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Pierre rollte Maries kleinen Wagen vor die Grotte und brachte ihn so nahe wie möglich beim Gitter unter. Mitternacht war vorüber und einige hundert Personen befanden sich noch dort: die einen saßen auf den Bänken, die meisten lagen, wie bis zur Vernichtung in das Gebet vertieft, auf den Knien. Die von den Kerzen beleuchtete Grotte flammte gleich einer brennenden Kapelle, ohne daß man darin etwas anderes unterscheiden konnte als den sternflimmernden Staub, aus dem in ihrer Nische die Statue der Heiligen Jungfrau traumhaft weiß auftauchte. Das herabfallende grüne Laub nahm einen Smaragdglanz an, die tausend Krücken, die die Wölbung bekleideten, glichen einem unentwirrbaren Netz abgestorbenen Holzes, das bald wieder grünen zu wollen schien. Durch einen so lebhaften Glanz wurde die Nacht noch dunkler, die Umgebung versank in einem dichten Schatten, in dem man weder Wände noch Bäume mehr erkannte. Nur die ununterbrochen murmelnde Stimme des Gave ließ sich vernehmen. Er wälzte in der Nähe seine Wellen vorüber, die unter dem hohen, ruhigen, von der Schwüle eines Gewitters beladenen Himmel eine köstliche Frische ausströmten.
»Befinden Sie sich wohl, Marie?« fragte Pierre sanft. »Frieren Sie nicht?«
Ein Zittern hatte sie überlaufen. Aber es war nur ein schwacher Hauch aus dem Jenseits, den ihr die Grotte zuzuwehen schien.
»Nein, nein! Ich fühle mich ganz wohl! Breiten Sie nur das Tuch über meine Knie... Ich danke, Pierre! Und beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht, ich habe niemand mehr nötig, denn jetzt bin ich bei ihr...«
Ihre Stimme versagte. Sie fiel bereits in Ekstase, mit gefalteten Händen, die Augen zur weißen Statue erhoben, und ihr armes, krankes Gesicht war ganz von Glückseligkeit verklärt.
Trotzdem blieb Pierre noch einige Minuten an ihrer Seite. Er hätte sie, da er ihre kleinen, abgemagerten Hände zittern sah, gern in das Tuch eingewickelt. Aber er fürchtete sich, dies gegen ihren Willen zu tun, und begnügte sich, sie wie ein Kind zuzudecken. Sie bemerkte ihn schon gar nicht mehr.
Eine Bank stand in der Nähe, und um sich selbst zu sammeln, setzte er sich darauf, als seine Blicke auf eine im Schatten kniende Frau fielen. Sie war schwarz gekleidet, erschien so klein und hielt sich so bescheiden im Hintergrund, daß er sie zuerst gar nicht bemerkt hatte. Dann erriet er Frau Maze. Der Gedanke an den Brief, den sie im Laufe des Tages erhalten haben mußte, stieg in ihm auf, und er bemitleidete sie. Er fühlte die Verlassenheit dieser Einsamen, der keine körperliche Wunde geheilt zu werden brauchte, sondern die von der Heiligen Jungfrau nur verlangte, sie solle ihr Herzeleid stillen durch die Bekehrung ihres untreuen Mannes. Der Brief mußte irgendeine harte Antwort enthalten haben, denn mit geneigtem Angesicht schien sie in der Demut eines armen, gepeinigten Geschöpfes zu vergehen. Nur zur Nachtzeit mochte sie sich hier ganz vergessen. Sie war glücklich, sich so ganz in ihr Leid versenken, Stunden hindurch weinen, ihr Martyrium erdulden und um die Wiederkehr der verschwundenen Zärtlichkeiten flehen zu können, ohne daß jemand ihr schmerzliches Geheimnis ahnte. Ihre Lippen bewegten sich nicht einmal, nur ihr gequältes Herz betete und verlangte nach seinem Anteil an Liebe und Glück.
Ach, dieser unlöschbare Durst nach Glück! Alle diese an Leib und Seele Verwundeten führte er hierher, und auch Pierre fühlte, wie er ihm die Kehle austrocknete und ein brennendes Bedürfnis erweckte, gelöscht zu werden. Er hätte sich auf die Knie werfen und den göttlichen Beistand mit dem demütigen Glauben dieser Frau anflehen mögen. Aber seine Glieder waren wie gefesselt, und er fand die nötigen Worte nicht. Es war eine Erleichterung für ihn, als er fühlte, daß jemand seinen Arm berührte.
»Herr Abbé, kommen Sie doch mit mir, wenn Sie die Grotte nicht kennen. Ich werde Sie dort unterbringen. Man befindet sich zu dieser Stunde recht gut darin.«
Er erhob den Kopf und erkannte den Baron Suire, den Vorsteher der Pfleger Notre-Dame de Salut. Ohne Zweifel hatte ihn dieser wohlwollende und aufrichtige Mann liebgewonnen. Er nahm die Einladung an und begleitete ihn in das Innere der ganz leeren Grotte. Der Baron verschloß sogar hinter ihnen das Gitter, zu dem er einen Schlüssel besaß.
»Sehen Sie, Herr Abbé«, sagte er, »das ist die Stunde, zu der man sich wahrhaft wohl hier befindet. Wenn ich einige Tage in Lourdes zubringe, so lege ich mich selten vor dem Morgen zu Bett, weil ich gewohnt bin, hier die Nacht zuzubringen ... Es ist niemand mehr da, man befindet sich so allein, und nicht wahr, wie hübsch es ist! Man fühlt sich wie bei der Heiligen Jungfrau zu Hause.«
Er lächelte mit der Miene eines gutmütigen Mannes und zeigte sich trotz seiner großen Frömmigkeit nicht im geringsten verlegen: er plauderte und gab Erklärungen mit der Vertraulichkeit eines Mannes, der weiß, daß er mit dem Himmel auf freundschaftlichem Fuße steht.
»Sie betrachten die Kerzen ... Es brennen zu gleicher Zeit nahe an zweihundert Tag und Nacht hindurch; auf diese Art wird die Grotte schließlich geheizt ... Selbst im Winter ist es ganz warm hier.«
Pierre ging im lauwarmen Geruch des Wachses in der Tat ein wenig der Atem aus. Geblendet durch die lebhafte Helligkeit, in die er eintrat, betrachtete er den großen Kerzenständer in der Mitte, der wie eine Pyramide gestaltet und ganz mit kleinen Kerzen bespickt war, so daß er einem flammenden, aus Sternen gebildeten Dreieck glich. Im Hintergrund hielt ein fast in der Höhe des Erdbodens angebrachter gerader Leuchter die dicken, in einer Linie von ungleicher Höhe wie Orgelpfeifen aufgesteckten Kerzen, von denen einige den Umfang eines Schenkels hatten. Noch andere Kerzenständer, die schweren Armleuchtern glichen, waren da und dort auf den Vorsprüngen des Felsens aufgestellt. Die Wölbung der Grotte senkte sich nach links, und dort war das Gestein wie angebrannt und schwarz gefärbt von den ewigen Flammen, die es seit Jahren erhitzten. Ununterbrochen ging ein Regen von Wachs wie unwahrnehmbarer Schneefall nieder. Die Schalen der Kerzenständer flossen davon über und nahmen von dem ohne Unterlaß sich verdickenden Staub eine weiße Färbung an. Der ganze Felsen war damit überzogen und fühlte sich fett an, besonders aber bedeckte den Boden eine solche Wachsschicht, daß Unfälle vorgekommen waren. Man hatte Strohmatten ausbreiten müssen, um zu vermeiden, daß jemand niederstürzte.
