern abend mit dem Abbé des Hermoises plauderte, sprach er davon, daß er mir ohne Zweifel in Toulouse einen unermeßlich reichen Geldverleiher ausfindig machen würde, einen Freund von ihm, der sich für Mechanik interessiert. Ich habe darin sogleich den Finger Gottes erkannt.«

Und er lachte wie ein Kind. Dann fügte er hinzu:

»Ein sehr liebenswürdiger Mann, dieser Abbé des Hermoises! Ich werde sehen, ob es nicht möglich ist, heute nachmittag und um billigen Preis den Ausflug nach dem Tal von Gavarnie mit ihm zu machen.«

Pierre, der alles, den Gasthof und das übrige bezahlen wollte, drängte ihn freundschaftlich.

»Freilich«, sagte er, »versäumen Sie diese Gelegenheit, die Berge zu besuchen, nicht, da Sie es so sehr wünschen. Ihre Tochter wird glücklich sein, wenn sie weiß, daß Sie glücklich sind.«

Sie wurden jedoch unterbrochen. Das Mädchen brachte ihnen auf einem mit einer Serviette belegten Tablett zwei Tassen Schokolade und zwei kleine Brote. Da sie die Tür offengelassen hatte, konnte man einen Teil des Ganges mit den Zimmerreihen sehen.

»Da! Man macht schon das Zimmer meines Nachbars«, bemerkte Herr von Guersaint. Neugierig fragte er: »Er ist verheiratet, nicht wahr?«

Das Mädchen sah ihn erstaunt an.

»O nein!« antwortete sie, »er ist ganz allein.«

»Wie, ganz allein! Es war eine unaufhörliche Bewegung bei ihm, und diesen Morgen noch wurde bei ihm geplaudert und geseufzt!«

»Das ist nicht möglich, er ist ganz allein. Soeben ging er hinunter, nachdem er Befehl gegeben, man solle rasch sein Zimmer ordnen. Und er hat nur ein Zimmer mit einem großen Schrank, dessen Schlüssel er mitgenommen hat, weil er da Wertsachen eingeschlossen hat.«

Sie vergaß sich und schwatzte weiter, während sie die zwei Tassen Schokolade auf den Tisch stellte.

»Er ist wohl ein Mann von Stande. Das letzte Jahr hatte er eines der einzeln stehenden Sommerhäuser bekommen, die Herr Majesté im nächsten Gäßchen vermietet. Dieses Jahr aber ist er zu spät gekommen, er mußte sich mit diesem Zimmer begnügen, was ihn geradezu zur Verzweiflung brachte. Weil er nicht mit aller Welt essen mag, läßt er sich in seinem Zimmer bedienen. Er trinkt guten Wein und ißt gute Speisen.«

»Das ist's«, folgerte Herr von Guersaint lustig, »er wird gestern abend zuviel gegessen haben.«

Pierre hatte neugierig zugehört.

»Und auf dieser Seite, auf der Seite neben mir«, fragte er, »wohnen da nicht zwei Damen mit einem Herrn und einem Knaben, der an einer Krücke geht?«

»Ja, Herr Abbé! Ich kenne sie. Die Tante, Frau Chaise, hat das eine der zwei Zimmer genommen, während Herr und Frau Vigneron mit ihrem Sohn Gustave sich im andern zusammendrängen mußten. Es ist das zweite Jahr, daß sie kommen. Oh, das sind gleichfalls sehr wohlhabende Leute!«

Während der Nacht hatte Pierre in der Tat die Stimme des Herrn Vigneron, den die Hitze belästigen mußte, zu erkennen geglaubt. Da das Mädchen sich einmal dem Schwatzen überlassen hatte, so gab sie auch die anderen Mieter des Ganges an: links wohnten ein Priester, eine Mutter mit ihren drei Töchtern und ein altes Ehepaar; rechter Hand ein anderer einzelner Herr, eine junge einzelne Dame und noch eine ganze Familie mit fünf kleinen Kindern. Das Hotel war überfüllt bis unters Dach. Die Dienstmädchen, die ihre Kammern den Gästen überlassen hatten, schliefen alle zusammen in der Waschküche. Die letzte Nacht hatte man Feldbetten bis auf die Treppenflure hinaus gestellt. Ein ehrenwerter Geistlicher hatte sich sogar genötigt gesehen, auf einem Billard zu schlafen.

Als das Mädchen sich endlich zurückgezogen und die zwei Männer ihre Schokolade getrunken hatten, ging Herr von Guersaint in sein Zimmer, um sich aufs neue die Hände zu waschen, denn er hielt sorgfältig auf seine Person. Pierre trat einen Augenblick auf den engen Balkon. Alle Zimmer des dritten Stockwerks auf dieser Seite des Hotels waren mit einem Balkon versehen, der eine Brustlehne aus geschnitztem Holz besaß. Aber er wurde aufs äußerste überrascht. Auf dem nächsten Balkon, dem, der zu dem Zimmer gehörte, das der Herr ganz allein einnahm, sah er, wie eine Frau ihren Kopf weit zur Tür herausstreckte, er hatte Frau Volmar erkannt. Ja, sie war es, mit ihrem langen Gesicht, ihren feinen, gespannten Zügen und ihren herrlichen Augen, die glühenden Kohlen glichen. Sie fuhr auf, als sie ihn erkannte. Er selbst hatte sich, sehr verlegen und tief betrübt, sie so zu beunruhigen, in Eile zurückgezogen. Da ging ihm plötzlich das volle Verständnis für alles auf: der Herr hatte nur dieses Zimmer mieten können und verbarg darin vor allen Augen seine Geliebte, indem er sie, solange aufgeräumt wurde, im Schrank einschloß. Sie verzehrten gemeinschaftlich die Gerichte, die man ihm heraufbrachte, und beide tranken aus dem nämlichen Glas, auch die Geräusche während der Nacht fanden damit eine Erklärung. Auf diese Weise verflossen für sie im Innern dieses abgesperrten Zimmers drei Tage Haft und Leidenschaft. Ohne Zweifel hatte sie nach beendigtem Aufräumen es gewagt, den Schrank von innen wieder zu öffnen, den Kopf aus dem Fenster zu strecken und in die Straße hinabzuschauen, um zu sehen, ob ihr Freund nicht zurückkäme. Deshalb also hatte man sie nicht wieder im Hospital gesehen, wo die kleine Frau Desagneaux fortwährend nach ihr fragte!

