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Zwei Tage später reisten Anna und Siegfried Möller ab, empört über Susanne, die die eine als eine Fahnenflüchtige, der andere als eine unwahrhaftige, leichtfertige Kreatur betrachtete, die ihre eigentliche Natur bisher listig zu verbergen verstanden hatte. Auch das Ehepaar Portig und Regierungsassessor von Wernitz verließen das Seebad, um nach der Bezirksstadt zu ihren Pflichten zurückzukehren. Bürgermeister Dr. Kambergs Urlaub währte noch eine Woche, und da auch Susanne noch durch keine Verpflichtung abgerufen wurde, so war es der Wunsch der beiden Liebenden, sich noch für diese kurze Frist ihres Zusammenseins in der freien ländlichen Umgebung zu erfreuen, die einen ungebundenen Verkehr gestattete. Da die Ferien Fräulein Dr. Ellas, die als Oberlehrerin an den Gymnasialkursen für Mädchen und Frauen angestellt war, sich ihrem Ende nahten, so wurde Frau Kramer, eine ältliche, erfahrene Frau aus der heimischen Universitätsstadt herbeschieden, die den beiden Schwestern das Hauswesen führte und von ihnen »Tante« genannt wurde, obgleich sie nicht in verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihr standen. Die alte Frau war froh, wenn man sie bei ihrem Strickstrumpf oder bei einem Roman in ihrem Strandkorb sitzen ließ, während die beiden leichtfüßigen Verlobten den Strand hinabwanderten und Stellen aufsuchten, wo sie vor neugierigen Augen sicher und mit ihrer Liebe allein waren. Sie hatten ja einander so viel zu sagen. Immer wieder bemühten sie sich, mit aller Ausführlichkeit und Wichtigkeit die Entstehung ihrer Liebe zu ergründen, vom ersten Augenblick an, da sie miteinander bekannt geworden, bis zu jener merkwürdigen Stunde, wo die natürliche und doch unerklärliche Anziehungskraft sie einander hatte finden lassen, und wie sich die Liebe, die konventionelle Zurückhaltung siegreich durchbrechend, an die Oberfläche gerungen hatte. Wenn sie müde waren, lagerten sie sich auf dem weichen, weißen Sande. Sie pflegte zu sitzen, während er sich der Länge nach an ihre Seite niederstreckte; seinen Kopf auf ihren Schoß bettete und abwechselnd zum Himmel empor und in ihre Augen blickte. Sie streichelte seine Stirn und sein Haar, oder bemühte sich, die Farbenzusammensetzung seiner Augen festzustellen oder, dem stummen Flehen seiner Blicke nachgebend, ihre Lippen auf die seinen herniederzusenken.
Susanne, die in ihrem geistiger Arbeit gewidmetem Leben zu denken und zu reflektieren sich gewöhnt hatte, staunte gelegentlich in einsamen Stunden über die Verwandlung, die mit ihr vorgegangen war. Wie sie ganz in dem gedankenlosen Müßiggang, in dem losen Spiel der Liebe aufging! Wenn sie ab und zu an ihr früheres Leben zurückdachte, durchfröstelte es sie jedesmal. Fünf Stunden Kolleg Tag für Tag, eine Stunde Spaziergang, die ganze übrige Zeit im engen, dumpfen Zimmer trocknem, ernstem Studium gewidmet. Dazwischen ernste Gespräche mit ihrer Schwester und den befreundeten Geschwistern Möller und deren Freundinnen über wissenschaftliche Gegenstände oder Fragen der Frauenemanzipation. Hie und da Besuch einer Frauenversammlung oder einer Sitzung des Vorstandes des Vereins für Frauenrecht, den Anna Möller begründet hatte. Und mit welchem Eifer, mit welcher inneren Hingabe, mit welchem selbstzufriedenen Stolz sie all das betrieben hatte! Und jetzt – sie faßte sich verwundert, lächelnd an den Kopf – jetzt lag das alles so fern hinter ihr und erschien ihr so unwichtig und überflüssig und so unendlich trocken und kalt. Wie ganz anders war ihr Leben heute! So warm, so wohlig, so frischquellend, so natürlich! Und dieses