»Sehen Sie diese dicken Kerzen dort?« fuhr der Baron Suire fort. »Das sind die teuersten, sie kosten sechzig Frank und brauchen einen Monat zum Verbrennen .... Die kleinsten, die fünf Sous kosten, brennen nur drei Stunden ... Oh, wir sparen nicht damit, wir haben keinen Mangel daran! Sehen Sie, hier sind noch zwei Körbe voll. Man hat keine Zeit gefunden, sie ins Lager zu bringen.«
Dann erklärte er die einzelnen Möbelstücke: ein mit einem Überzug bedecktes Harmonium, ein Schrankgestell mit breiten Schubladen, in denen man die heiligen Gewänder verschloß, Bänke und Stühle, die man dem kleinen Vorzugspublikum vorbehielt, das in der Grotte während der Zeremonien zugelassen wurde, und schließlich ein sehr schöner, mit gravierten Silberplatten bedeckter verschiebbarer Altar. Es war das Geschenk einer hohen Dame. Übrigens wagte man ihn nur während der reichen Pilgerfahrten zu benützen, aus Besorgnis, die Feuchtigkeit könnte ihn verderben.
Pierre wurde durch das Geschwätz des gefälligen Mannes gestört. Seine religiöse Erregung verlor dadurch an Kraft. Beim Eintritt in die Grotte hatte er trotz seines mangelnden Glaubens eine Unruhe, eine Art seelischen Schwankens erlitten, als ob das Geheimnis ihm jetzt offenbart werden sollte. Es war gleichzeitig ein banges und ein beseligendes Gefühl. Er sah Dinge, die ihn unendlich rührten: haufenweise zu den Füßen der Jungfrau niedergelegte Blumensträuße, kindliche Ex voto-Geschenke, kleine verblichene Schuhe, ein kleines eisernes Mieder, eine einem Spielzeug ähnliche, für eine Puppe passende Krücke.
Unterhalb des natürliches Gewölbes, in dem die Erscheinungen sich gezeigt hatten, nämlich an der Stelle, an der die Pilger die Rosenkränze und Medaillen rieben, die sie weihen wollten, war der Felsen abgenützt und glattgeschliffen. Millionen von inbrünstigen Lippen hatten sich mit solcher Liebeskraft darauf gedrückt, daß der Stein verkalkt, schwarz geädert und glänzend wie Marmor geworden war.
Nun aber blieb er im Hintergrund vor einer Höhlung stehen, in der sich eine beträchtliche Menge von Briefen und Papieren aller Art angehäuft befand.
»Äh, ich vergaß!« begann der Baron Suire; »das ist ja das Interessanteste. Das sind die Briefe, die die Gläubigen täglich durch das Gitter in die Grotte werfen. Wir sammeln sie und legen sie da hinein. Es macht mir dann Spaß, sie im Winter zu ordnen ... Sie begreifen, man kann sie nicht verbrennen, ohne sie zuvor zu Öffnen, denn sie enthalten oft Geld, Zehn- und Zwanzigsousstücke und namentlich auch Briefmarken.«
Er wühlte in den Briefen herum, nahm aufs Geratewohl einen heraus, zeigte die Aufschrift und entsiegelte ihn, um ihn zu lesen. Fast alle waren Briefe von armen, ungebildeten Leuten, und ihre Adresse zeigte in großen, unregelmäßigen Buchstaben die Worte: »An Unsere Liebe Frau von Lourdes.« Viele enthielten in unrichtigen Redewendungen Bitten oder Danksagungen in einer außergewöhnlichen Orthographie. Manchmal war nichts rührender als die Art dieser Bitten: man bat um einen kleinen Bruder, der gerettet, einen Prozeß, der gewonnen werden sollte, einen Liebhaber, den man zu bewahren, eine Heirat, die man zu schließen wünschte. Andere Briefe lauteten verdrießlich: die Heilige Jungfrau wurde darin ausgescholten, weil sie nicht so höflich gewesen war, einen ersten Brief dadurch zu beantworten, daß sie die Wünsche des Schreibers erfüllte. Dann gab es wieder andere, mit sorgfältig abgefaßten Sätzen, die Bekenntnisse und glühende. Gebete enthielten, – Briefe von Frauen, die der Königin des Himmels das schrieben, was sie keinem Priester im Schatten des Beichtstuhls anzuvertrauen wagten. Ein auf gut Glück geöffneter Briefumschlag enthielt einfach die Photographie eines jungen Mädchens, das Unserer Lieben Frau von Lourdes ihr Bild mit der Widmung zusandte: »An meine gute Mutter.« Kurz, diese Höhlung erwies sich jeden Tag als das Postfach einer sehr mächtigen Königin, die Bittgesuche und vertrauliche Mitteilungen empfing und durch Gnaden und Wohltaten aller Art darauf antworten sollte. Die Zehn- und Zwanzigsousstücke waren einfache, naive Liebesbeweise, um die Heilige zu erweichen. Und die Briefmarken wurden nur der bequemeren Übersendung wegen geschickt, wofern es nicht aus purer Einfalt geschah, wie im Briefe einer Bäuerin. Diese hatte nämlich eine Nachschrift hinzugefügt, worin gesagt war, sie lege eine Marke bei und erwarte eine Antwort.
»Ich versichere Sie«, schloß der Baron, »unter diesen Briefen sind sehr hübsche und weniger sinnlose, als man glauben möchte ... Seit drei Jahren habe ich die äußerst interessanten Schreiben einer Dame gefunden, die nichts tat, ohne es der Heiligen Jungfrau zu erzählen. Die Dame war verheiratet und fühlte die verderblichste Leidenschaft für einen Freund ihres Gatten ... Nun denn, Herr Abbé, sie hat sie besiegt, die Heilige Jungfrau hat ihr dadurch geantwortet, daß sie ihr Rüstung und Schutz für ihre Keuschheit und die göttliche Kraft verlieh, ihrem Herzen Widerstand zu leisten ...«
Da unterbrach er sich und sagte:
»Aber setzen Sie sich doch hierher, Herr Abbé! Sie werden sehen, wie wohl man sich da fühlt!«
Pierre nahm neben dem Baron auf der Bank zur linken Hand Platz, dort, wo der Felsen sich senkte. Es war das in der Tat eine Ecke voll köstlicher Ruhe. Weder der eine noch der andere sprach, und es herrschte ein tiefes Schweigen. Da hörte er hinter seinem Rücken ein unbestimmtes Murmeln, eine feine, kristallhelle Stimme, die aus dem Unsichtbaren zu kommen schien. Er machte eine Bewegung, die der Baron Suire verstand.
»Was Sie hören«, sagte er, »ist die Quelle. Sie befindet sich dort im Boden hinter diesem Drahtgitter. Wollen Sie sie sehen?«
Und ohne abzuwarten, ob Pierre sein Anerbieten annehmen würde, hatte er sich schon gebückt, um einen Riegel zu öffnen. Dabei bemerkte er, wenn man die Quelle derart verschlösse, so geschähe dies aus Besorgnis, die Freidenker könnten kommen und Gift hineinwerfen. Dieser außerordentliche Einfall überraschte den Priester einen Augenblick, aber er schrieb ihn schließlich dem Baron zu, der wirklich viel Kindisches an sich hatte.
