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Als Susanne Neudeck ein paar Stunden später bei ihrer Schwester im Zimmer saß, wußte sie nicht, wie sie ihre Seligkeit verbergen sollte. Es war zwischen ihm und ihr abgemacht worden, daß er am anderen Vormittag kommen sollte, um mit ihrer Schwester, die sieben Jahre älter war und gewissermaßen Mutterstelle an ihr vertrat, seit ihre Eltern gestorben waren, zu sprechen.
Es war unendlich schwer, nicht zu jubeln, nicht zu singen, nicht zu jauchzen. Aber es war ihr unmöglich, an einem Platz lange stille zu sitzen. Sie stand auf, trat an das Fenster und lehnte sich weit hinaus und wunderte sich, wie grün das Laub an den Bäumen war, wie intensiv blau der Himmel und wie glückliche, frohe Gesichter alle Menschen, die vorübergingen, machten. Und dann richtete sie sich wieder auf, trat an den Spiegel und betrachtete sich lange und neugierig forschend, als entdeckte sie Eigenschaften an sich, die ihr bis dahin ganz unbekannt gewesen.
»Was hast du denn?« fragte endlich die Schwester, die am Tisch saß und las. »Und warum lächelst du denn in einem fort?«
»Tue ich das?«
Sie errötete und beinahe hätte sie sich verraten. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, mit der Erklärung, daß sie sich verlobt habe, zu warten, bis Eugen Kamberg selbst kommen würde.
Am Abend machten sie eine Promenade am Strande. Die übrigen: ihre Cousine Adele Portig, deren Mann, Regierungsassessor von Wernitz, Siegfried und Anna Möller gesellten sich zu ihnen. Auch er – der Ersehnte, der Geliebte, kam. Sie schritt zwischen ihm und Siegfried, und verstohlen berührten sich die an dem Körper herabhängenden Hände, ihre Finger schlangen sich ineinander und hielten für kurze Sekunden einander fest. Es war so köstlich, dieses stille, geheime Spiel, ohne daß die anderen es merkten und auch nur die leiseste Ahnung davon hatten.
Und als sie später im Bett lag, faltete sie ihre Hände und lächelte selig zur Decke empor, und bevor sie einschlief, flüsterte sie noch einmal seinen Namen.
Als sie am anderen Vormittag aufstand, war noch immer diese Seligkeit, dasselbe Entzücken in ihr. Das Leben schien wie ein Festtag vor ihr zu liegen, voll nimmer endender Freuden. Freilich, als sie mit ihrer Schwester vom Baden nach Hause kam, als die elfte Stunde näher heranrückte, wurde ihr doch etwas beklommen zumut. Wie würde Ella es aufnehmen? Sie frühstückten und die Ältere machte sich fertig zum Ausgehen. Susanne aber ging musternd im Zimmer umher, zupfte hier eine Decke zurecht, rückte dort einen Stuhl und wischte an einer anderen Stelle den von dem Dienstmädchen übersehenen Staub.
»Aber was hast du denn?« fragte Ella, die ihre Strandmütze schon auf dem Haar befestigt hatte. »Erwartest du jemand?«
Susanne nickte. Das Blut schoß ihr jäh ins Gesicht.
»Siegfried?«
»Nein, Dr. Kamberg.«
» Dr. Kamberg? Was will denn der bei uns?«
Susanne nahm all ihren Mut zusammen.
»Er will dir mitteilen, daß wir uns gestern – gestern nachmittag verlobt haben.«
Es war heraus. Tiefes Schweigen folgte dieser gänzlich unerwarteten Erklärung, die auf die andere betäubend wie ein Blitz, wie ein Donnerschlag zu wirken schien.
Sie sah die Jüngere fragend, verständnislos an und schüttelte mit dem Kopf.
»Wer hat sich verlobt?«
»Eugen Kamberg und ich.«
Wenn Susanne erklärt hätte, daß sie künftig statt auf den Füßen auf den Händen gehen wollte, die Ältere hätte nicht überraschter, verwunderter sein können.
»Aber wie kommst du denn darauf?« stieß sie, noch immer in fassungslosem Staunen, heraus.
Susanne lächelte halb verlegen, halb belustigt.