erquickende, sie in allen Fibern und Nerven durchströmende Gefühl des Vollbefriedigtseins, dieses sprudelnde Glück, diese himmelhochjauchzende Seligkeit – nicht annähernd hatte sie das früher kennen gelernt. War damit etwa die karge Genugtuung zu vergleichen, die sie empfunden hatte, wenn sie in der Schule eine gute Zensur erhalten oder wenn einer der Prozessoren sie belobte? Wie ernst und gemessen sie mit ihrer Studentenmappe unter dem Arm durch die Straßen der Stadt gewandelt war! Jetzt sprang sie ausgelassen und übermütig wie ein Kind herum, den ganzen Tag hätte sie lachen und singen und jubeln mögen. Und eine Kraft, eine Elastizität, eine Frische fühlte sie in sich, als hätte sie eine Verjüngungskur mit vollstem Erfolge durchgemacht. Ja, sie ertappte sich zuweilen auf Anwandlungen kindlicher Koketterie, über die sie früher bei anderen nicht genug hatte spötteln können. Nach eingehender Besprechung mit »Tante Krämer« und verschiedenen praktischen Versuchen vor dem Spiegel hatte sie eine andere Frisur gefunden, die sie, wie sie meinte, viel besser kleidete und ihrem Gesicht mehr Jugendlichkeit und Flottheit verlieh. Jeden Morgen wurde ernsthaft beratschlagt, welches Kleid anzulegen sei und hie und da wurde, soweit es möglich war, mit Bändern, Rüschen und neuer Garnierung nachgeholfen und aufgefrischt. Und weil er einmal gesagt hatte, daß ihre Grübchen in den Wangen ihr etwas hinreißend Liebliches, geradezu Unwiderstehliches gaben, gewöhnte sie sich zu lächeln, auch ohne daß ein besonderer Anlaß dazu vorhanden war. Ohne daß es der Reflexion und einer bewußten Absicht bedurft hätte, wandte sie instinktiv allerlei kleine Mittelchen an, um seiner Zärtlichkeit immer neue Anregung zu geben. So griff sie oft mit rascher Hand in den Sand und warf die feinen Körnchen nach ihm, weil sie wußte, daß er sie dann mit einer Flut von Küssen »strafen« würde. Oder sie wich ihm aus, wenn er seinen Arm auf den ihren legen wollte, und lief, ihr Kleid raffend, mit bewußt-anmutigen Bewegungen vor ihm davon, denn niemals preßte er sie stürmischer an sich und küßte sie leidenschaftlicher, inniger, als wenn ein wildes Hin- und Herjagen sein Blut in Wallung gebracht hatte.
Nur ein einziges Mal hatte sie von ihren früheren Idealen und ihrem ehemaligen Streben zu sprechen begonnen, da hatte er ihr lachend den Mund geschlossen. »Das ist ja alles Unsinn!« hatte er drastisch gesagt. »Für mich besteht die ganze Frauenfrage darin, daß jedes Mädchen den rechten Mann findet. Ist das geschehen, dann sind nach meiner Ansicht alle Fragen für die Frau gelöst.«
»Und wenn sie den nicht findet?« hatte sie eingeworfen.
»Dann freilich«, hatte er ernst erwidert, »muß sie, wenn ihre Verhältnisse ihr nicht erlauben, sich der Familie zu widmen, in einer Berufsarbeit ihren Unterhalt suchen, meinetwegen auch als Oberlehrerin, als Beamtin oder gar als Ärztin und Juristin, wenn ihre Fähigkeiten und Kräfte dazu ausreichen. Aber ein Notbehelf ist's doch nur, und bedauernswert ist solche Unglückliche immer, die ihrer weiblichen Natur Zwang antun und mit den Männern im Kampf ums Dasein konkurrieren muß.«