Unterdessen mühte sich dieser vergeblich mit dem Buchstabengeheimschloß ab, das nicht aufgehen wollte.
»Das ist seltsam«, murmelte er, »das Wort heißt ›Rom‹, und ich bin ganz sicher, daß man es nicht geändert hat ... Die Feuchtigkeit verdirbt alles. Wir sind genötigt, alle zwei Jahre die Krücken, die in Staub zerfallen, zu erneuern ... Bringen Sie mir doch eine Kerze!«
Als Pierre dem Baron mit einer Kerze, die er von einem Kerzenständer genommen, leuchtete, gelang es endlich, das kupferne, von Grünspan angefressene Geheimschloß zu öffnen. Das geflochtene Drahtgitter drehte sich, und die Quelle wurde sichtbar. Es war ein in der Felsenwand auf einem Grund von schlammigem Kies langsam dahinfließendes Wasser, das klar und ohne Sprudel hervorquoll. Aber sie schien aus ziemlich weiter Entfernung zu kommen. Der Baron erklärte, man habe sie, um sie zu den Brunnen zu leiten, durch von Zement überdeckte Röhren kanalisiert. Er gestand sogar, daß man hinter den Weihern einen Behälter hatte anlegen müssen, um das Wasser während der Nacht aufzufangen, denn die geringe, von der Quelle gelieferte Menge hätte für die täglichen Bedürfnisse nicht genügt.
»Wollen Sie das Wasser versuchen?« fragte er plötzlich. »Hier bei seinem Austritt aus der Erde ist es noch besser.«
Pierre antwortete nicht, er betrachtete dieses ruhige, unschuldige Wasser, das im schwankenden Kerzenlicht goldene, bandförmige Reflexe zeigte. Wachstropfen fielen hinein und ließen es erzittern. Er dachte an alles das, was es Geheimnisvolles mit sich brachte.
»Trinken Sie doch ein Glas davon!«
Der Baron hatte ein Glas, das sich stets an Ort und Stelle befand, eingetaucht und gefüllt, der Priester mußte es leeren. Es war gutes, reines Wasser, ein so durchsichtiges und frisches Wasser, wie es aus allen Hochebenen der Pyrenäen in die Tiefe rieselt.
Nachdem das Geheimschloß wieder befestigt war, nahmen beide ihren Platz auf der Bank wieder ein. Hinter sich hörte Pierre auf Augenblicke immer wieder die Quelle wie das leise Zwitschern eines verborgenen Vogels. Und nun sprach der Baron mit ihm von der Grotte und ihrer Geschichte zu den verschiedenen Jahreszeiten, in einer rührseligen Geschwätzigkeit voll kindlicher Einzelheiten.
Der Sommer war die Zeit, zu der die auswärtigen, die großen Pilgerfahrten bildenden Massen, die Tausende von Wallfahrern zusammenströmten, die mit lärmendem Eifer beteten und schrien. Mit dem Herbst aber traten die Regen, die sintflutartigen Regengüsse ein, die viele Tage lang auf die Schwelle der Grotte niederklatschten. Dann kamen die Pilgerzüge aus weit entfernten Ländern an, es kamen Indier, Malayen und sogar Chinesen: kleine schweigsame und ekstatische Scharen, die auf einen Wink der Missionare im Kot niederknieten. Aus Frankreich selbst schickte die Bretagne von allen alten Provinzen die frömmsten Pilger hierher. Ganze Pfarren kamen herbei, die Männer in gleicher Zahl wie die Frauen, und die gute, gottesfürchtige Haltung, der einfache ehrbare Glaube waren dazu angetan, die Welt zu erbauen. Dann kam der Winter, der Dezember mit seiner schrecklichen Kälte und seinen dichten Schneefällen, die die Gebirgswege versperrten. Zu dieser Zeit nahmen die Pilger familienweise Wohnung in den Gasthöfen. Es kamen trotz allem jeden Morgen Gläubige zur Grotte, alle die nämlich, die den Lärm flohen und zu der Heiligen Jungfrau in einsamer, zärtlicher Innigkeit sprechen wollten. Es gab auch Pilger, die niemand kannte, die sich nur zeigten, wenn sie sicher waren, allein wie eifersüchtige Liebhaber in Inbrunst niederknien zu können, und die, durch das erste Herannahen der Menge verscheucht, sich wieder entfernten.
Wie lieblich war die Grotte bei schlechtem Winterwetter! Bei Regen, im Wind und im Schneetreiben bewahrte sie ihren Flammenglanz. Sogar während der rasenden Sturmnächte, wenn keine Seele anwesend war, leuchtete sie hinaus in die leere Finsternis: sie brannte gleich einer Liebesglut, die nichts zu löschen vermochte.
Der Baron erzählte, er hätte während der heftigen Schneestürme des vorigen Winters an dieser Stelle, auf der Bank, worauf er jetzt saß, ganze Nachmittage zugebracht. Es herrschte in der Grotte, obwohl sie nach Norden lag und das Sonnenlicht nie eindrang, dennoch eine liebliche Wärme. Ohne Zweifel erklärte der durch die Kerzen ununterbrochen erhitzte Felsen diese angenehme, milde Temperatur. Aber konnte man nicht überdies an eine Wohltat der Jungfrau glauben, die hier einen ewigen Mai walten ließ? Alle Finken der Nachbarschaft flüchteten sich hierher und flatterten im Efeu um die heilige Statue herum, wenn der Schnee ihre Krallen zu Eis erstarrte. Dann erwachte endlich wieder der Frühling. Der Gave wälzte mit Donnergetöse die geschmolzenen Schneemassen fort, der Saft schoß in die Bäume und machte sie wieder grün, während die zurückkehrenden Pilgermassen lärmend die leuchtende Grotte überfielen und die Vögelchen des Himmels daraus verjagten.
»Ja, ja«, wiederholte der Baron Suire mit gedämpfter Stimme, »ich habe hier ganz allein entzückende Wintertage zugebracht ... Ich sah nur eine Frau, die dort am Gitter kniete, um ihre Knie nicht in den Schnee zu drücken. Sie war jung, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, und sehr hübsch, mit prachtvollen blauen Augen. Sie sprach nichts und schien nicht einmal zu beten. Dennoch verweilte sie mit unendlich trauriger Miene stundenlang in dieser Stellung ... Ich weiß nicht, wer sie war, ich habe sie nie wiedergesehen ...«
Er hörte auf zu sprechen, und als ihn Pierre, erstaunt über sein Schweigen, zwei Minuten später betrachtete, sah er, daß er eingeschlafen war. Die Hände über dem Bauch gefaltet, das Kinn auf der Brust, schlief er mit einem unbestimmten Lächeln den guten Schlaf eines Kindes. Wenn er sagte, daß er hier die ganze Nacht verbrachte, so wollte er damit ohne Zweifel ausdrücken, daß er hierherkam, um als glücklicher alter Mann einen ersten Schlaf zu tun, in dem er den Besuch der Engel erhielt.
