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I.

Eine leichte Brise bewegte die Wellen, die wie flüssiges Silber glitzerten. Wie ein riesengroßes, gleißendes Schild lag die See da, in der sich die Strahlen der heißen Augustsonne brachen. Die Damen hatten ihre Strandkörbe gegen Norden gestellt, um ihren zarten Teint nicht der sengenden Sonnenglut auszusetzen.

Wohlig ruhten und tummelten sich Männer, Frauen, junge Mädchen und Kinder auf dem weißen Dünensand.

Zwischen den beiden kleineren Badeanstalten, die weiter ab vom Zentrum des Badeortes lagen, als die mehr besuchten Hauptbadeanstalten, hatte sich eine Gruppe von fünf Personen niedergelassen.

»Ich glaube, Sie haben mir heute noch nicht eine einzige Artigkeit gesagt, Herr Assessor«, ertönte eine wohlklingende Frauenstimme aus einem der hier aufgestellten drei Strandkörbe heraus.

Es war eine schöne Erscheinung, deren ebenmäßige, schlanke Gestalt mit den vollen Formen sich in dem modern geschnittenen, eleganten, weißen Cheviotkleid anmutend, reizvoll markierte. Ihr rechter Fuß in dem schmalen, hochhackigen weißen Strandschuh und dem gleichfarbenen, durchbrochenen Strumpf wippte nervös auf und ab.

Der in einen weiß und blau gestreiften Strandanzug gekleidete, zu den Füßen der Dame ruhende Herr hob seine aufleuchtenden Augen.

»Die tiefste Bewunderung schweigt, gnädigste Frau.«

Sie lächelte geschmeichelt. »Schön gesagt! Aber –« sie zeigte jetzt eine schmollende Miene – »wer beweist mir, daß es nicht Langeweile und Bequemlichkeit waren, die Sie seit fünf Minuten stumm machten?«

Der sorgfältig frisierte Herr, der seinen Strandhut neben sich gelegt hatte, erhob seine wohlgepflegten Hände mit den rosigen, sauber polierten, an den Spitzen schneeweißen Nägeln und machte eine erschrocken abwehrende Bewegung.

»Aber Gnädigste sollten sich doch nicht selbst verleumden. Langweilen in Ihrer anregenden, bestrickenden Gesellschaft? Undenkbar! Selbst wenn ich die Augen schlösse –« er veränderte seine sitzende Stellung und legte sich ganz hintenüber, die Arme unter dem Kopf gekreuzt – »ich würde doch immer Ihre stimulierende, erhebende, beseligende Nähe empfinden. In meinen klopfenden Pulsen, in meinem lebhaft pochenden Herzen würde sich immer die Wirkung Ihrer bezaubernden Gegenwart verraten.«

Der rosige Schein starker Befriedigung breitete sich über die hübschen Züge der jungen Frau; ihre munteren braunen Augen leuchteten vergnügt in befriedigter Gefallsucht. Doch blitzschnell legte sie ihr Gesicht in ostentativ unmutige Falten und warf scheinbar unwillig ihre Lippen auf.

»Sie sollen mir doch nicht immer so kecke Schmeicheleien sagen, Herr Assessor.«

Er lachte in sich hinein. Hatte sie sich nicht eben erst beklagt, daß er ihr keine Galanterien erwies? Aber er unterdrückte diese sarkastische Regung so rasch, wie sie gekommen, und schaute mit forciert verzückten Blicken zu ihr auf.

»Schmeicheleien sind Unaufrichtigkeiten. Ich aber konstatiere nur Tatsachen, gnädigste Frau. Und wenn ich meinen Empfindungen einen noch viel glühenderen, ekstatischeren Ausdruck gäbe, ich würde immer nur Wahrheiten sagen.«

Sie beugte sich wieder lächelnd zu ihm hinab und schlug mit dem langen weißen Handschuh, den sie in der Rechten hielt, nach ihm.