Pierre stand unbeweglich, sein Herz schnürte sich zusammen, und er versank in eine tiefe Träumerei, indem er über das Leben dieser Frau nachdachte, die er kannte, über die Marter ihres ehelichen Lebens in Paris zwischen einer rohen Schwiegermutter und einem unwürdigen Gatten, dann über diese drei einzigen Tage völliger Freiheit im Jahr und das ungestüme Aufflammen der Liebesglut unter dem Vorwand, in Lourdes Gott dienen zu wollen. Tränen, die er sich selbst nicht erklären konnte, Tränen, die aus der innersten Tiefe seines Wesens, seiner freiwilligen Keuschheit aufstiegen, traten ihm in die Augen, und er fühlte sich grenzenlos traurig.

»Nun, sind wir so weit?« rief Herr von Guersaint fröhlich, indem er mit Handschuhen und in seinem Rock aus grauem Tuch wieder erschien.

»Ja, ja, wir gehen«, sagte Pierre, der sich umdrehte, um die Augen zu trocknen.

Als sie hinaustraten, hörten sie links eine fette Stimme, in der sie die des Herrn Vigneron erkannten, der eben dabei war, die Morgengebete ganz laut herzusagen. Nun aber fesselte eine Begegnung ihre Aufmerksamkeit: als sie den Gang entlang schritten, kreuzten sie einen Herrn von vierzig Jahren. Er war stark untersetzt, sein Gesicht von einem regelmäßigen Backenbart eingerahmt. Übrigens neigte er sich nach vorne und ging so schnell vorüber, daß sie seine Züge nicht unterscheiden konnten. In der Hand trug er ein sorgfältig eingewickeltes Paket. Er steckte den Schlüssel ins Schloß, verschloß die Tür wieder und verschwand geräuschlos wie ein Schatten.

Herr von Guersaint hatte sich umgedreht.

»Ach!« sagte er, »das ist der Herr, der ganz allein da wohnt. Er muß vom Markt kommen und bringt sich wohl Leckerbissen mit.«

Pierre stellte sich, als höre er nicht, denn er hielt seinen Gefährten für zu leichtfertig, als daß er ihn hätte ins Vertrauen ziehen mögen. Dann erfaßte ihn eine Verlegenheit, eine Art schamhaften Erschreckens beim Gedanken an diese Befriedigung der Fleischeslust, von der er jetzt wußte, daß sie sich da, inmitten der ihn umgebenden mystischen Begeisterung sättigte.

Sie kamen im Hospital gerade im Augenblick an, als man die Kranken herabbrachte, um sie nach der Grotte zu führen. Da Marie gut geschlafen hatte, war sie sehr heiter. Sie umarmte ihren Vater und schalt ihn, als sie erfuhr, daß er seinen Ausflug nach Gavarnie noch nicht festgesetzt hatte. Wenn er nicht ginge, würde es sie sehr betrüben. Übrigens würde sie an diesem Tag noch nicht geheilt werden, sagte sie mit ihrer ausgeruhten und lächelnden Miene. Dann nahm sie ein geheimnisvolles Aussehen an und bat Pierre dringend, ihr die Erlaubnis zu erwirken, die folgende Nacht vor der Grotte zubringen zu dürfen. Das war eine von allen heiß begehrte, aber nur wenigen besonders Begünstigten gewährte Gunst. Nachdem er sich sehr beunruhigt gegen eine so unter freiem Himmel verbrachte Nacht erklärt hatte, mußte er ihr, da er sie plötzlich sehr unglücklich sah, trotzdem versprechen, die nötigen Schritte zu tun. Ohne Zweifel hoffte sie, sich der Heiligen Jungfrau nur unter vier Augen, im Schlummerfrieden der Finsternis verständlich machen zu können. An diesem Morgen fand sie sich unter den vor der Grotte haufenweise versammelten Kranken so verloren, daß sie gleich um zehn Uhr nach dem Hospital zurückgebracht zu werden wünschte. Sie klagte, das helle Tageslicht habe ihre Augen angegriffen.

Als ihr Vater und der Priester sie wieder im Saal Sainte-Honorine untergebracht hatten, beurlaubte sie die beiden für den ganzen Tag.

»Nein«, sagte sie, »holen Sie mich nicht ab! Ich werde diesen Nachmittag nicht nach der Grotte zurückkehren – es ist unnütz. Aber am Abend, gleich um neun Uhr, werden Sie da sein, um mich hinzuführen, nicht wahr, Pierre? Es ist abgemacht, Sie haben mir Ihr Wort gegeben.«

Er wiederholte, daß er sich bemühen würde, die Erlaubnis zu erhalten, und daß er sich nötigenfalls an den Pater Fourcade wenden würde.

»Also auf heute abend, mein Liebling!« sagte Herr von Guersaint und umarmte sie.

Und sie verließen Marie. Sie lag sehr ruhig in ihrem Bett, war ganz in Gedanken versunken, ihre großen Augen sahen träumerisch und lächelnd in die Ferne.