»Aber Ella, ist es denn etwas so Wunderbares, daß sich ein Mädchen in meinen Jahren verlobt?«
Die Ältere antwortete nicht gleich, sondern sah sinnend, überlegend, zögernd vor sich hin. Plötzlich fühlte sie sich umschlungen und der Kopf der Schwester legte sich kindlich, zärtlich an ihre Brust.
Da regte sich auch in der Älteren das warme schwesterliche Gefühl. Sie strich sanft, liebkosend über den Scheitel der Jüngeren.
»Nein, es ist gewiß nichts Wunderbares,« nahm sie endlich das Wort, »die meisten Mädchen verloben und verheiraten sich ja. Aber von dir habe ich es nicht erwartet. Ich habe es immer als selbstverständlich betrachtet, daß du dein Leben der Befreiung der Frau widmen wirst, wie ich es tue und wie Anna Möller es tut.«
Sie sah mit warmen, mitleidigen Blicken auf die an ihr Lehnende hinab. »Armes Kind! Deine jungen, heißen Sinne haben dich überrumpelt und dir wird es ergehen, wie es vielen ergangen ist, wenn der Rausch vorüber ist. Für Mädchen von starkem Individualitätsgefühl, mit eigenem geistigen Streben, wie du, gibt es kein Glück in der Ehe.«
Eine dumpfe, schwere Beklommenheit legte sich auf die Seele der Liebenden. Aber mit heftiger, krampfhafter Anstrengung wehrte sie sich gegen die lähmende Bangigkeit, die ihr jubelndes, sehnsuchtsvolles Mädchenherz bei den warnenden Worten der Schwester durchfröstelte.
»Nein, Ella,« stieß sie, sich aufrichtend, mit zuckenden Lippen, mit blitzenden Augen hervor, »das solltest du nicht sagen, du solltest mir nicht den Glauben an ihn rauben. Ich habe ja ein so grenzenloses Vertrauen zu ihm. Wäre das möglich, wenn er nicht gut, nicht edel wäre?«
Der düstere Ausdruck in den Mienen der Älteren wich jedoch nicht einen Augenblick. Liebevoll und zugleich bekümmert strich sie den blonden Scheitel der andern.
»Natürlich, du glaubst mir nicht. Auch ich war einst so unerfahren und leichtgläubig wie du, bis die große Enttäuschung kam, die keiner denkenden Frau erspart –«
»Du, Ella?« unterbrach die Studentin aufs höchste überrascht und erstaunt und sah die Schwester mit ungläubigen, fragenden Augen an. »Du, Ella, hast du denn auch einmal gelie–?«
Eine heftige, fast zornige Bewegung schnitt der Sprechenden das Wort ab. Die Lippen der Frauenrechtlerin preßten sich fest aufeinander, während zugleich eine seltene, schämige Röte für einen kurzen Moment dem fahlen Teint der schlaffen Züge einen wärmeren Ton verlieh. Ihre Augen wichen dem gespannt auf ihr ruhenden Blick aus. Ein starker, unbesieglicher Widerwille, eine scharfe, schroffe Ablehnung drückte sich in jeder Miene und in ihrer ganzen Haltung aus und schloß jede Hoffnung auf eine intime Aussprache aus.
Susanne fand auch nicht die Zeit zu einem neuen Versuch, ihre Schwester zu weiteren Mitteilungen zu bewegen, denn ein lautes, energisches Klopfen ertönte an der Tür.
Als Dr. Kamberg eine Sekunde später das Zimmer betrat, erkannte er sofort an den bewegten Mienen und an der ganzen Haltung und dem Verhalten der ihm befangen Gegenüberstehenden, daß die Aussprache zwischen den Schwestern bereits stattgefunden hatte. Erleichtert atmete er auf. Sein Antlitz leuchtete und seine Augen strahlten lockend und verlangend zu der Geliebten hinüber; seine Arme erhoben sich instinktiv.
Da konnte sich das junge Mädchen nicht zurückhalten, mit einem Jubelschrei flog sie ihm in die Arme. Vergessen war alles, was die Schwester noch soeben warnend, unheilverkündend geäußert hatte.