»Unverbesserlich! ... Wenn mein Mann Sie hörte!«

»Er würde sich sicherlich freuen. Oder meinen Sie nicht, daß sich ein Mann nur geschmeichelt fühlen kann, wenn er sieht und hört, daß die Schönheit und die Anmut seiner Gattin auch die ganze übrige Männerwelt zur Bewunderung und Anbetung hinreißt?«

Sie nickte entschieden.

»Freilich sollte er das – um so mehr, wenn er es selber seiner Frau gegenüber an Galanterie und Bewunderung fehlen läßt.«

Der Assessor brachte sich mit elastischem Schwung wieder in eine sitzende Stellung.

»Ihr Herr Gemahl ist eben ein moderner und fashionabler Mann. Er weiß, daß es nicht geschmackvoll ist, den Anbeter seiner eigenen Frau zu machen.«

Sie lachte.

»Da haben Sie recht, Herr Assessor. Er hält es offenbar für vornehmer, seine Bewunderung anderweitig zum Ausdruck zu bringen.«

»Zum Beispiel der schönen Lili Sander gegenüber.«

»Finden Sie sie wirklich schön?«

Die Sprechende runzelte ihre Augenbrauen leicht. Er machte ein etwas gekünstelt verdutztes Gesicht.

»Pardon! Habe ich das gesagt? Dann war es nur – nur façon de parler. Sie werden mich doch nicht für so taktlos halten, ein anderes weibliches Wesen in Ihrer Gegenwart schön zu fin–«

Ein ostentativer Husten aus einem ein paar Schritte weiter seitwärts stehenden Strandkorb, aus dem ein kurzer, faltenloser, schwarzer Rock und ein Paar derbe, schwarze Stiefeletten mit breiten Absätzen hervorlugten, erstickte die letzte Silbe.

Der Assessor winkte mit dem Kopf nach der Richtung und dämpfte seine Stimme.

»Das Fräulein Doktor gibt uns ihre Mißbilligung kund.«

Die kokette junge Frau zuckte gleichmütig mit den Schultern, aber sie beugte sich doch gleich darauf weit vor und rief in ihren weichen, schmeichelnden Tönen, denen diesmal eine schwache Nuance von Spott beigemischt war, nach dem anderen Strandkorb hinüber: »Stören wir dich, Ella?«

Ein schmaler, knochiger Oberkörper ohne Rundung und Formen und ein gelblich blasses, hartliniges, ernstes Gesicht kam aus dem oberen Teil des Korbes zum Vorschein.

»Wenn es der Fall wäre,« erwiderte ein starkklingendes, etwas sprödes weibliches Organ, »hätte ich kein Recht, mich zu beklagen. Der Strand ist für alle und am Ende weniger für das Studieren da, als für – den Flirt.«

Es kam mit einer trockenen Bissigkeit heraus, die auf die Lippen der schönen Frau ein vergnügtes Lächeln hervorzauberte und ihren Courmacher veranlaßte, mit einer leichten Verneigung etwas ironisch zu erwidern: »Sie sind sehr nachsichtig, gnädiges Fräulein, und wir müssen –«

Doch die im schwarzen Gewand unterbrach unwirsch:

»Wie oft habe ich Sie nicht schon gebeten, Herr Assessor, mir nicht immer dieses – verzeihen Sie – unsinnige Prädikat zu geben. Ich bin nicht gnädig.«

»Pardon, Fräulein Doktor! So darf man Sie doch anreden?«

Das Fräulein Doktor nickte.