Jetzt kostete Pierre den Reiz der Einsamkeit. Es war wirklich wahr, eine süße Empfindung durchdrang die Seele in diesem Felsenwinkel. Sie entstand aus dem Geruch des Wachses und aus dem ekstatischen Schwindel, in den man mitten im Glanze der Kerzen verfiel. Er unterschied weder die Krücken in der Wölbung, noch die an den Wänden aufgehängten Geschenke, weder den Altar aus graviertem Silber, noch das Harmonium in seinem Überzug. Eine langsame Trunkenheit bemächtigte sich seiner und eine wachsende Vernichtung seines ganzen Wesens. Vor allem hatte er die göttliche Empfindung, fern von der Welt, auf den Grund des Unglaublichen und Überirdischen zu sinken, wie wenn das einfache eiserne Gitter den Eingang zur Unendlichkeit selbst verschließen würde.
Ein leises Geräusch beunruhigte Pierre. Es war die Quelle mit ihrem Vogelgezwitscher ähnlichen Rauschen. Ach, wie gerne hätte er auf die Knie fallen und an das Wunder glauben, wie gerne hätte er die Gewißheit besitzen mögen, daß dies göttliche Wasser dem Felsen nur entsprungen sei, um die leidende Menschheit zu heilen! War er nicht gekommen, um der Heiligen Jungfrau zu Füßen zu fallen und sie anzuflehen, daß sie ihm den Glauben, wie ihn kleine Kinder besitzen, wiedergebe? Warum betete er also nicht und warum flehte er nicht inständig darum, daß sie ihm die Gnade erweise? Der Atem verging ihm, die Kerzen blendeten ihn bis zum Wahnsinn. Da kam ihm der Gedanke, daß er in der großen Freiheit, die die Priester in Lourdes genossen, seit zwei Tagen versäumt hatte, seine Messe zu lesen. Er befand sich also im Zustande der Sünde. Vielleicht war es diese Last, die ihm das Herz bedrückte. Diese Vorstellung wurde in ihm zu einer solchen Qual, daß er sich erheben und weggehen mußte. Er begnügte sich, das Gitter leise aufzustoßen, und ließ den Baron Suire schlafend auf der Bank zurück.
Marie hatte sich in ihrem Wagen nicht aus ihrer Stellung bewegt. Sie saß noch immer auf die Ellenbogen gestützt, halb aufgerichtet und hielt das verzückte Antlitz auf die Jungfrau gerichtet.
»Fühlen Sie sich wohl, Marie? Frieren Sie nicht?« fragte der Priester.
Sie antwortete nicht. Er fühlte ihre Hände an, sie waren warm, aber sie zitterten ein wenig.
Er zog das Tuch in die Höhe und entfernte sich. Von einer unsagbaren Unruhe erfaßt, ging er in die Nacht hinaus. Beim Heraustreten aus der lichten Helle der Grotte schien ihm die Nacht schwarz wie Tinte, ein aus Finsternis bestehendes Nichts, in dem er aufs Geratewohl dahintappte. Dann gewöhnten sich seine Augen daran, und er fand sich wieder in der Nähe des Gave, folgte dessen Ufer und ging eine von hohen Bäumen beschattete Allee entlang, in der es wieder dunkel und frisch wurde. Diese Dunkelheit und diese Frische erquickten ihn jetzt, und er empfand nur noch Bestürzung darüber, daß er nicht niedergefallen war und wie Marie mit der ganzen Hingebung seiner Seele gebetet hatte. Was war denn das Hindernis in ihm? War es der unwiderstehliche Aufruhr, der ihn abhielt, sich nach und nach dem Glauben zu überlassen, selbst wenn sein Wesen die Hingabe an den Glauben wünschte? Er verstand, daß seine Vernunft allein Widerspruch dagegen erhob. Er befand sich in einer Stunde, da er sie hätte töten mögen, diese gefräßige Vernunft, die an seinem Leben zehrte und ihn verhinderte, glücklich zu sein, wie unwissende und einfache Menschen glücklich sind. Vielleicht hätte er die Kraft zu glauben gefunden, wenn er ein Wunder gesehen hätte. Wenn sich zum Beispiel Marie mit einemmal erhoben hätte und vor ihm hergegangen wäre, würde er sich dann nicht, endlich besiegt, niedergeworfen haben? Dieses Bild, das er sich von der geretteten, der geheilten Marie machte, erregte ihn so stark, daß er stehenblieb und die zitternden Arme zu dem sternbedeckten Himmel emporstreckte. Ach, großer Gott! Welche tiefe und geheimnisvolle, von Wohlgeruch durchduftete, milde und schöne Nacht! Und welche Freude träufelte nieder in dieser Hoffnung des wiedererlangten ewigen Heils, der ewigen Liebe, die wie der Frühling immer wiedergeboren wird! Dann ging er weiter. Aber seine Zweifel kamen zurück: wenn man ein Wunder verlangt, um zu glauben, so bedeutet das, daß man zu glauben unfähig ist. Gott braucht keinen Beweis seiner Existenz zu erbringen. Dann wurde er bei dem Gedanken, Gott würde ihn nicht erhören, solange er nicht seine priesterliche Pflicht erfüllt und seine Messe gelesen hätte, wieder von Unbehagen ergriffen. Warum ging er nicht sofort in die Rosenkranzkirche, deren Altäre den vorübergehend in Lourdes weilenden Priestern von Mitternacht bis Mittag zur Verfügung standen? Er schritt eine zweite Allee hinab und befand sich wieder unter den Bäumen und im laubbedeckten Winkel, von dem aus er mit Marie die Fackelprozession hatte vorüberziehen sehen. Keine Helle zeigte sich mehr, nur ein Meer von Schatten ohne Grenzen.
Dort erlitt Pierre einen neuen Anfall von Schwäche, und mechanisch, als ob er hätte Zeit gewinnen wollen, trat er in die »Zuflucht der Pilger« ein. Die Tür stand weit offen, ohne dem weiten, mit Leuten angefüllten Saal genügend frische Luft zuzuführen. Gleich bei den ersten Schritten wurde er von der schwülen Hitze, die die zusammengehäuften Leiber ausströmten, vom verdorbenen Geruch des Atems und der Ausdünstungen betäubt. Die rauchigen Laternen warfen ein so schlechtes Licht, daß er Vorsicht anwenden mußte, um nicht auf da und dort liegende menschliche Glieder zu treten, denn der Raum war vollkommen überfüllt. Viele von den Leuten, die auf den Bänken keinen Platz finden konnten, hatten sich auf der Erde, auf den feuchten, seit dem Morgen von Speiseüberresten besudelten Steinfliesen ausgestreckt. Ein namenloses Durcheinander bot sich seinen Blicken dar: Männer, Weiber und Priester, lagen im bunten Gemisch herum, wie sie der Zufall nebeneinander hingeworfen hatte. Niedergestreckt von der unwiderstehlichen Übermüdung, schliefen sie mit offenem Mund. Viele schnarchten sitzend, den Rücken an die Mauer gelehnt, während der Kopf auf der Brust schlenkerte. Andere waren von den Bänken gefallen, und ihre Beine verstrickten sich ineinander: ein junges Mädchen lag quer über einem alten Landpfarrer, der, ruhig wie ein Kind schlafend, den Engeln zulächelte. Es war ein Stall, in den die Armen von der Straße eintraten und den sie als eine vom Zufall gewährte Unterkunft betrachteten. Alle befanden sich darin, die an diesem schönen Festabend kein Obdach hatten und die jetzt brüderlich Arm in Arm eingeschlafen waren. Trotzdem fanden einige von ihnen in ihrer fieberhaften Aufregung keine Ruhe, sie drehten und wendeten und erhoben sich schließlich, um ihre Körbe ganz zu leeren. Dann bemerkte man andere, die unbeweglich blieben und ihre weit geöffneten Augen fest ins Dunkle versenkten. Aufschreie von Träumenden und schmerzhafte Klagen wurden zwischen den Schnarchtönen laut. Diese Herde von elenden Geschöpfen erweckte wirklich ein großes Mitleid, ein dumpfes, beklemmendes Erbarmen stieg von ihnen auf, wie sie so zusammengebrochen, in ihren ekelhaften Lumpen auf Haufen herumlagen, während ihre reinen Seelen ohne Zweifel anderswo, in den blauen Gefilden ihres mystischen Traumes schwebten.