Als sie wieder in das Hotel des Apparitions zurückkehrten, war es kaum halb elf Uhr. Herr von Guersaint, den das schöne Wetter entzückte, sprach davon, auf der Stelle zu frühstücken, um möglichst bald eine Wanderung durch Lourdes anzutreten. Da er aber trotzdem den Weg nach seinem Zimmer einschlug und Pierre ihn begleitet hatte, so wurden sie Zeugen einer dramatischen Begebenheit. Die Tür der Vignerons stand weit offen, und man sah den kleinen Gustave, auf dem Sofa ausgestreckt, das ihm als Bett diente. Er war bleigrau und hatte gerade einen heftigen Ohnmachtsanfall überstanden, der Vater und Mutter einen Augenblick hatte glauben lassen, es sei sein Ende. Frau Vigneron war, stumpfsinnig vor Furcht, auf einen Stuhl gesunken, während Herr Vigneron, im Zimmer hin und her eilend, alles herumstieß, indem er ein Glas Zuckerwasser bereitete, in das er Tropfen eines Elixiers träufelte. Er rief, dieser Trank werde ihn sofort wieder vollständig herstellen. Aber sei das zu begreifen? Ein solch kräftiger Knabe falle in Ohnmacht und werde weiß wie ein Huhn! Und er betrachtete die Tante, Frau Chaise, die gut aussah und vor dem Sofa stand. Seine Hände zitterten noch mehr bei dem trüben Gedanken, daß, wenn diese einfältige Krise seinen Sohn hinweggerafft hätte, jetzt die Erbschaft der Tante nicht mehr ihnen gehören würde. Er war außer sich, sperrte die Zähne des Knaben auseinander und goß ihm mit Gewalt das ganze Glas ein. Als er ihn seufzen hörte und die Augen wieder öffnen sah, zeigte sich auch seine väterliche Gutherzigkeit wieder: er weinte und nannte ihn seinen lieben Kleinen. Als sich dann Frau Chaise näherte, um zu helfen, stieß Gustave sie mit einer Gebärde heftigen Zorns zurück, wie wenn er die moralische Verderbnis erkannt hätte, in die das Geld dieser Frau seine Eltern zog, die doch brave Leute waren. Die alte Dame setzte sich verletzt abseits, während Vater und Mutter, jetzt wieder beruhigt, der Heiligen Jungfrau dankten, daß sie ihnen dieses teure Kleinod bewahrt hatte. Der Knabe lächelte ihnen zart und traurig zu: er wußte alles und fand mit seinen fünfzehn Jahren schon keinen Geschmack mehr am Leben.

»Können wir Ihnen in irgend etwas nützlich sein?« fragte Pierre verbindlich.

»Nein, nein, meine Herren, besten Dank!« antwortete Herr Vigneron, der einen Augenblick auf den Gang hinaustrat. »Oh, welchen Schrecken haben wir gehabt! Denken Sie nur, den einzigen Sohn, der uns so teuer ist!«

Die Stunde des Frühstücks brachte das ganze Haus in lärmende Bewegung. Alle Türen klappten, die Gänge und die Treppe hallten von fortwährendem Laufen wider. Drei erwachsene Mädchen kamen vorüber, ihre Röcke bauschten sich auf im Wind. Kinder von wenigen Jahren weinten im Hintergrund eines benachbarten Zimmers. Man sah auch alte, vernarrte Leute und bestürzte Priester, die ihre Soutanen mit beiden Händen emporhoben, um schneller zu laufen. Man fühlte, wie die Bretter unter der allzu schweren Last der in dem Hotel zusammengedrängten Leute von unten bis oben zitterten.

Ein Mädchen brachte auf einem großen Tablett ein vollständiges Frühstück. Sie hatte an der Tür des Herrn gepocht, der ganz allein wohnte; es dauerte aber lange, bis die Tür geöffnet wurde. Als sie sich endlich auftat, sah man das ruhige Zimmer, in dem der Herr allein war. Als die Magd sich zurückzog, schloß die Tür sich wieder vorsichtig hinter ihr.

»Ich hoffe fest, daß es vorbei ist, und daß die Heilige Jungfrau ihn heilen wird«, wiederholte Herr Vigneron, der seine zwei Nachbarn nicht losließ. »Wir wollen hinuntergehen, denn ich gestehe Ihnen, die Sache hat mich ordentlich angegriffen. Ich habe einen schrecklichen Hunger.«

Als Pierre und Herr von Guersaint ihre Zimmer verlassen hatten, erwartete sie die Unannehmlichkeit, im Speisesaal auch nicht den bescheidensten Platz an einem Tisch mehr frei zu finden. Großes Gedränge herrschte in dem Saale, und die etlichen noch leeren Plätze waren belegt. Sie mußten warten und baten den Kellner, sie zu verständigen, sobald es zwei freie Gedecke gäbe. Und da sie nicht wußten, was sie tun sollten, spazierten sie in der Vorhalle des Gasthofs herum, die sich gegen die Straße öffnete, und vor der eine sonntäglich geputzte Bevölkerung vorbeizog.

Da erschien aber der Eigentümer des Hotels, Herr Majesté ganz weiß gekleidet, in eigener Person und fragte mit großer Höflichkeit:

»Möchten die Herren nicht im Salon warten?«

Er war ein dicker Mann von fünfundvierzig Jahren, der sich Mühe gab, seinen Namen mit königlichem Anstand zu tragen. Kahlköpfig und glatt, mit runden blauen Augen in einem wächsernen Gesicht und einem dreifachen Kinn, zeigte er eine große Würde. Er war mit den Schwestern, die die Waisenanstalt besorgten, von Nevers gekommen und hatte eine kleine schwarze Frau aus Lourdes geheiratet. Ganz allein machten sie in weniger als fünfzehn Jahren aus ihrem Gasthof eines der behäbigsten und bestbesuchten Häuser der Stadt. Seit einigen Jahren hatte der Wirt einen Handel mit religiösen Gegenständen damit verbunden, der links ein ganzes, weites Geschäft einnahm und dem unter der Aufsicht der Frau Majesté eine junge Nichte vorstand.