»Den Titel habe ich mir wenigstens in ehrlicher Arbeit erworben.«

»Allerdings, du scheinst wieder einmal nichts weniger als gnädig«, mischte sich die weißgekleidete junge Frau ein. »Darf man fragen, was für ein schweres Buch du da wieder studierst?«

»Es wird dich kaum interessieren, es handelt von den Pflichten der modernen Frau.«

Die schöne Fragerin zeigte in der Tat eine gleichgültige, uninteressierte Miene, während der Assessor sich nach der anderen Dame, die zwischen ihren knochigen, ungepflegten Fingern mit den kurzabgeschnittenen Nägeln ein aufgeschlagenes Buch hielt, fragend herumwandte: »Und worin bestehen diese Pflichten, gnädiges – pardon, Fräulein Doktor?«

»Nun, das ist doch klar genug«, erwiderte die Gefragte und heftete ihre graublauen, an den Lidern entzündeten Augen mit einem spöttischen, herausfordernden Ausdruck auf das leicht gebräunte glatte Antlitz des Lebemanns mit dem kurzgestutzten Schnurrbart, in das keine übermäßige Denkarbeit sichtbare Spuren gezeichnet.

»Haben Sie denn noch nichts von der großen gewaltigen Bewegung vernommen, die durch die Welt geht, die überall die geistig regen Frauen aufruft zum Kampf gegen die jahrtausendlange Unterdrückung und Unselbständigkeit? Die Pflicht der modernen Frau ist, sich dieser Bewegung anzuschließen, die Schranken, die ihre Kräfte bisher gehemmt und zurückgehalten haben, niederzureißen und ihre Kräfte in einem frei gewählten Beruf zu betätigen.«

»Aber würde das der Bestimmung der Frau nicht widerstreben?« warf der Assessor ein. »Wer soll denn das Heitere, Schöne in das Leben bringen, wenn die Frauen auch anfangen zu arbeiten, wie wir Männer? Nein, Fräulein Doktor, ich bin der Ansicht, wer die Frau schätzt und liebt, der soll sie vor der Arbeit bewahren. Die Arbeit macht häßlich, trocken, hart. Die Frau soll weich, anmutig und schön sein. So schreibt es das Naturgesetz vor, dasselbe Naturgesetz, das den Mann zur Arbeit und zum Kampf bestimmt hat. Der Natur der Frau widerstrebt die schwere, anhaltende Berufsarbeit.«

Um die Lippen des Fräulein Doktor zuckte es geringschätzig.

»Was wissen Sie denn von der Natur der Frau?«

»Ich?« Der Lebemann machte ein verblüfftes Gesicht. »Ich sollte die Natur der Frau nicht kennen?«

Die Frauenrechtlerin richtete den intelligenten, klaren Blick ihrer Augen auf die elegante Gefährtin des Sprechenden.

»Die Frauen, die Sie kennen, rechnen bei unserer Bewegung nicht mit.«

»Und was sagen Sie zu den Ansichten Ihrer Fräulein Cousine, gnädige Frau?« fragte der Assessor noch immer ganz indigniert.

Die schöne Frau beantwortete die Frage ihres Verehrers mit einem Achselzucken und einer überlegenen Miene.

»Mein Gott, das ist doch alles überflüssiges Gerede«, sagte sie. »Die ganze Frauenfrage ist nur eine Erfindung der unverheirateten Mädchen und entspringt wohl nur dem Ärger und vielleicht auch der Langeweile. Für eine Frau, die einen Mann hat, sind alle Fragen gelöst und sie kennt nur die eine Aufgabe, ihrem Mann zu gefallen.«

»Und allen anderen Männern dazu«, warf die Frauenrechtlerin anzüglich ein.

In sehr selbstbewußter Haltung legte sich die junge Frau hintenüber und versetzte mit lächelnder Malice, kokett mit dem hochspannigen, kleinen Füßchen wippend:

»Besser allen, als keinem gefallen.«

In das vom vielen Studieren gebleichte Gesicht des »Gehirnweibes« stieg eine schwache Röte; die Hände, die das Buch hielten, zitterten und in ihren Augen züngelte etwas auf. Aber sie bemühte sich, die weibliche, allzuweibliche Empfindlichkeit und Erregung zurückzudrängen.