Pierre zog sich zurück, denn es wurde ihm übel. Da hemmte ein ununterbrochenes schwaches Stöhnen seine Schritte, und auf dem nämlichen Platz und in der gleichen Stellung erkannte er Frau Vincent wieder, die die kleine Rose auf ihren Knien wiegte.
»Ach, Herr Abbé!« murmelte sie. »Hören Sie nur! Vor bald einer Stunde ist sie aufgewacht, und seitdem schreit sie ... Aber ich schwöre Ihnen, daß ich keinen Finger gerührt habe, so glücklich machte es mich, sie schlafend zu betrachten.«
Der Priester hatte sich geneigt und untersuchte die Kleine, die nicht die Kraft besaß, auch nur die Augenlider zu öffnen. Ihre Klagen kamen wie der Atem selbst aus dem Mund, und sie war so weiß, daß er zitterte, denn er fühlte das Herannahen des Todes.
»Mein Gott! Was soll ich jetzt tun?« fuhr die gepeinigte Mutter fort, die am Ende ihrer Kräfte angelangt war. »Das kann nicht so weitergehen, ich kann sie nicht mehr schreien hören ... Wenn Sie wüßten, was ich ihr alles sage: ›Mein Kleinod, mein Schatz, mein Engel! Ich flehe dich an, schrei nicht mehr! Sei lieb, die Heilige Jungfrau wird dich heilen!‹ Aber sie schreit immerzu ...«
Sie schluchzte, und große Tränen fielen auf das Gesicht des Kindes nieder, dessen Röcheln nicht aufhörte.
»Wenn es Tag würde, wäre ich schon aus diesem Saal fortgegangen. Eine alte Dame hier hat sich schon beschwert ... Aber ich fürchte, es ist kalt. Und dann, wohin in der Nacht? ... Ach, Heilige Jungfrau, Heilige Jungfrau, erbarme dich unser!«
Pierre drückte, zu Tränen bewegt, einen Kuß auf Roses blonde Haare. Um nicht mit dieser schmerzbewegten Mutter in Weinen auszubrechen, entfloh er und begab sich geradeswegs in die Rosenkranzkirche, als ob er entschlossen gewesen wäre, den Tod zu besiegen.
Er hatte die Rosenkranzkirche schon am hellen Tage gesehen, und sie hatte ihm mißfallen, da der Architekt durch den Bauplatz, der an den Felsen anstieß, beengt wurde und die Kirche rund, niedrig, und plattgedrückt mit einer von viereckigen Pfeilern gestützten Kuppelwölbung bauen mußte. Das Schlimmste daran war, daß sie trotz ihres antiken byzantinischen Stils keinen religiösen Eindruck machte. Sie entbehrte des Geheimnisvollen und der Andacht und war einer allzu neuen Getreidehalle ähnlich, die von der Kuppel und den mit Fensterscheiben versehenen breiten Türen grell erleuchtet wurde. Übrigens war sie durchaus nicht vollendet: der ornamentale Schmuck fehlte, und große Stücke der nackten Wand, an die sich die Altäre lehnten, hatten keine andere Verzierung als Rosen aus farbigem Papier und bescheidene Geschenke. Das gab der Kirche das Aussehen eines weiten Durchgangssaals mit gepflastertem Boden, der bei Regenwetter, wie die Fliesen eines Eisenbahnsaals, die Nässe anzog. Der vorläufige Hauptaltar war aus bemaltem Holz angefertigt. Unzählige Bankreihen füllten die mittlere Rundung aus. Sie glichen den Bänken eines öffentlichen Armenhauses, auf denen man jederzeit Platz nehmen konnte, denn die Rosenkranzkirche blieb der Menge der Pilger Tag und Nacht weit geöffnet. Ebenso wie die »Zuflucht« war diese Kirche ein Stall, in dem Gott die Armen aufnahm.
Als Pierre eintrat, machte die Kirche auf ihn abermals den Eindruck einer jedem zugänglichen Halle. Aber das zu lebhafte Tageslicht überflutete nicht mehr die blassen Wände. Die auf allen Altären brennenden Kerzen leuchteten allein gleich Sternen im ausgedehnten, unbestimmten, unter den Bogenwölbungen schlummernden Schatten. Um Mitternacht war mit außerordentlichem Gepränge ein feierliches Hochamt zelebriert worden, unter der Pracht der Lichter, Gesänge, goldenen Gewänder und der geschwungenen, brennenden Rauchfässer. Von all diesem herrlichen Lichterglanz waren auf den fünfzehn Altären, die im Umkreis standen, nur die vorschriftsmäßig zur Feier der Messen notwendigen Kerzen übriggeblieben. Mitternacht begannen die Messen und hörten bis Mittag nicht mehr auf. In der Rosenkranzkirche allein wurden während dieser zwölf Stunden fast vierhundert gelesen. In ganz Lourdes zählte man über fünfzig Altäre, die Zahl der Messen stieg täglich auf mehr als zweitausend. Und der Andrang der Priester war so groß, daß viele ihre Pflicht nur mit Schwierigkeiten erfüllten, Sie mußten stundenlang anstehen, ehe sie einen freien Altar fanden. Pierre staunte, als er sah, wie diese Nacht alle Altäre von zahlreichen Priestern belagert waren, die in der halben Dunkelheit unten an den Stufen geduldig warteten, bis die Reihe an sie kam, während der amtierende Geistliche die lateinischen Formeln unter großen Kreuzeszeichen eilig hersagte. Die Ermüdung war so niederdrückend, daß der größte Teil der harrenden Priester sich auf die Erde gesetzt hatte, und daß manche von ihnen, von der Anstrengung überwältigt, in einem Haufen beisammen auf den Altarstufen schliefen. Sie war-(?) warteten darauf, daß der Kirchendiener sie wecken würde.