»Möchten sich die Herren nicht im Salon niedersetzen?« wiederholte der Wirt, den Pierres Soutane sehr zuvorkommend machte.

Die zwei zogen es vor, herumzugehen und stehend in der freien Luft zu warten, worauf Majesté sie nicht verließ. Er wollte einen Augenblick mit ihnen plaudern, wie er es mit den Gästen, die er auszuzeichnen wünschte, gewöhnlich tat. Die Unterhaltung drehte sich zuerst um die Fackelprozession am Abend, die bei diesem bewunderungswürdigen Wetter herrlich zu werden versprach. Es waren mehr als fünfzigtausend Fremde in Lourdes. Spaziergänger waren aus allen benachbarten Badeorten gekommen, und das erklärte die Überfüllung des Speisesaals. Vielleicht würde es in der Stadt an Brot fehlen, wie es im vergangenen Jahr vorgekommen war.

»Sie sehen das Gedränge«, schloß Majesté, »wir wissen nicht, wohin wir den Kopf wenden sollen. Wahrhaftig, es ist nicht meine Schuld, wenn man Sie ein wenig warten läßt.«

In diesem Augenblick kam der Briefträger mit einem beträchtlichen Stoß Postsachen, einem Paket Zeitungen und Briefen an, die er im Büro auf den Tisch legte. Einen Brief behielt er in der Hand und fragte:

»Wohnt eine Frau Maze hier?«

»Frau Maze, Frau Maze?« wiederholte der Hotelbesitzer; »nein, nein, gewiß nicht.«

Pierre hatte zugehört, er trat näher und sagte:

»Es ist eine Frau Maze hier, sie muß bei den Schwestern der Unbefleckten Empfängnis abgestiegen sein, bei den blauen Schwestern, wie man sie hier nennt.«

Der Briefträger dankte und ging fort. Aber auf den Lippen Majestés war ein bitteres Lächeln aufgestiegen.

»Die blauen Schwestern«, flüsterte er, »ja, ja, die blauen Schwestern –«

Er warf einen Blick auf Pierres Soutane, dann hielt er aus Furcht, zuviel zu sagen, inne. Aber sein Herz floß über, und er hätte sich erleichtern mögen. Auch konnte dieser junge Pariser Priester, der das Ansehen hatte, offenen Gemüts zu sein, nicht zu der »Rotte« gehören, wie er alle jene nannte, die in der Grotte Dienste leisteten und aus Unserer Lieben Frau von Lourdes Geld schlugen. Nach und nach wagte er sich mit der Sprache heraus.

»Herr Abbé!« begann er, »ich schwöre Ihnen, daß ich ein guter Christ bin. Übrigens sind wir das hier alle. Und ich übe meine Religion aus, ich halte meine Ostern. Aber wahrhaftig, das muß ich doch sagen, Nonnen sollten keinen Gasthof haben. Nein, nein, das tut nicht gut.«

Und er ließ seinen ganzen Groll als Geschäftsmann, der durch einen unredlichen Wettbewerb geschädigt wird, freien Lauf. Hätten sich diese Schwestern von der Unbefleckten Empfängnis, diese blauen Schwestern, nicht an ihre wahre Aufgabe halten sollen, an die Bereitung der Hostien sowie die Instandhaltung und Bleiche der geweihten Wäsche? Aber nein! Sie hatten ihr Kloster in einen weitläufigen Gasthof umgewandelt, in dem einzelne Damen abgesonderte Zimmer fanden und gemeinsam speisten oder sich auch besonders servieren ließen. Alles war sehr reinlich, sehr gut eingerichtet und dank den tausend Vorteilen, die sie genossen, nicht teuer. Kein Gasthof in Lourdes hatte so viel zu tun.

Kurz, ist es schicklich, daß Nonnen sich damit befassen, Suppe zu verkaufen? Hierzu kommt noch, daß die Oberin eine herrische Frau ist, die, als sie das Vermögen zufließen sah, es für ihr Haus allein wollte. Sie hat sich entschlossen von den Patres der Grotte getrennt, die sich bemühten, die Hand darauf zu legen. Ja, Herr Abbé, sie ist bis nach Rom gegangen und hat den Prozeß gewonnen. Jetzt steckt sie alles Geld allein in die Tasche! Nonnen! Mein Gott, Nonnen, die möblierte Zimmer vermieten und ein Hotel führen!«

Er hob die Arme zum Himmel empor und schien vor Ärger zu ersticken.

»Aber«, wandte Pierre endlich ruhig ein, »da doch Ihr Haus bis zum Überfluß mit Gästen angefüllt ist und Sie weder ein freies Bett noch einen Teller übrig haben, wo wollten Sie denn die Reisenden unterbringen, wenn noch welche zu Ihnen kämen?«

Majesté fuhr lebhaft auf.