»Ich finde,« entgegnete sie äußerlich ruhig, »daß es für eine Frau von Selbst- und feinem Ehrgefühl höhere, erhebendere Aufgaben gibt, als den Männern zu gefallen. Ich würde mich für zu gut halten, mit allen möglichen, oft sehr fragwürdigen Elementen in Wettstreit zu treten.«

Sie bog ihren Oberkörper zurück und hob mit einer energischen Bewegung ihr Buch zu ihrem Gesicht empor, um damit anzudeuten, daß sie das kleine Scharmützel für beendet halte.

Der Lebemann zeigte seiner Dame eine tragikomische Miene.

»Ich bin zerschmettert.«

Die schöne Frau lachte, dann beugte sie sich zu ihm hinab und flüsterte: »Wem die Trauben zu hoch hängen, dem erscheinen sie sauer.«

»Hat sie denn wirklich nie geliebt?« wisperte der Assessor ungläubig.

Die Gefragte zuckte mit den Schultern.

»Weiß ich's? Jedenfalls – lang, lang ist's her!«

Der Lebemann lächelte etwas mokant.

»Sie ist nicht nur an Weisheit reif.«

Die schöne Frau nickte boshaft ...

Ungefähr zehn Schritte rückwärts von den beiden Strandkörben ruhte ein junges Paar im Sande. Das junge Mädchen saß und blickte zerstreut über die blauen Wellen hin, die in monotonem Rauschen an den Strand schlugen. Der junge Mann, der nicht viel älter zu sein schien als seine etwa zweiundzwanzigjährige Gefährtin, lag lang ausgestreckt ihr gegenüber. Schon ein paar Minuten lang sah er ihr unverwandt in das feingezeichnete Gesicht mit der graden schmalen Nase, dem kleinen Mund, dessen leicht gekräuselte Lippen nicht die saftig rote frische Farbe der Jugend zeigte, und in die sinnenden, träumerischen blauen Augen.

Jetzt machte sie eine Bewegung; etwas Unruhiges trat in ihre Mienen; ihre dunklen, schön geschweiften Brauen zogen sich zusammen. Es war, als wenn sie aus einem Traume erwache. Ihr Blick traf den seinen.

»Was siehst du mich so an, Siegfried?« fragte sie.

»Ich? Mir fiel eben etwas an dir auf, Susanne.«

»So! Was denn?«

»Du bist viel hübscher geworden in den vier Wochen, seit wir hier im Bade sind, viel – sozusagen, viel weiblicher siehst du aus.«

Ihre Augen öffneten sich weit vor Erstaunen und Überraschung, und die Glut des Ärgers schlug ihr ins Gesicht.

»Rappelt's bei dir? Wie kommst du denn darauf? Du hast mir doch sonst keine faden Schmeicheleien gesagt.«

Er schüttelte entschieden mit dem Kopf.

»Liegt mir auch jetzt ganz fern. Teile dir nur einfach meine Beobachtung mit. Überhaupt – weißt du, wenn man so Tag für Tag zusammen büffelt im engen Zimmer, über die Bücher gebückt, dann fällt einem natürlich so was nicht auf. Da hat man ja gar nicht die Zeit, einer den andern ordentlich anzusehen, da denkt man ja immer nur an Abstraktes. Hier ist das was andres. Hier ist man, möchte ich sagen, mehr Mensch und sieht und denkt persönlicher.«

In ihrem Gesicht, das unverkennbare Familienähnlichkeit mit dem Fräulein Doktor im Strandkorb aufwies, wenn auch bei ihr alles zarter, weicher, feiner war, zuckte es spöttisch und ihre Blicke glitten über den zu ihren Füßen Liegenden hin. Seine Gestalt war zartgliedrig, die Konturen aber waren weich, rund; auffallend stark waren seine Hüften. Das Haar war dicht, leichtgelockt und hing ihm bis auf den Rockkragen hinab. Sein Gesicht war fast ganz bartlos, nur oben an den Ohren und unten am Kinn sprossen ein paar Barthaare.