Einen Augenblick ging Pierre unentschlossen herum. Sollte er warten wie die anderen? Aber das Schauspiel hielt ihn zurück. An allen Altären, bei allen Messen drängte sich eine Flut von Pilgern, die hastig, mit einer Art gierigen Eifers kommunizierten. Die Hostienkelche füllten und leerten sich ohne Unterlaß, und die Hände der Priester ermüdeten beim Austeilen des Lebensbrotes. Er staunte aufs neue, denn niemals hatte er einen Erdenwinkel ausgiebig vom göttlichen Blut betaut gesehen – niemals eine Stelle, von der der Glaube in einer solchen Hingebung der Seelen aufstieg. Das glich einer Rückkehr zu den heroischen Zeiten der Kirche, als die Völker unter dem nämlichen Hauch der Leichtgläubigkeit und im Schrecken ihrer Unwissenheit ihre Knie beugten, als sie sich zu ihrem Glück den Händen des allmächtigen Gottes überlieferten. Er hätte sich acht oder neun Jahrhunderte für die Epochen der hohen öffentlichen Gottesverehrung zurückversetzt halten können, da man an das nahe bevorstehende Ende der Welt glaubte, um so mehr, als die Menge der aufrichtigen Leute, das ganze Gewühl, das dem Hochamt beigewohnt hatte, auf den Bänken geblieben war und sich im Hause Gottes so behaglich fühlte wie im eigenen. Viele besaßen kein Obdach. War die Kirche nicht ihr Haus, die Zufluchtsstätte, in der Tag und Nacht die Tröstung auf sie wartete? Viele, die nicht wußten, wo sie schlafen sollten, die nicht einmal einen Platz in der »Zuflucht« gefunden hatten, gingen in die Rosenkranzkirche und ließen sich auf einer Bank nieder oder streckten sich auf dem Pflaster aus. Wieder andere, die ihr Bett erwartete, blieben aus Freude, eine ganze Nacht in diesem göttlichen Hause voll schöner Träume zubringen zu dürfen.
Bis zum Morgen dauerte der Andrang und das außerordentliche Durcheinander an. Alle Reihen der Bänke waren besetzt, Schläfer lagen in allen Winkeln hinter jedem Pfeiler. Männer, Frauen und Kinder saßen aneinander gelehnt herum, ließen den Kopf auf die Schulter des Nachbars fallen und vermischten in unschuldiger Ruhe ihre Atemzüge. Man schien eine plötzlich vom Schlaf überwältigte und zu Boden geworfene heilige Versammlung, eine zufällig zu einem Heim umgewandelte Kirche zu sehen, deren Tür in der schönen Augustnacht weit offenstand und alle im Finstern Wandelnden eintreten hieß, die Guten und die Bösen, die Müden und die Verlorenen. Und von allen Seiten her, an jedem der fünfzehn Altäre klingelten ohne Unterlaß die Glöckchen, und jeden Augenblick erhoben sich aus dem bunten Gemisch der Schläfer Gesellschaften von Gläubigen, die zur Kommunion gingen und dann zurückkamen, um sich in der Herde ohne Namen und ohne Hirten, die in das Halbdunkel wie in einen Schleier eingehüllt war, wieder zu verlieren.
Pierre fuhrt fort, mit unentschlossener und unruhiger Miene durch diese Gruppen zu irren, als ihn ein alter Priester, der auf der Stufe eines Altars saß, durch eine Handbewegung zu sich rief. Seit zwei Stunden wartete er, und im Augenblick, da er endlich an der Reihe war, fühlte er sich von einer solchen Schwäche befallen, daß er aus Furcht, seine Messe nicht vollenden zu können, es vorzog, seinen Platz an einen anderen Priester abzutreten. Ohne Zweifel hatte ihn der Anblick des gequälten, im Schatten verlorenen Pierre gerührt. Er selbst bezeichnete ihm die Sakristei, wartete noch, bis sein Stellvertreter im Meßgewand und mit dem Kelch zurückkam, und schlief dann auf einer der nächsten Bänke ein. Hierauf las Pierre seine Messe, wie er sie in Paris las: als ehrlicher Mann, der seine Berufspflicht erfüllt. Er bewahrte den äußeren Anschein eines unbedingten Glaubens. Aber nichts rührte ihn, und nichts von dem, was er von den zwei Tagen fieberhafter Aufregung, die er durchlebt hatte, und von der außerordentlichen verwirrenden Umgebung, in der er sich seit dem Vorabend befand, zu erwarten glaubte, griff ihm ans Herz. Er hoffte, es würde ihn im Augenblick der Kommunion, wenn das göttliche Geheimnis sich erfüllt, eine heftige Gemütsbewegung niederwerfen, er würde vor dem geöffneten Himmel Angesicht zu Angesicht mit Gott in Gnade gehüllt werden. Aber nichts zeigte sich, sein eiskaltes Herz schlug nicht einmal. Er sprach die gewohnten Worte bis zum Ende und machte die vorgeschriebenen Bewegungen mechanisch und einwandfrei. Aber trotz seines eifrigen Bestrebens, seine Aufmerksamkeit auf die heilige Handlung zu konzentrieren, kehrte stets eine einzige Idee wieder, nämlich die, daß die Sakristei für eine so ungeheure Anzahl von Messen viel zu klein wäre. Wie könnten die Mesner dazu kommen, die heiligen Gewänder und die Wäsche zu liefern? Dieser Gedanke verwirrte ihn und beschäftigte seinen Geist mit törichter Beharrlichkeit.
Dann war Pierre erstaunt, sich wieder draußen zu befinden. Von neuem wandelte er in der Nacht dahin, in einer Nacht, die ihm noch schwärzer, noch stummer und von unermeßlicher Leere erschien. Die Stadt war tot, kein einziges Licht schimmerte. Es blieb nur das Rauschen des Gave übrig, das er auch bald nicht mehr vernahm, weil sein Gehör gegen das eintönige Geräusch abgestumpft war. Da flammte auf einmal wie eine Wundererscheinung die Grotte vor ihm auf und entflammte Finsternis zu heller Glut. Ohne Zweifel durch den Gedanken an Marie geleitet, war er hierher zurückgekehrt, ohne sich dessen bewußt zu werden. Es mußte gleich drei Uhr schlagen, die Bänke hatten sich geleert. Es waren nur noch etwa zwanzig Personen da, dunkle, verschwommene Gestalten, unbestimmte Gruppen von Knienden und eingeschlummerte Ekstatische, die in eine göttliche Betäubung gefallen waren. Man hätte sagen können, die vorschreitende Nacht habe die Schatten verdichtet und die Grotte in eine traumhafte Entfernung gerückt. Alles lag düster in der Tiefe einer köstlichen Erschlaffung, und auch die unermeßliche dunkle Landschaft schlummerte, während die unsichtbare Stimme des Flusses den Rhythmus dieses Schlummers selbst zu bilden schien, in dem die Heilige Jungfrau, ganz weiß und vom Heiligenschein der Kerzen umgeben, leise lächelte. Frau Maze lag unter den Frauen noch immer auf den Knien, mit gefalteten Händen und geneigtem Kopf. Sie war so unscheinbar, daß sie in ihrem glühenden Gebet aufgegangen zu sein schien.
Pierre hatte sich sofort Marie genähert. Er zitterte vor Kälte und bildete sich ein, sie müßte bei der Annäherung des Morgens zu Eis erstarrt sein.
»Marie! Decken Sie sich zu! Ich bitte Sie darum«, sagte er. »Wollen Sie denn noch mehr leiden?«
Und er hob die herabgeglittene Decke auf und bemühte sich, sie bis unter das Kinn heraufzuziehen.