Susanne hatte nichts zu entgegnen gewußt, denn sie hatte es ja in ihrem Innersten empfunden, wie recht er hatte. Sie fühlte es ja jeden Tag, jede Stunde überzeugter, wie die Liebe ihrem Leben neue Impulse gab, ungeahnte Glücksmöglichkeiten erschloß und sie seelisch so gänzlich ausfüllte, daß nichts mehr zu wünschen übrigblieb. Und der Gedanke, ihr Verlöbnis aufzugeben und der Ehe entsagen zu sollen, die sie vielleicht in ein Abhängigkeitsverhältnis von dem Mann brachte und wieder zu ihrem Studium zurückzukehren, um sich dereinst ganz ungehemmt dem Beruf der Lehrerin zu widmen, erschien ihr so unnatürlich und absurd, daß sie nur darüber lachen konnte. Im übrigen fürchtete sie sich gar nicht vor der Abhängigkeit und den Fesseln der Ehe, von denen Anna Möller und ihre Gesinnungsgenossinnen immer mit soviel Abscheu und Verachtung gesprochen hatten. Sie sah es ja, daß der Mann ihrer Liebe gar keine Anlagen zum Tyrannen hatte und gar nicht daran dachte, ihr in irgendeiner Hinsicht seinen Willen aufzuzwingen und sie in ihren Wünschen und Neigungen zu behindern. Im Gegenteil, er zeigte sich so liebenswürdig und entgegenkommend, so nachgiebig und feinfühlig und tat alles, wovon er annahm, daß es ihr angenehm sein konnte, so daß ihre Liebe, ihre Dankbarkeit und Achtung sich beständig vertiefte und verstärkte. Es rührte und beglückte sie aufs tiefste, wenn sie wahrnahm, welche hingebende, verständnisvolle Aufmerksamkeit er ihren feinsten Seelenbewegungen widmete. Wenn sie kaum sichtbar die Augenbrauen zusammenzog oder der flüchtige Schatten einer unbehaglichen Empfindung über ihr Antlitz huschte, so oft das Bellen eines Hundes oder eine überlaute, geräuschvolle Lebensäußerung eines Nachbarn am Strande ihre Nerven irritierte, erhob er sich sofort, um eine andere, ruhigere Stelle auszusuchen, wo nichts Mißtöniges, Grelles ihren Austausch zärtlicher Gedanken und Worte, ihre gegenseitige Versunkenheit störte. Seine Stimme hatte einen weicheren, zärtlicheren Klang angenommen, seine Ausdrucksweise war eine mildere und zugleich reichere, von zarten Gefühlstönen beseelte geworden. Auch in anderen, mehr äußerlichen Dingen strebte er sich ihr anzupassen, so hatte er das Rauchen in ihrer Gegenwart aufgegeben, weil sie einmal instinktiv ihr Gesicht abgewendet und gehüstelt hatte. Fing sie bei ihren täglichen Spaziergängen an zu ermüden, so lagerte er sich sofort, wenn es ihm auch bei seinem Bedürfnis nach einer stärkeren körperlichen Bewegung eine geheime Überwindung kostete.
Natürlich strebte auch sie, seinen Eigenheiten nachzuspüren und entgegenzukommen und ein Vergnügen und frohe Genugtuung darin zu finden, sich ihm unterzuordnen und seiner Behaglichkeit und seinen Gewohnheiten und Neigungen das Opfer persönlicher Selbstentäußerung zu bringen. Die schönsten Stunden des Tages waren es für sie, wenn er des Nachmittags zu ihnen kam, um den Kaffee bei ihnen zu trinken und sie zum Spaziergang abzuholen. Da entdeckte sie einen Zug in sich, von dessen Vorhandensein sie bisher nicht das geringste gespürt hatte: die Hausfrauennatur, die wohl in jedem weiblichen Wesen schlummern mochte. Sie litt nicht, daß ihre Tante dem Gast den Kaffee einschenkte, sie tat es selbst mit ebensoviel Eifer und Selbstzufriedenheit wie Anmut. Sie goß ihm Milch in den Kaffee und legte ihm Zucker hinein, gerade soviel, wie sie wußte, daß er es gern hatte. Und sie zog ihm die Zigarrentasche aus dem Rock, knipste die Spitze ab, hielt ihm das entzündete Streichholz hin und bat und schmeichelte, bis er ihr nachgab, seit sie von ihm in Erfahrung gebracht, daß es zu seinen lange gehegten Gewohnheiten gehörte, zum Nachmittagskaffee zu rauchen.
So bemühte sich jeder in dem Rausche und Hochgefühl des bräutlichen Glücks, dem anderen zu Gefallen zu leben und sich ihm angenehm und opferwillig zu erweisen, um den verklärenden Schimmer innigster Zufriedenheit und strahlenden Glücksgefühls in dem Antlitz des anderen hervorzuzaubern. Jeder entfaltete seine Vorzüge und den ganzen Schatz der ihm möglichen Liebenswürdigkeit, und es war ein beständiger Wettkampf der Hingabe und Aufopferung zwischen ihnen.