»Ich kann dir das Kompliment nicht zurückgeben. Ich finde nicht, daß du dich verschönert hast und männlicher bist du auch nicht geworden.«

»Das macht wohl, weil ich von klein auf immer mehr mit Mädchen verkehrt habe als mit Jungen. Ihre Roheiten haben mich immer abgestoßen.«

Er sagte es mit heller, hoher Stimme, die fast wie ein weiblicher Sopran klang.

Das junge Mädchen lächelte.

»Ja, du hast etwas Mädchenhaftes. Wie willst du denn deiner Frau einmal imponieren?«

Er wehrte entrüstet ab.

»Rede doch nicht solchen Unsinn, Susanne! Ich denke gar nicht daran zu heiraten. Ich perhorresziere die Ehe mit all ihrem unwürdigen, widrigen Drum und Dran. Sie lenkt einen vom Besten, Höchsten ab, erniedrigt und korrumpiert den Mann. Gott soll mich bewahren! So eine, wie deine schöne Cousine da – brr!« Er deutete mit einer Kopfbewegung nach dem anderen Paar, das wieder emsig miteinander flirtete und girrte. »Weißt du, solche – solche Überweiber sind doch die überflüssigsten, erbärmlichsten Geschöpfe der Welt.«

»Überweiber?« Susanne lachte. »Dann wären also wir anderen, die wir uns geistig beschäftigen und wenig Wert auf das Äußere legen, Unterweiber.«

Aber der Student widersprach eifrig.

»Vollmenschen seid ihr, vollwertig dem Mann, das heißt dem geistig strebenden Mann. Du wirst doch gewiß auch nicht heiraten, Susanne?«

Das junge Mädchen antwortete nicht sogleich; ihre Blicke schweiften wieder träumerisch in die im Sonnenglanz strahlende Ferne.

»Ich habe noch nie darüber nachgedacht«, sagte sie nach einer Weile leise.

»Nein, dazu bist du zu schade«, fuhr der junge Mann fort. »Hättest du denn überhaupt an das Studium gedacht, wenn es deine Absicht wäre, dich einmal an solch einen – er winkte diskret nach dem Assessor hinüber – wegzuwerfen, der in euch nur – äh, ich mag gar nicht sagen was erblickt.« –

Ein schriller Pfiff von der Damenbadeanstalt her unterbrach plötzlich die Unterhaltung. Zugleich machte sich eine lebhafte Bewegung sowohl in der Frauen- wie in der Männerbadeanstalt bemerkbar. Wiederholtes grelles Pfeifen mischte sich mit lauten Rufen.

Siegfried Möller sprang auf, auch seine Gefährtin erhob sich rasch und auch die anderen am Strande ruhenden oder promenierenden Badegäste schauten auf die See hinaus.

»Eine der Damen hat sich zu weit hinausgewagt!« rief Regierungsassessor von Wernitz und reichte seinen Krimstecher der schönen Frau Adele Portig, deren ebenmäßige, reizvolle Figur noch mehr zur Geltung kam, während sie in dem enganliegenden weißen Kostüm neben ihrem Begleiter stand. Man sah in der Tat weit ab von der Badeanstalt eine im Sonnenlicht blitzende hellgelbe Badekappe.

Der Assessor schüttelte unwillig mit dem Kopf, während die schöne Frau mit dem Glase vor den Augen gespannt die Schwimmerin draußen verfolgte.

»Die Tollkühne!« rief Herr von Wernitz halb bewundernd, halb tadelnd. »Warum sie nur nicht umkehrt!«

»Sie wird wohl wissen, daß sie ihrer Kraft vertrauen darf«, bemerkte Fräulein Doktor Ella Neudeck, die ebenfalls aufmerksam geworden war. »Wenn es ein Mann wäre, würde sich niemand darum kümmern.«

Aber der Regierungsassessor hörte gar nicht auf den Einwurf. »Das ist ja heller Wahnsinn!« rief er aufgeregt. »Ah!« Er stieß einen lauten Ausruf stärksten Interesses aus.