»Sie frieren, Marie! Ihre Hände sind erstarrt.«
Sie antwortete nicht. Sie hatte die gleiche Haltung beibehalten wie zwei Stunden vorher, als er von ihr weggegangen war. Die Ellenbogen stützten sich auf die Ränder des Wagens, und ihre Gestalt hob sich halb empor. Ihr verklärtes, von himmlischer Freude strahlendes Gesicht war im Feuer der Begeisterung der Heiligen Jungfrau zugekehrt. Ihre Lippen bewegten sich, ohne daß ein Laut hörbar wurde. Vielleicht setzte sie eine geheimnisvolle Unterhaltung fort, die sie im Lande der Verzückung und während ihres wachen Traumes führte, seitdem sie sich hier befand. Er sprach wiederholt zu ihr, aber sie gab ihm keine Antwort. Dann flüsterte sie von selbst, und ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen:
»Pierre! Wie bin ich glücklich!... Ich habe sie gesehen und für Sie zu ihr gebetet. Sie hat mir zugelächelt und ein kleines Zeichen mit dem Kopf gemacht, um mir zu sagen, daß sie mich hörte und erhörte... Und Pierre! Sie hat nicht gesprochen zu mir, ich habe aber dennoch alles verstanden, was sie mir sagte. Morgen um sechs Uhr abends, wenn das heilige Sakrament vorüberzieht, werde ich geheilt werden!«
Er hörte sie erschüttert an. Hatte sie mit offenen Augen geschlafen? Hatte sie im Traum die marmorne Heilige Jungfrau den Kopf neigen und lächeln sehen? Bei dem Gedanken, daß dies reine Kind für ihn gebetet hatte, wurde er von einem heftigen Schreck ergriffen. Er ging bis zur Grotte, fiel dort auf beide Knie nieder und stammelte: »0 Marie! O Marie!« ohne zu wissen, ob dieser Aufschrei seines Herzens sich an die Jungfrau richtete oder an die angebetete Freundin seiner Kinderjahre. Dann blieb er vernichtet dort und erwartete die Gnade.
Es verflossen Minuten ohne Ende. Eine übermenschliche Kraft schien in ihm erwacht zu sein, er erwartete das Wunder, das er für sich selbst suchte, die plötzliche Offenbarung, den Blitzstrahl, der ihm den aufrichtigen, verjüngten und triumphierenden Glauben wiedergeben sollte. Er gab sich ganz hin, er hätte gewünscht, daß eine höchste Macht sein Wesen einschließen und umgestalten möchte. Aber wie bei seiner Messe hörte er in seinem Innern nur ein unbegrenztes Schweigen und fühlte nur eine unergründliche Leere. Nichts trat ein, sein verzweifeltes Herz schien nicht mehr zu schlagen. Es half ihm auch nichts, daß er sich abmühte, zu beten und seine Gedanken aufs äußerste auf diese mächtige, den armen Menschen so gütige Jungfrau zu richten. Trotz alledem entschlüpften ihm die Gedanken, wurden von der äußeren Welt wieder erobert und beschäftigten sich mit kindischen Einzelheiten. In der Grotte, auf der andern Seite des Gitters, sah er den eingeschlummerten Baron Suire, der seinen glücklichen Schlaf mit auf dem Bauch gefalteten Händen fortsetzte. Auch andere Dinge interessierten ihn noch: die Blumensträuße zu Füßen der Jungfrau, die dorthin geworfenen Briefe und die feinen Spitzen aus Wachs, die oben um die Flamme der dicken Kerzen herum stehenblieben und sie gleich einer reichen Goldschmiedarbeit aus durchbrochenem Silber umgaben. Er dachte scheinbar ohne jeden Zusammenhang über seine Kinderzeit nach, und die Gestalt seines Bruders Guillaume stellte sich sehr bestimmt vor sein geistiges Auge. Seit ihrer Mutter Tod hatte er ihn nicht wieder gesehen. Er wußte nur, daß er sehr abgeschieden lebte und sich in dem kleinen Haus, in das er sich mit einer Geliebten und zwei großen Hunden gleichsam wie in ein Kloster eingeschlossen hatte, mit der Wissenschaft beschäftigte. Er hätte nichts mehr von ihm gehört, wenn er nicht unlängst seinen Namen anläßlich eines revolutionären Attentats in einer Zeitung gelesen hätte. Man sagte, er gebe sich mit Studien über Sprengstoffe ab und pflege Umgang mit den Häuptern der fortgeschrittensten Parteien. Warum erschien er ihm also an diesem Ort der Ekstase inmitten des mystischen Lichts der Kerzen, wie er ihn ehemals gekannt hatte, als zärtlicher Bruder, der sich liebevoll gegen alle Leiden empörte? Voll schmerzlichen Bedauerns über diese verlorene innige Bruderliebe wurde er durch die Erinnerung einen Augenblick in Anspruch genommen. Dann kam er wiederum ohne Übergang auf sich selbst zurück. Er begriff, daß der Glaube nicht wiederkehren würde, wenn er sich dies auch starrsinnig in den Kopf setzen wollte. Nichtsdestoweniger fühlte er trotzdem eine Art Leben bei der letzten Hoffnung in sich aufsteigen, dem Gedanken nämlich, daß er ohne Zweifel glauben würde, wenn die Heilige Jungfrau das große Wunder der Heilung Mariens tun sollte. Damit gab er sich gleichsam eine letzte Frist, als ob er für den nämlichen Tag um vier Uhr abends, wenn das heilige Sakrament, wie sie gesagt hatte, vorüberziehen würde, ein Stelldichein mit dem Glauben verabredet hätte. Auf der Stelle wich seine Beängstigung, er blieb auf den Knien liegen, von Ermüdung gebrochen und von einer unbesieglichen Schlafsucht überfallen.
Pierre sah nach und nach den Glanz der Kapelle erbleichen. Er staunte darüber und wurde unter gelindem Frostschauer völlig wach: der Tag brach an bei trübem, mit Wolken bedeckten Himmel. Er merkte, daß eines jener in Gebirgsländern so plötzlich auftretenden Gewitter rasch von Süden her aufstieg. Schon rollte der Donner in der Ferne, während Windstöße durch die Straßen fegten. Vielleicht hatte auch er geschlafen, denn er fand den Baron Suire nicht mehr, obwohl er sich nicht an sein Fortgehen erinnern konnte. Es blieben keine fünfzehn Personen vor der Grotte zurück, und unter ihnen erkannte er wiederum Frau Maze, die das Gesicht in den Händen verbarg. Als sie jedoch bemerkte, daß es heller Tag wurde und daß man sie sah, erhob sie sich und verschwand auf dem engen Fußpfad, der zum Kloster der blauen Schwestern hinunterführte. Unruhig sagte Pierre, zu Marie, daß sie nicht länger dableiben dürfe, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, durchnäßt zu werden.
»Ich werde Sie ins Hospital zurückführen.«
Sie lehnte dies ab und bat ihn dringend: »Nein, nein! Ich erwarte die Messe, da ich versprochen habe, hier zu kommunizieren ... Haben Sie keine Sorge um mich, sondern gehen Sie schnell in Ihren Gasthof zurück und legen Sie sich schlafen, ich bitte Sie darum. Sie wissen ja, daß, wenn es regnet, geschlossene Wagen hierherkommen und die Kranken holen.«
Sie blieb dabei, während er wiederholt versicherte, daß er sich nicht zu Bett legen wolle. In der Tat wurde am frühen Morgen eine Messe in der Grotte gelesen, und es war für die Pilger eine göttliche Freude, dort nach einer langen Nacht der Verzückung im Glorienschein der aufgehenden Sonne kommunizieren zu können. Und als eben große Tropfen zu fallen begannen, erschien ein Priester im Meßgewand. Er war von zwei Klerikern begleitet, von denen einer, um den Kelch zu schützen, einen weit ausgespannten Regenschirm aus weißer, goldgestickter Seide über dem Geistlichen hielt.