»Ach, Herr Abbé! Man sieht, daß Sie das Land nicht kennen. Während der nationalen Pilgerfahrt machen wir alle ein Geschäft. Das ist wahr, und wir haben uns nicht zu beklagen. Das dauert aber nur vier oder fünf Tage, und zu gewöhnlichen Zeiten ist der Zulauf viel weniger stark. Oh, was mich betrifft, ich bin, Gott sei Dank, stets zufrieden! Das Haus ist bekannt, es steht im nämlichen Rang wie das Hotel de la Grotte, mit dem schon zwei Vermögen erworben wurden. Aber gleichviel, es ist doch ärgerlich zu sehen, wie diese blauen Schwestern die beste Kundschaft an sich ziehen und uns die Frauen aus den besseren Kreisen wegnehmen, die vierzehn Tage und drei Wochen in Lourdes zubringen. Und das in ruhigen Zeiten, wenn es nicht viel Gäste gibt! Sie verstehen, nicht wahr? Jene wohlhabenden Leute nehmen sie uns weg, die den Lärm verabscheuen, die ganz allein und ganze Tage lang bei der Grotte beten wollen, und die gut bezahlen, ohne jemals zu handeln!«

Frau Majesté, die von Pierre und Herrn von Guersaint nicht bemerkt worden war, da sie über ein Buch gebeugt saß, in dem sie Rechnungen zusammenzählte, sprach nun mit ihrer scharfen Stimme dazwischen:

»Das letzte Jahr, meine Herren, hatten wir während zweier Monate eine solche Dame als Gast. Sie ging zur Grotte, kehrte zurück, ging wieder hin, speiste und legte sich zu Bett. Dabei sprach sie nie ein Wort. Sie hatte nur immer ein Lächeln, mit dem sie wohl sagen wollte, daß sie alles sehr gut fand. Sie hat ihre Rechnung bezahlt, ohne sie auch nur anzuschauen. Ach, derartige Gäste, das tut einem leid.«

Sie hatte sich erhoben,: eine kleine, magere, brünette, ganz in Schwarz gekleidete Frau mit schmächtigem platten Hals. Und nun machte sie ihre Angebote.

»Wenn die Herren vor ihrer Abreise einige kleine Andenken an Lourdes mitnehmen wollen, so dürfen Sie uns nicht vergessen. Wir haben nebenan ein Geschäft, in dem Sie eine große Auswahl finden werden. Die Personen, die im Gasthof absteigen, sind so freundlich, die Andenken gewöhnlich nirgendswo anders als bei uns zu kaufen.«

Majesté schüttelte jedoch aufs neue den Kopf mit der Miene eines guten, über die Ärgernisse der Zeit betrübten Christen.

»Gewiß«, sagte er, »möchte ich es nicht an Achtung vor den ehrwürdigen Patres fehlen lassen. Trotzdem muß man wohl sagen, daß sie wahrhaftig allzu gierig sind. Sie haben ohne Zweifel die Bude gesehen, die sie bei der Grotte eingerichtet haben, die immer voll ist, und in der fromme Artikel und Kerzen verkauft werden. Ein Bischof hat erklärt, das sei eine Schande, und man müßte die Verkäufer neuerdings aus dem Tempel jagen. Es wird auch erzählt, die Patres seien stille Gesellschafter des großen, uns in der Straße gegenüberliegenden Geschäftes, das den kleinen Kaufleuten der Stadt ihre Vorräte liefert. Mit einem Wort, wenn man auf die herumgehenden Gerüchte hören wollte, so hätten sie die Hand im ganzen Handel mit religiösen Gegenständen und nähmen im voraus soundso viel Prozent von den Millionen von Rosenkränzen, Statuetten und Medaillen für sich, die in Lourdes jährlich verkauft werden.«

Er hatte die Stimme gedämpft, denn seine Beschuldigungen nahmen einen ganz bestimmten Ausdruck an, und er zitterte schließlich, daß er sich Fremden so anvertraute. Jedoch beruhigte ihn das milde, aufmerksame Gesicht Pierres, und in seiner Leidenschaft als geschädigter Konkurrent fuhr er fort, entschlossen, bis ans Ende zu gehen.

»Ich gebe zu«, sagte er, »daß in all diesen Dingen hier etwas Übertreibung liegt. Dennoch ist es nicht weniger wahr, daß es der Religion zum großen Nachteil gereicht, wenn man die ehrwürdigen Patres Kramladen halten sieht. Ich will doch auch nicht das Geld für ihre Messen mit ihnen teilen, nicht wahr? Ich begehre auch keinen Anteil an all den Geschenken, die sie erhalten. Warum fangen sie dann an, das zu verkaufen, was ich verkaufe? Unser letztes Jahr war ihretwegen sehr mittelmäßig. Wir sind unser schon zu viele, alle Welt in Lourdes treibt Handel mit dem lieben Gott, derart, daß man bald nur noch Brot zu essen und Wasser zu trinken haben wird! Ach, Herr Abbé! Wenn auch die Heilige Jungfrau bei uns ist, es gibt trotzdem Zeiten, da es sehr schlecht geht!«

Ein Kunde störte ihn, aber er erschien in dem Augenblick wieder, da ein junges Mädchen Frau Majesté holte.

Es war ein Mädchen aus Lourdes, sehr hübsch, klein und üppig, mit schönen schwarzen Haaren und einem runden Gesicht voll lachender Fröhlichkeit.

»Unsere Nichte Appoline«, ergriff Majesté wiederum das Wort. »Sie versieht seit zwei Jahren unser Geschäft. Sie ist die Tochter eines armen Bruders meiner Frau und hütete in Ossun auf der Seite von Bartrès die Herden, als wir uns entschlossen, bewogen durch ihre Liebenswürdigkeit, sie hierher zu nehmen. Und wir bereuen es nicht, denn sie hat sich sehr um uns verdient gemacht und ist eine sehr gute Verkäuferin geworden.«

Was er nicht sagte, war, daß über Appoline gewisse Gerüchte im Gange waren. Man hatte gesehen, wie sie des Abends mit jungen Leuten längs des Gave umherstrich. Aber sie war in der Tat köstlich und zog, vielleicht durch ihre großen schwarzen, lachenden Augen, die Kundschaft an. Das Jahr vorher kam Gérard von Peyrelongue gar nicht mehr aus dem Laden heraus, und ohne Zweifel hinderten ihn nur die Heiratsgedanken, die ihm im Kopf herumgingen, am Wiederkommen. Er schien durch den artigen Abbé des Hermoises ersetzt zu sein, der viele Damen herbeibrachte, die ihre Einkäufe hier besorgten.