»Was denn?« fragte Frau Adele Portig.

»Ein Mann schwimmt ihr nach. Sehen Sie doch nur, gnädige Frau! Können Sie ihn nicht erkennen?«

Die schöne Frau setzte das Glas einen Moment ab, erblickte den kräftigen Schwimmer, auf den sie der Assessor soeben aufmerksam gemacht hatte und der nun mit kräftig ausholenden Armen, den Oberkörper taktmäßig hebend, die Wellen durchschnitt. Lebhaft interessiert führte sie das Fernglas wieder an die Augen.

»Wer ist es?« fragte ihr Begleiter.

»Ich kann ihn nicht erkennen.«

Sie reichte ihm das Glas. Der Assessor nahm es, ohne, trotz seines Interesses für den aufregenden Vorgang draußen in der See, zu vergessen, die Finger der schönen Frau eine kurze Sekunde lang zart, wie kosend, zu berühren. Angestrengt schaute er in die Weite. Jetzt machte der Schwimmer, der sich mit raschen Schlägen der vorwitzigen Dame näherte, eine Wendung.

»Ist das nicht – jawohl, es ist Doktor Kamberg!« rief der Assessor.

»Unser Bürgermeister Kamberg?«

»Jawohl, gnädige Frau. Ein exzellenter Schwimmer!«

Die junge Studentin, die, immer noch im Gespräch mit ihrem Freunde, den Vorgang bisher nicht beachtet hatte, sprang plötzlich auf ihre Füße und blickte, ihre Augen mit der Rechten beschattend, auf die See hinaus. Auch sie schien von dem Schauspiel, das sich immer dramatischer zuspitzte, stark gefesselt.

»Skandalös!« schalt Siegfried Möller, der Student, der sich neben die Kommilitonin gestellt hatte. »Wie kann sich der Herr unterstehen, nach der Damenbadeanstalt hinüberzuschwimmen!«

Susanne Neudeck antwortete nicht. Vornübergeneigt verfolgte sie in starker Spannung die Bewegungen der beiden Schwimmer. Unter ihrer leichten Battistbluse, die durch zwei Achselbänder mit dem Reformkleid verbunden war, hob und senkte sich die durch kein Schnürleib beengte Brust in schnellem Tempo.

Der Schwimmer, den der Regierungsassessor als Doktor Kamberg bezeichnet hatte, war inzwischen bis ungefähr auf einen Meter Distanz an die noch immer seitwärts schwimmende Dame herangekommen. Erst jetzt erkannte er sie und unwillkürlich schnitt er eine Grimasse. Es war kein anfeuernder schöner Anblick: das grob geschnittene, breite Gesicht mit dem überhebenden, dünkelhaften, ostentativ selbstbewußten Zug und den kleinen, ohne Kneifer blöde, kurzsichtig blickenden Augen. Er kannte sie sehr gut: Fräulein Dr. jur. Anna Möller, war sie doch die Freundin der beiden Schwestern Neudeck, mit denen er während der letzten Wochen viel und gern verkehrt hatte. Die Frauenrechtlerin, die bei jeder Gelegenheit zu beweisen sich bemühte, daß sie sich den Männern in jeder Hinsicht gewachsen, wenn nicht überlegen fühlte, war ihm die unsympathischste Frauenerscheinung, die ihm je im Leben begegnet war. Dennoch – ein Menschenleben war in Gefahr und mit zwei, drei kräftigen Bewegungen brachte er sich an die Seite der Schwimmerin.

»Sie müssen umkehren, Fräulein Doktor!« rief er ihr zu.

Sie wandte ihm empört ihr Gesicht zu.