Die Frauenrechtlerin biß sich auf die Lippen,daß ihr der Anblick keine Freude und Genugtuung bereitete, drückte sich deutlich in ihren verkniffenen Zügen und in der Bewegung aus, mit der sie jetzt ihr Gesicht abkehrte. Aber die beiden Liebenden nahmen in ihrem hochwogenden Glücksgefühl keine Notiz davon. Zärtlich hielten sie sich umschlungen und verharrten eine Weile in seligem, wortlosem Ineinandertauchen ihrer schimmernden, in feuchtem Glanz schwimmenden Blicke. Endlich wandte der Mann sein Antlitz der dritten Person im Zimmer zu.
»Sie entschuldigen,« sagte er in einem fast übermütigen, das ganze Glücksgefühl seines Herzens kündenden Ton: »ich habe Ihre Einwilligung vorweggenommen. Das Gefühl ist eben stärker als die Überlegung, Sie sehen, wie es uns übermächtig zueinander drängt und Sie werden uns deshalb auch gewiß Ihre Zustimmung nicht versagen.«
»Es würde mir ja auch wenig nützen,« entgegnete die Angeredete resigniert, mit leichter Bitterkeit, »wenn ich mein Veto einlegen würde. Sie würden sich beide wohl darüber hinwegzusetzen wissen. Übrigens ist Susanne majorenn und ich bin nicht berechtigt, ihrem freien Willen entgegenzutreten.«
»Aber ich erkenne Ihnen als der älteren Schwester gern das Recht zu,« versetzte Dr. Kamberg warm, »Auskunft über meine persönlichen Verhältnisse von mir zu verlangen und sich die Überzeugung zu verschaffen, daß ich auch imstande bin, Susanne das Glück, das sie verdient, zu bereiten.«
»Daß Sie die äußeren Bedingungen in vollem Maße erfüllen, davon bin ich auch ohne weitere Erörterungen überzeugt, und ob Sie die innerlichen Eigenschaften besitzen, Susanne glücklich zu machen, das läßt sich ja doch wohl nicht beweisen, das kann ja doch erst die Zukunft lehren. Dagegen möchte ich nicht unterlassen, was meine Schwester wohl in ihrem jugendlichen Überschwang vergessen hat, Sie darauf hinzuweisen, daß Sie auf eine größere Mitgift nicht rechnen –«
»Aber das kümmert mich nicht im geringsten«, fiel der Glückliche lachend, fröhlich ein. »Was nützte es mir, wenn sie bis an den Hals in Gold säße! Nein, das ist es nicht, was ich in meiner zukünftigen Frau suche und in Susanne gefunden zu haben glaube. Es ist die Überzeugung, ja die Gewißheit, daß sie gerade die Eigenschaften besitzt, die ich zur Ergänzung meines Wesens und zu meinem Glück brauche, daß sie eigens von der Natur für mich geschaffen ist.«
Er sah mit seinem von innerster Überzeugung verklärtem und von einem innigen, heiligen Gefühl durchleuchteten Gesicht zu der Frauenrechtlerin hinüber, die ein ironisches Zucken ihrer Gesichtsmuskeln nicht unterdrücken konnte.
»Ich wundere mich,« versetzte sie, »daß kaum vier Wochen genügten, um Ihnen diese Überzeugung zu verschaffen.«
Er stutzte im ersten Moment, ließ aber dann ein fröhliches Auflachen hören.
»Da haben Sie wohl recht, ein Wunder ist's, und ich weiß selber nicht, wie es kam, daß ich ernster, gar nicht auf Liebesabenteuer ausgehender Mann mich in so kurzer Zeit von diesem kleinen Mädchen so ganz bestricken lassen konnte. Er zog die neben ihm Stehende wieder fester an sich heran, beugte sich zu ihr hinab und ihre Seelen flossen in einem langen, langen Kusse ineinander, während die Frauenrechtlerin hustend, sich räuspernd, vor den Spiegel trat, und den Hut, der ihr doch schon auf dem Kopfe saß, noch einmal demonstrativ mit der Nadel feststeckte, um anzudeuten, daß sie es an der Zeit fand, die Zärtlichkeitsausbrüche, die sie sichtlich nervös machten, zu beendigen.