»Ach! Sie sprechen von Appoline«, sagte Frau Majesté, als sie aus dem Geschäft zurückkam. »Meine Herren! Sie haben eines noch nicht bemerkt: ihre außerordentliche Ähnlichkeit mit Bernadette. Da, hier an der Wand ist eine Photographie von Bernadette, als sie achtzehn Jahre alt war.«

Pierre und Herr von Guersaint näherten sich, während Majesté rief:

»Bernadette, ganz richtig! Sie sah ganz genau aus wie Appoline, nur stand sie ihr in vielem nach, war auch traurig und arm.«

Endlich erschien der Kellner und meldete, er habe einen kleinen Tisch frei. Zweimal hatte Herr von Guersaint vergeblich einen Blick in den Speisesaal geworfen, denn er brannte vor Begierde zu frühstücken und an diesem schönen Sonntag hinauszukommen. Deshalb beeilte er sich, ohne länger auf Majesté zu hören, der mit liebenswürdigem Lächeln die Bemerkung machte, die Herren hätten nicht allzu lange warten müssen. Der kleine Tisch befand sich im Hintergrund des Saales, den sie von einem Ende zum andern durchschreiten mußten.

Es war ein langer, mit gelber Ölfarbe ausgemalter Saal, dessen mit Flecken beschmutzte Malereien sich jedoch bereits abschuppten. Man spürte darin die rasche Abnützung und die Verunreinigung durch das fortwährende, schnelle Zusammenströmen hungriger, sich zu Tische setzender Esser. Der ganze Luxus bestand in einer Pendeluhr aus vergoldetem Zink, die zwischen zwei ähnlichen Leuchtern auf dem Kamin stand. Vorhänge aus Spitzen, die mit gedrehter Seide übersponnen waren, hingen an den fünf, auf die Straße und ins volle Sonnenlicht hinausgehenden Fenstern. Die Rollvorhänge waren herabgezogen, ließen aber trotzdem brennende Sonnenstrahlen eindringen. In der Mitte waren vierzig Personen an der gemeinsamen Tafel zusammengedrängt, die nur für dreißig Platz bot, während an den kleinen Tischen rechts und links den Wänden entlang weitere vierzig Personen sich zwängten, die bei jedem Vorübergehen der drei Kellner angestoßen wurden. Gleich beim Eintritt wurde man von einem außerordentlichen Getöse betäubt, von einem Gewirr von Stimmen und einem Geklapper von Gabeln und Tischgeräten. Es schien, als ob man in einen feuchten Ofen eindränge, ein heißer Brodem mit erstickendem Speisegeruch schlug den Eintretenden ins Gesicht.

Pierre konnte anfänglich nichts unterscheiden. Aber als er sich an dem kleinen Tisch zurechtgesetzt hatte, einem Gartentisch, den man der Umstände wegen in den Saal stellte und auf dem die zwei Gedecke kaum Platz hatten, da wurde er betrübt, sogar ein wenig verwirrt durch das Schauspiel, das die Table d'hôte bot, und das er mit einem Blick umfaßte. Schon seit einer Stunde wurde dort gegessen, zwei Abteilungen von Gästen hatten nacheinander gespeist, die Gedecke befanden sich in wilder Unordnung, Flecken von Wein und Bratenbrühe besudelten das Tischtuch. Vor allem jedoch setzte die lärmende Menge der Gäste in Erstaunen, übermäßig dicke Priester, junge, hagere Mädchen, von Leibesfülle überfließende Mütter, ganz rot aussehende, einzelstehende Herren und ganze Familien, in denen Generationen von bemitleidenswerter und ausgesprochener Häßlichkeit vertreten waren. Alle diese Leute schwitzten, aßen gierig und saßen, mit zusammengepreßten Armen und unbeholfenen Händen. Und in dieser durch die Ermüdung verzehnfachten Eßlust, in dieser Hast, sich vollzufüllen, um schneller zur Grotte zurückkehren zu können, saß in der Mitte des Tisches ein wohlbeleibter Geistlicher, der sich nicht beeilte und von allem mit einer weisen Langsamkeit, mit ununterbrochen und bedächtig zermalmenden Kauwerkzeugen aß.

»Donnerwetter!« sagte Herr von Guersaint, »es ist nicht kalt hier! Trotzdem esse ich gerne etwas, denn ich weiß nicht, seitdem ich in Lourdes bin, spüre ich fortwährend riesigen Appetit. Und Sie? Haben Sie nicht auch Hunger?«

»O ja, ich esse auch etwas«, antwortete Pierre.

Die Mahlzeit war reichhaltig: Lachs, Eierkuchen, Koteletts mit Kartoffelbrei, geschmorte Nieren, Blumenkohl, kaltes Fleisch und Aprikosentorte. Alles war zu stark gekocht und unschmackhaft wie aufgewärmte Überbleibsel. Aber in den Kompottschalen lagen ziemlich schöne Früchte, vornehmlich Pfirsiche. Übrigens schienen die Tischgäste nicht anspruchsvoll zu sein und weder Geschmack zu entwickeln, noch Ekel zu empfinden. Ein reizendes, sehr hübsches junges Mädchen mit schönen Augen und seidenglänzender Haut, die zwischen einen alten Priester und einen sehr schmutzigen, bärtigen Herrn eingezwängt saß, verzehrte mit entzückter Miene die Nieren, die in grauem Wasser, das ihnen als Tunke diente, blaß und bleich herumschwammen.