»Ich muß? Wieso muß ich? Überhaupt, was wollen Sie?«

»Sie müssen umkehren, Sie bringen sich sonst in Gefahr!«

»Und wenn, was geht es Sie an? Für meine Handlungen ist niemand verantwortlich, als ich selber.«

Sie schwamm mit forciert kräftigen Schlägen weiter. Er stieß einen leisen Fluch aus und schwankte eine Sekunde lang, ob er die Eigensinnige nicht lieber ihrem Schicksal überlassen sollte. Doch schon im nächsten Moment hatte er sich auf seine Menschenpflicht besonnen.

»Sie bringen nicht nur sich,« sprach er keuchend, »Sie bringen auch mich in Gefahr.«

»Habe ich Sie gerufen? Warum kehren Sie nicht um?«

»Weil ich mir in den Kopf gesetzt habe, Sie zu retten, wenn Ihre Kräfte Sie verlassen.«

Sie stieß einen Zornesruf aus.

»Da können Sie lange warten. Ich lasse mir keinen fremden Willen aufzwingen.«

Sie schwammen eine Weile still nebeneinander. Da ertönten wieder grelle Pfiffe von der Badeanstalt her.

»Was ist das?« fragte die Schwimmerin, den Kopf wendend.

»Das Warnungssignal der Badefrau, die Sie um ihre Stellung bringen, falls ein Unglück passiert.«

Sie machte plötzlich kehrt.

»Also – um die guten Leute zu beruhigen!«

Er lächelte spöttisch, denn er bemerkte wohl, wie ihre Atemzüge immer kürzer, ihre Bewegungen immer schwächer wurden. Zum Glück sah er jetzt, wie ein Boot, das offenbar von der Badeanstalt abgelassen war und das von zwei Ruderern bedient wurde, wie eine Möwe über die Wellen schoß und sich ihnen näherte. Es war die höchste Zeit. Seine Begleiterin ließ plötzlich einen schwachen Schrei hören. Rasch hatte er sie mit dem einen Arm umschlungen, während er mit dem andern kräftig weiterruderte. Sie half nur schwach und war offenbar am Ende ihrer Kräfte angelangt. Ein paarmal tauchten sie unter, aber er brachte sie und sich jedesmal wieder mit verzweifelter Kraftanstrengung an die Oberfläche. Endlich hatten die Retter sie erreicht.

»Vorsichtig!« rief der eine der Ruderer, der Bademeister von der Herrenbadeanstalt. »So!«

Bürgermeister Kamberg hielt sich mit der einen Hand an dem Bootsrande fest, während die beiden Männer die Dame, die wieder ihre selbstbewußte Miene aufsteckte und sich die Bemühungen ihrer Helfer nur unwillig gefallen zu lassen schien, behutsam in das Boot zogen. Dann schwang sich auch der Schwimmer mit Unterstützung der Ruderer hinauf und die Rückfahrt wurde angetreten.

»Wie konnten Sie nur, Fräulein?« tadelte der Bademeister, sich wieder forsch in die Ruder legend. »Haben Sie denn das Pfeifen der Badefrau nicht gehört?«

Aber es zeigte sich, daß auch das Fräulein Doktor noch nicht ganz alle Schwächen ihres Geschlechts abgestreift hatte, denn sie fiel plötzlich bewußtlos in die Arme ihres Retters und schloß die Augen.

Am Strande und an den beiden Badeanstalten hatte sich inzwischen eine große Menschenmenge angesammelt. Niemand wußte noch, wer die unvorsichtige Schwimmerin gewesen, während der Name des Bürgermeisters von Mund zu Mund ging. Als die Ruderer zuerst an der Damenbadeanstalt anlegten, empfing den mutigen Retter ein brausendes, begeistertes »Hoch«. Aber er achtete nicht darauf, sondern trug mit starken Armen die Gerettete, die ihre Ohnmacht noch nicht ganz überwunden hatte, die Treppe hinauf. Hier übernahm sie die Badefrau, die halb ärgerlich, halb froh ihrer Aufregung Luft machte. Er selbst kehrte in das Boot zurück, um sich nach der Herrenbadeanstalt rudern zu lassen.