Auch über ernste Gegenstände sprachen sie, wenn auch nicht über die Frauenfrage. Er schlug gelegentlich ein politisches oder ein soziales Thema an und entwickelte ihr seine Ansichten. Sie hörte ihm mit andächtigem Interesse zu, obgleich ihre eigenen von der Schwester und Anna Möller übernommenen Meinungen viel entschiedener und radikaler waren. Sein Hinweis, daß die Zustände und Einrichtungen ihre historische Berechtigung hätten und nur in allmählicher, maßvoller Umbildung geändert werden könnten, erschien ihr so logisch und gerecht, daß, ihr die bis dahin verfochtenen Grundsätze übertrieben und unhaltbar dünkten. Es lag ohnedies ein großer Genuß für sie darin, seiner klangvollen Stimme zu lauschen, die so eindringlich und überzeugend auf sie wirkte, und zu beobachten, wie der Eifer und die innere Wärme, die ihn beseelte, seine Augen intensiver leuchten ließ und seinem geistig belebten, männlich schönen Antlitz einen hinreißenden Zauber verlieh. Alles, was er sagte, erschien ihr bedeutend und so zwingend, daß sich ihre Ansichten von selbst nach den seinen umformten. Auch in allen anderen Beziehungen, in Fragen allgemeiner Kultur, in Kunst und Literatur lernte sie mit seinen Augen zu sehen, und so entstand auch geistig eine volle Harmonie zwischen ihnen, die durch keinen Mißton getrübt wurde. Schließlich führte er sie auch in den Pflichtkreis seines Berufes ein und schilderte ihr den ganzen Geschäftsgang in der Verwaltung einer Stadt und welche speziellen Arbeiten ihm als zweiten Bürgermeister oblagen. Und obgleich alles das eigentlich trockne und ihr gänzlich fremde Materien waren, so dünkte ihr das doch alles so interessant und wissenswert, daß sie ihm von Herzen dankbar war für die Erweiterung ihres geistigen Gesichtskreises.
Endlich kam der Tag der Trennung. Sie hatten sich so aneinander gewöhnt und so innig ineinander eingelebt, daß es ihnen beinahe unmöglich erschien, das Leben einer ohne den anderen fortzuführen. Freilich, die Gewißheit, in wenigen Monaten – sie waren übereingekommen, im November zu heiraten – für immer vereint zu sein und das ganze volle Glück steter innigster Gemeinschaft zu erleben, half ihnen über die große schmerzliche Erschütterung hinweg. Dennoch war die Leere der ersten Tage nach der Trennung besonders für Susanne fast unerträglich, und eine ihr bis dahin unbekannte nervöse Reizbarkeit und Sentimentalität ließ sie in den ersten Tagen die kühle Teilnahmlosigkeit ihrer Schwester und die geringschätzigen, fast feindseligen Blicke Anna und Siegfried Völlers doppelt schmerzlich empfinden. Ein wahrer Trost war es ihr, daß »Tante Krämer« ihrem Gemütszustand mit fast mütterlicher Feinfühligkeit und Herzlichkeit Rechnung trug, indem sie, so oft sie beide allein waren, von dem Abwesenden zu sprechen begann, seine äußere Erscheinung und seine guten Eigenschaften mit beredten Worten rühmte und Susannes bevorstehende Zukunft an der Seite eines solchen Mannes in rosigen Farben schilderte. Dazu kam, daß die Herstellung der Ausstattung, die bald nach der Rückkehr aus dem Bade in Angriff genommen wurde, Susannes ganzes Interesse in Anspruch nahm. Schneiderin und Weißnäherin wurden ins Haus genommen, große Beratungen wurden mit »Tante Kramer« und den verschiedenen Lieferanten abgehalten und eine emsige Tätigkeit herrschte vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Die klappernde Nähmaschine und die nimmer rastenden Zünglein der gesprächigen Frauen machten sich jetzt laut in dem Raum, der sonst nur stille geistige Tätigkeit gesehen hatte. Susanne bedauerte zum erstenmal, daß sie so gar keine Übung in weiblicher Handarbeit besaß; sie mußte sich begnügen, zuzusehen oder sich durch allerlei einfache Handreichungen nützlich zu machen. Nie fiel es ihr ein, eines von den Büchern, denen sie früher soviel Zeit und geistige Kraft gewidmet, in die Hand zu nehmen. Sie hatte auch nicht das mindeste Verlangen danach. Viel nötiger erschien es ihr, die Herstellung der verschiedenen Arten der Hauswäsche zu überwachen, die für ihren künftigen Haushalt angefertigt wurden und sich mit »Tante Kramer« und der Näherin ernsthaft über die wichtige Frage auseinanderzusetzen, ob die Leibwäsche mit Madeirastickerei oder mit Valencienner Spitzen garniert werden solle. An den Versammlungen und Komiteesitzungen des Frauenrechtsbundes, die sie früher regelmäßig mit großem Eifer besucht hatte, nahm sie nicht ein einziges Wal mehr teil, obgleich sie es sich aus Rücksicht auf ihre Schwester und Anna Möller ein paarmal vorgenommen hatte. Aber sie fühlte sich abends immer so sehr ermüdet, daß ihr fast die Augen zufielen. Auch war die Vorstellung, Anna Möllers scharfe, durchdringende Stimme und ihre teils satirischen, teils maßlos radikalen Ausführungen zu hören, nichts weniger als anregend und verlockend. In ihrem gegenwärtigen Gemütszustand, ganz erfüllt von dem Glück der letzten Vergangenheit und den Bildern der Zukunft, schien ihr die Frage der Erweiterung der Frauenrechte viel weniger dringlich und wichtig, als die Sorge für eine möglichst reichliche und komfortable Ausstattung des Heims, das sie mit ihrem künftigen Gatten teilen würde. Auch die Empfindung, daß sie nicht im Sinne ihres Verlobten handeln würde, trug dazu bei, ihre Unlust, die Zusammenkünfte der Frauenrechtlerinnen zu besuchen, noch zu steigern. In ihrer Phantasie lebte sie ja beständig mit ihm; sie hörte seine Stimme, sah sein ausdrucksvolles, jede Regung der Seele und des Geistes widerspiegelndes Gesicht und das instinktive Bestreben, in allem seine Zufriedenheit zu erwerben, beherrschte ihre Handlungen und Gedanken. Und gerade die stillen Abendstunden, wenn die Schneiderinnen gegangen waren und »Tante Kramer« sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, waren den Gedanken an den fernen Geliebten gewidmet.