Pierre hatte den Wagen an das Gitter geschoben, um Marie unter dem Wetterdach der Grotte, wohin sich die wenigen. Anwesenden ebenfalls geflüchtet hatten, vor dem Regen zu bewahren. Soeben sah er, wie das junge Mädchen die Hostie mit glühender Inbrunst empfing, als seine Aufmerksamkeit durch ein jammervolles Schauspiel angezogen wurde, das sein Herz zerriß.
Im Regen, der jetzt wie eine Sintflut dicht und schwer niederfiel, bemerkte er Frau Vincent. Sie bot der Heiligen Jungfrau auf beiden ausgestreckten Armen ihre kleine Rose dar, deren teure, schmerzhafte Bürde sie immerfort trug. Da sie in der »Zuflucht«, in der sich Klagen wegen des unablässigen Ächzens der Kleinen erhoben hatten, nicht hatte bleiben können, hatte sie sie in der Nacht fortgetragen. Über zwei Stunden war sie dann außer sich, wahnwitzig, mit dieser traurigen Bürde, ohne ihr Erleichterung verschaffen zu können, im Finstern hin und her gelaufen. Sie wußte nicht, welchen Weg sie eingeschlagen und unter welchen Bäumen sie sich verirrt hatte. Sie war ganz in Aufruhr gegen das ungerechte Leiden, welches dies arme, kleine, so schwache und fleckenlose Wesen, das noch unfähig war, eine Sünde zu begehen, mit solcher Härte traf. Waren diese Qualen der Krankheit, die ihr Kind seit Wochen unaufhörlich verfolgten, nicht eine Abscheulichkeit – ihr Kind, dessen Schreien sie auf keine Weise zu beschwichtigen wußte? Sie trug es hin und her, sie wiegte es ohne Ruhe auf den Armen, lief mit ihm wie rasend quer über die Wege und hoffte immer, daß sie es einschläfern, daß sie dies Schreien, das ihr das Herz aus dem Leib riß, zum Schweigen bringen könnte. Da war sie plötzlich entkräftet, selbst in Todesangst durch diesen langen Todeskampf, vor der Grotte angekommen, – da stand sie nun zu Füßen der Jungfrau, die Wunder wirkte, Verzeihung gewährte und heilte!
»O Jungfrau! Wunderbare Mutter, heile sie! ... O Jungfrau! Mutter der göttlichen Gnade, heile sie! ...«
Sie war auf die Knie gefallen und hielt ihr sterbendes Kind auf zitternden Armen empor, schwärmerische Sehnsucht und Hoffnung erregten sie bis zum Wahnsinn. Sie fühlte auf ihren Fersen nicht den Regen, der hinter ihr, tosend wie ein überströmender Gießbach, niederklatschte, während heftige Donnerschläge die Berge erschütterten. Einen Augenblick hielt sie sich für erhört. Rose hatte einen leichten Stoß erhalten, als ob sie vom Erzengel besucht worden wäre. Die Augen standen offen, der Mund stand offen und sie war ganz weiß. Und sie stieß einen letzten schwachen Atemzug aus, dann schrie sie nicht mehr.
»O Jungfrau, Mutter des Erlösers, heile sie! ... O Jungfrau, allmächtige Mutter, heile sie! ...«
Sie fühlte jedoch ihr Kind leichter auf ihren ausgestreckten Armen. Und jetzt entsetzte sie sich, weil sie es nicht mehr klagen hörte, weil sie es so weiß sah mit seinen offenen Augen, seinem offenen Mund und ohne Atemzug. Warum lächelte sie nicht, wenn sie geheilt war? Auf einmal stieß sie einen herzzerreißenden Schrei aus, den Schrei einer Mutter, der den Donner in dem sich steigernden Gewitter übertönte. Ihre Tochter war tot! Und sie erhob sich ganz aufrecht, wandte dieser tauben Jungfrau, die die Kinder sterben ließ, den Rücken und ging im strömenden Gußregen wie eine Wahnsinnige davon. Der Blitz schlug ein und spaltete einen der nächsten Bäume mit einem riesigen Beilhieb, unter dem lauten Krachen des Donners und der fallenden, zerbrochenen Äste.
Pierre war aufgesprungen, um Frau Vincent zu begleiten, zu führen und zu stützen. Aber er konnte ihr nicht folgen, da er sie bald hinter dem düstern Vorhang des Regens aus dem Gesicht verlor. Als er zurückkam, ging die Messe ihrem Schluß entgegen. Der Regen fiel weniger heftig und der amtierende Geistliche konnte endlich unter dem Schirm aus weißer, goldgestickter Seide weggehen, während eine Art Omnibus die wenigen Kranken erwartete, um sie ins Hospital zurückzuführen.
Marie drückte die beiden Hände Pierres.
»Wie bin ich glücklich!... Holen Sie mich nicht vor drei Uhr ab!«
Im Regen, der feiner fiel und eigensinnig andauerte, trat Pierre in die Grotte ein und setzte sich auf die Bank neben der Quelle. Er wollte sich nicht zu Bett legen, denn in der nervösen Überreizung, in welcher er sich seit dem Vorabend befand, bereitete ihm der Schlaf trotz seiner Müdigkeit nur Unruhe. Der Tod der kleinen Rose hatte ihn soeben in einen noch fieberhafteren Zustand versetzt, denn er konnte den Gedanken an diese gequälte, mit dem Leichnam ihres Endes auf den kotigen Wegen herumirrende Mutter nicht verscheuchen. Welche Beweggründe bestimmten wohl die Beschlüsse der Jungfrau? Es befremdete ihn, daß sie eine Wahl treffen konnte. Er hätte wissen mögen, warum ihr Herz als Gottesmutter sich entschließen konnte, von hundert Kranken nur zehn zu heilen, jene zehn Prozent, über die Doktor Bonamy eine Statistik aufgestellt hatte. Schon am Abend vorher hatte er sich gefragt, welche er ausgewählt haben würde, wenn ihm die Macht zu Gebote gestanden hätte, zehn von ihnen zu retten. Eine schreckliche Macht, eine furchtbare Wahl, zu der er den Mut nicht in sich gefühlt hätte. Warum diesen und warum nicht jenen? Wo blieb die Gerechtigkeit und wo die Güte? Stieg nicht aus den Herzen der Schrei empor, sich unendlich mächtig zu zeigen und alle zu heilen? Die Jungfrau erschien ihm grausam, schlecht unterrichtet, ebenso hart und gleichgültig wie die gefühllose Natur, die Leben und Tod aufs Geratewohl und nach Gesetzen verteilt, die dem Menschen unbekannt sind.
Der Regen ließ nach. Pierre befand sich seit zwei Stunden hier, als er fühlte, daß seine Füße naß wurden. Er sah sich um und war sehr überrascht: die Quelle war durch die vergitterte Füllung ausgetreten. Schon befand sich der Boden der Grotte unter Wasser, und ein Wasserspiegel floß von außen herum, unter den Bänken bis zur Brustlehne des Gave. Die letzten Gewitter hatten die Wasseradern der Umgebung angeschwellt. Und er dachte, die Quelle, so wunderbar sie auch sein mochte, wäre doch den Gesetzen der anderen Quellen unterworfen, denn sie stand sicher mit natürlichen Behältnissen in Verbindung, in die das Regenwasser eindrang und in denen es sich ansammelte. Er entfernte sich, um keine nassen Füße zu bekommen.