Als er zehn Minuten später angekleidet den Strand betrat, brachte man ihm eine abermalige Ovation dar. Er grüßte flüchtig und eilte schnell vorwärts, bis Frau Portig und Regierungsassessor von Wernitz, die ihm entgegenkamen, seine Schritte hemmten.

Die schöne Frau reichte ihm enthusiastisch beide Hände.

»Bravo, Herr Doktor«, lobte sie. »Bravo! Es war bewundernswert!«

»Eine mutige Tat!« pflichtete der Assessor bei. »Ich beneide Sie, Herr Bürgermeister.«

Der Gepriesene streifte mit einem etwas spöttischen Blick den elegant gekleideten Lebemann, an dessen rechtem Armgelenk eine goldene Kette funkelte. Auch Fräulein Dr. Ella Neudeck näherte sich dem kühnen Retter. In den harten Zügen, die in ihren Linien nicht unschön waren, denen aber jahrelange nüchterne Denkarbeit und eine strenge, asketisch engherzige Lebensauffassung jeden zarten weiblichen Schmelz abgestreift hatte, kämpften verletzte Prüderie, beleidigtes weibliches Selbstgefühl mit unwillkürlicher Anerkennung.

»Konnte die Unvorsichtige nicht aus eigener Kraft ans Land?«

»Sie hatte sich wohl etwas zu weit hinausgewagt«, beschied er. »Die Kräfte verließen sie zuletzt.«

»Wir haben eine Todesangst ausgestanden«, äußerte die schöne Frau Portig mit seelenvollem Blick. »Zweimal sah ich Sie untergehen und glaubte Sie schon verloren. Mir klopft das Herz noch immer wie –«

»Wer war denn die Dame?« unterbrach die Frauenrechtlerin schroff den Gefühlsausbruch.

»Fräulein Doktor Möller.«

Der Student, der mit seiner Kommilitonin eben herankam, erschrak.

»Anna?« rief er ungläubig.

»Jawohl, Ihr Fräulein Schwester.«

Siegfried Möller stand betroffen, unentschlossen.

»Sie hat keinen Schaden genommen«, beruhigte der Retter.

Der Student ging langsam, zögernd, in Begleitung Ella Neudecks davon. Es schien ihm Überwindung zu kosten, die gesetzlich und moralisch gebotene Zurückhaltung vor der Annäherung an die Damenbadeanstalt außer acht zu lassen.

»Wollen Sie sich nicht ein wenig ausruhen, Herr Doktor?« forderte die schöne Frau Portig mit fast zärtlich klingender Stimme auf, und wies nach ihrem Strandkorb, während ihre Blicke mit Wohlgefallen auf dem tief gebräunten, von einem kurzen Vollbart umrahmten energisch geschnittenen Gesicht und auf der kraftvollen, über Mittelgröße hinausragenden Gestalt des Retters ruhten.

Bürgermeister Kamberg dankte mit einer höflichen Geste. Seine Augen hefteten sich auf die Studentin, die ein paar Schritte abseits stand. Was ging in ihr vor? Ihr Gesicht, in dem ihm doch jeder Zug während der letzten Wochen so bekannt geworden war, schien plötzlich ganz verändert. Es war wie rosig durchleuchtet, und eine tiefe Bewegung arbeitete sichtlich in den gespannten Mienen. Ihre Blicke hingen unverwandt mit einem strahlenden, verzückten Ausdruck an ihm, der sein Herz hochaufklopfen machte und der ihm der süßeste Dank dünkte für die eben vollbrachte Tat. In ihrer Haltung prägte sich eine echt mädchenhafte Scheu und Schüchternheit aus, die jetzt von einem anderen stärkeren Gefühl verdrängt zu werden schien, denn sie ging ihm mit einem Male entgegen. Doch zwei Schritte vor ihm stockte ihr Fuß, sie stand wie angewurzelt. Beide Arme hob sie plötzlich, ihr Antlitz verlor jäh alle Farbe – lautlos glitt sie zu Boden.


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