»Wirklich!« begann Herr von Guersaint wieder, »der Lachs ist nicht schlecht. Nehmen Sie doch ein wenig Salz dazu, das schmeckt vorzüglich.«

Pierre entschloß sich, zu essen, denn er mußte sich stärken. An einem kleinen Tisch in der Nähe erblickte er soeben Frau Vigneron und Frau Chaise. Die Damen, die einander gegenübersaßen, schienen zu warten. In der Tat kamen auch alsbald Herr Vigneron und sein Sohn Gustave, der noch sehr blaß, war und sich schwerer auf seine Krücke stützte.

»Setze dich neben deine Tante!« sagte Herr Vigneron. »Ich werde neben deiner Mutter Platz nehmen.«

Als er darauf seine zwei Nachbarn bemerkte, näherte er sich.

»Sehen Sie«, sagte er, »Gustave ist vollständig wiederhergestellt. Ich habe ihn soeben mit Kölnischem Wasser eingerieben, und bald wird er sein Bad im Weiher nehmen können.«

Er setzte sich zu Tisch und aß gierig. Er sprach ganz laut von dem eben ausgestandenen Schrecken, so sehr hatte ihn die Furcht erschüttert, seinen Sohn vor der Tante sterben zu sehen. Diese erzählte, sie hätte sich, als sie am Abend vorher vor der Grotte kniete, plötzlich erleichtert gefühlt. Sie bildete sich ein, von ihrer Herzkrankheit geheilt zu sein, und zählte genaue Einzelheiten auf, die ihr Schwager mit großen, unwillkürlich unruhigen Augen anhörte. Gewiß, er war ein guter Mensch und hatte noch nie jemandes Tod gewünscht: aber beim Gedanken, die Heilige Jungfrau könnte dieser alten Frau die Gesundheit wiedergeben und seinen jungen Sohn vergessen, geriet er in Entrüstung. Er war schon bei den Koteletts, als er zu bemerken glaubte, daß Frau Chaise mit ihrem Neffen schmollte.

»Gustave«, sagte er auf einmal, »hast du deine Tante um Verzeihung gebeten?«

Der erstaunte Knabe öffnete weit die hellen Augen in seinem schmalen Gesicht.

»Ja, du bist unartig gewesen, du hast sie oben zurückgestoßen, als sie helfen wollte, dich niederzusetzen.«

Frau Chaise schwieg mit überaus würdiger Miene und wartete, während Gustave ohne Hunger den Knochen seines in kleine Stücke zerschnittenen Koteletts loslöste. Er hielt die Augen auf seinen Teller gesenkt und hatte sich in den Kopf gesetzt, diesmal das traurige Werk der Zärtlichkeit, das man ihm auferlegte, zu verweigern.

»Nun, Gustave! Sei lieb! Du weißt, wie gut deine Tante ist, und was sie alles für dich zu tun gedenkt.«

Nein, nein! Er wollte nicht nachgeben. In diesem Augenblick verwünschte er sie, diese Frau, die nicht schnell genug starb, die ihm die Zuneigung seiner Eltern verdarb, so daß er, wenn er sie eifrig um sich beschäftigt sah, nicht mehr wußte, ob sie wirklich ihn retten wollten oder die Erbschaft, die sein Leben bedeutete.

Aber auch Frau Vigneron trat auf die Seite ihres Gatten und sagte mit Ernst:

»Wahrhaftig, Gustave, du tust mir sehr weh! Bitte deine Tante um Verzeihung, wenn du mich nicht ganz und gar erzürnen willst!«

Da gab er nach. Warum auch kämpfen? War es nicht besser, daß seine Eltern das Geld erhielten? Würde er nicht sowieso sterben, wenn auch später, da dies die Verhältnisse seiner Familie in Ordnung brachte? Er wußte das, er begriff alles, selbst wenn man nicht davon sprach. Die Krankheit hatte sein Gehör derart geschärft, daß er selbst die Gedanken hörte.

»Tante!« stammelte er, »ich bitte Sie um Verzeihung dafür, daß ich mich vorhin so unliebenswürdig gegen Sie benommen habe.«

Aber zwei große Tränen rollten aus seinen Augen, während er mit der Miene eines weichen, oft mißbrauchten Menschen, der viel erlebt hat, lächelte. Sogleich umarmte ihn Frau Chaise und sagte ihm, daß sie nicht erzürnt wäre. Daraufhin entfaltete sich die Lebensfreude der Vignerons in aller Gutmütigkeit.

»Wenn die Nieren auch nicht gut sind«, sagte Herr von Guersaint zu Pierre, »so gibt es doch wenigstens schmackhaften Blumenkohl.«

Im Saal dauerte das furchtbare Kauen fort. Noch nie hatte Pierre so essen sehen, in einem solchen Schweiß, einem so erstickend heißen Gasthaus. Der Speisengeruch verdichtete sich gleichsam zu Rauch. Um sich zu verstehen, mußte man schreien, denn alle diese Gäste plauderten sehr laut, und die bestürzten Kellner räumten das Tischgerät im Fluge ab. Den jungen Priester verletzte die außerordentlich gemischte Gesellschaft an der Tafel, an der sich Männer, Frauen, junge Mädchen und Geistliche drängten, wie sie sich auf gut Glück zusammenfanden, und die ihren Heißhunger stillten gleich einer losgelassenen Meute, die in Eile die Bissen aufschnappt. Die Brotkörbe gingen herum und leerten sich. Dann entstand eine Metzelei in kaltem Fleisch, lauter Überresten vom Vorabend, Kalbfleisch und Schinken, die mit einem Guß aus heller Gallerte umgeben waren, die wie Leim zitterte. Man hatte schon zuviel gegessen. Trotzdem erweckten diese Fleischstücke wiederum die Eßlust, weil man dachte, man dürfe nichts übriglassen. Der Priester in der Mitte des Tisches, der so bedachtsam aß, verspätete sich bei den Früchten, er war bei seinem dritten ungeheuren Pfirsich, den er langsam schälte und zerknirschten Herzens in Scheiben verzehrte.