Ihre einzige geistige Arbeit war es, seine Briefe zu lesen und zu beantworten. Auch in seinen brieflichen Äußerungen nahm die Erinnerung an die gemeinsam verlebte unvergleichlich schöne Zeit, einen großen Raum ein, das größte Entzücken aber und die süßeste Befriedigung gewährten ihr die zärtlichen Kosenamen, die er ihr in seinen Briefen gab und in deren Erfindung er geradezu unerschöpflich war. Und wenn sie las, eine wie große Bedeutung sie bereits für sein Leben besaß und wie sehr die Liebe zu ihr sein Tun und Denken beeinflusse, dann schoß ihr die Glut stolzester, freudigster Erregung in die Wangen.
Mitte November fand die Hochzeit, statt, die in aller Stille und Einfachheit im engsten Kreise gefeiert wurde. Dr. Kamberg hatte sich einen kurzen Urlaub von vierzehn Tagen erwirkt, um mit seiner jungen Frau eine Hochzeitsreise antreten zu können. Italien schien ihnen das rechte Land und das richtige Klima, um in ihm die Flitterwochen der Ehe zu verleben. Alle Süßigkeiten der ersten Wochen ihres Brautstandes kehrten in verstärktem Maße zurück. Wieder strebte einer dem andern Liebes zu erweisen und sein eigenes Empfinden und Wünschen dem des anderen anzubequemen und unterzuordnen. Ganz nur für einander zu leben, ungehemmt durch Rücksichten auf andere und durch die Erfordernisse des Berufslebens und der alltäglichen Sorgen, gemeinsam die Naturschönheiten des reich gesegneten Landes zu genießen und sich an den erlesenen, erhebenden Kunstschätzen zu erfreuen, es war so wunderbar schön und einzig, daß die junge Frau in einem ununterbrochenen Rausche des Entzückens dahinlebte. Nie hatte sie geglaubt, daß es soviel Glück in der Welt gäbe. Sie fühlte sich von einem überströmenden Dankgefühl gegen den Mann erfüllt, der ihr das Menschenglück in seiner vollen Tiefe und Seligkeit erschloß. Sie dachte nicht mehr daran, daß, es eine Zeit gegeben, da ihr Freiheit, Behauptung der Persönlichkeit, Selbständigkeit als Ideal vorgeschwebt. Jetzt war es eine Wonne sich zu schenken, sich ganz hinzugeben mit Leib und Seele, völlig in dem Geliebten unterzutauchen; sie empfand es als ein jauchzendes Glück, nur in ihm zu leben, nichts zu sein als sein Geschöpf, das keinen anderen Willen kannte als den seinen, keine andere Empfindung, als ihm zu gefallen und seine Lust und seine Freude zu sein. Sie hätte es in alle Welt hinausrufen mögen, wie unendlich reich die Liebe in der Ehe machte, wie sie alle Kraft verdoppelte und alles mit ihrem Zauber vergoldete. Törinnen, die in dem Wahn lebten, das Zusammenleben mit dem Manne zöge hinab! Nein, das Gegenteil war wahr: es erhob in himmlische Höhen und verlieh der Empfindung Tiefe und Wert, veredelte jeden Gedanken, jede Seelenregung, breitete über jeden Alltag einen Schimmer und Glanz ohnegleichen ...