Nun ging eine Bewegung durch den Saal: ein Kellner verteilte die Briefschaften, die Frau Majesté hatte.

»Schau!« sagte Herr Vigneron, »ein Brief für mich! Das ist überraschend. Ich habe niemandem meine Adresse gegeben.«

Dann fiel es ihm plötzlich ein.

»Ach ja! Das wird von Sauvageot sein, der meine Stelle im Finanzministerium vertritt.«

Als er den Brief geöffnet hatte, fingen seine Hände zu zittern an, und er stieß einen Schrei aus.

»Der Abteilungsvorsteher ist gestorben!«

Frau Vigneron war bestürzt, sie konnte ihre Zunge nicht im Zaum halten.

»Dann wirst du jetzt ernannt!«

Es war ihr heimlicher Traum: der Tod des Abteilungsvorstehers, damit er, der seit zwei Jahren zweiter Vorstand war, endlich zum höchsten Rang, zu seiner Marschallwürde aufrücken könnte. Seine Freude war so groß, daß er alles unbesonnen ausplauderte.

»Ach, die Heilige Jungfrau ist entschieden mit mir! Heute morgen noch habe ich sie um meine Beförderung gebeten, und sie hat mich erhört!«

Aber als er den auf seine Augen gehefteten Blicken der Frau Chaise begegnete und seinen Sohn Gustave lächeln sah, fühlte er, daß er nicht in solcher Weise triumphieren dürfe. Sicherlich tat jeder in der Familie sein mögliches und erflehte von der Jungfrau die ihm persönlich nötigen Gnadenbeweise. Er verbesserte sich denn auch, indem er mit der Miene eines braven Mannes sprach:

»Ich will sagen, daß die Heilige Jungfrau uns alle sehr liebt, und daß sie uns gewiß alle zufrieden entlassen wird. Ach, dieser arme Mann. Er tut mir leid. Es wird notwendig sein, daß ich seiner Witwe eine Karte schicke.«

Trotz seiner Bemühungen, es zu verbergen, frohlockte er. Er zweifelte nicht mehr, seine geheimsten Wünsche erhört zu sehen, sogar jene, die er sich selbst nicht eingestand. Und der Aprikosentorte wurde große Ehre angetan, sogar Gustave erhielt die Erlaubnis, ein kleines Stück davon zu essen.

»Es ist seltsam«, bemerkte Herr von Guersaint, der sich eine Tasse Kaffee hatte bringen lassen, »es ist seltsam, daß man hier keine Kranken mehr sieht. Dieser Haufen Leute hat mir wahrhaftig das Ansehen, einen gesegneten Appetit zu besitzen.«

Schließlich fand er bei genauem Suchen außer Gustave, der nur Krümchen wie ein kleines Huhn aß, einen Kropfigen, der an der großen Tafel zwischen zwei Frauen saß, von denen die eine sicherlich krebskrank war. Etwas weiter saß ein junges, so mageres und blasses Mädchen, daß man es für schwindsüchtig halten mußte. Und noch weiter entfernt sah man eine Idiotin. Sie war, von zwei Verwandten geschützt, eingetreten und verschlang jetzt mit hellen Augen und abgestorbenem Gesicht ihre Speise mit dem Löffel. Vielleicht befanden sich noch andere Kranke da, die man inmitten dieser lärmenden, ihren Hunger stillenden Gesellschaft nicht unterschied, Kranke, die die Reise aufregte und die aßen, wie sie seit langer Zeit nicht gegessen hatten. Die Aprikosentorten, der Käse, die Früchte, alles verschwand, und in der großen Unordnung des Tischgeräts sah man nur noch die Flecken von Brühe und Wein, die sich auf dem Tischtuch ausbreiteten.

Es war nahezu Mittag.

»Wir kehren sogleich nach der Grotte zurück, nicht wahr?« sagte Herr Vigneron.

Von allen Seiten hörte man übrigens den Ruf: »Nach der Grotte! Nach der Grotte!« Die vollen Mäuler beeilten sich, zu den Gebeten und Kirchengesängen zurückzukehren.

»Wissen Sie«, erklärte Herr von Guersaint, »da wir den Nachmittag vor uns haben, so schlage ich vor, die Stadt ein wenig zu besichtigen, und da meine Tochter es wünscht, will ich versuchen, einen Wagen für meinen Ausflug zu finden.«

Pierre, dem der Atem verging, war froh, den Speisesaal zu verlassen. In der Vorhalle erholte er sich wieder. Aber dort staute sich ein neuer Strom von Gästen, die auf Plätze warteten. Man stritt sich um die kleinen Tische, die geringste Lücke an der Tafel wurde augenblicklich wieder besetzt. Noch über eine Stunde sollte der Andrang dauern, das Frühstück der Reihe nach herumgehen, um bei der Hitze, unter dem Lärm der Kinnladen und unter wachsendem Ekel mit Heißhunger verschlungen zu werden.

»Ach, Verzeihung!« sagte Pierre, der ein frisches Taschentuch holen wollte. »Ich muß noch einmal hinaufgehen.«

Als er oben an der Tür seines Zimmers ankam, hörte er in dem tiefen Schweigen, in dem die Treppe und die verlassenen Gänge dalagen, ein leises Geräusch. Es war ein zärtliches Lachen im benachbarten Zimmer. Dann kam unfaßbar, mehr geahnt als tatsächlich gehört, der Hauch eines Kusses, das Beben von Lippen, die sich auf andere Lippen preßten, um sie zum Schweigen zu bringen.

Auch dieser Herr nahm sein Frühstück ein.


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