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VII.

Als Susanne sich bald darauf verabschieden wollte, widersprach Frau Paula.

»Nicht doch! Wir kochen uns noch eine schöne Tasse Kaffee und dann – ja, das ist eine Idee! Wollen Sie mich nicht heute abend in den Verein begleiten? Würde Sie das nicht interessieren?«

»Allerdings!« Susannes Augen leuchteten begierig in ehrlichem Interesse auf, aber ein Schatten senkte sich gleich wieder auf ihr Gesicht, und sie ließ kleinmütig den Kopf hängen. »Es geht doch leider nicht.«

»Nicht? Warum denn? ... Ach so, Sie fürchten, Ihr Mann wird es Ihnen nicht erlauben?«

Ein deutlicher Spott klang aus der Stimme der Sprechenden und blitzte aus ihren Augen. Susanne errötete beschämt und protestierte eifrig.

»Nein! Darum handelt es sich nicht. Was könnte er dagegen haben? Aber er würde sich doch beunruhigen, wenn ich ohne jede Mitteilung so lange ausbliebe.«

»Nun, dann werde ich Ihnen einen Vorschlag machen. Gehen Sie also jetzt nach Hause und sagen Sie Ihrem Mann, daß Sie den Abend mit mir verbringen wollen. Dann kommen Sie halb acht spätestens zurück und wir gehen zusammen zum Unterricht. Indes kann ich auch meine Vorbereitung zu Ende bringen.«

Susanne sagte freudig zu und machte sich auf den Heimweg. Eine erwartungsvolle Stimmung zitterte in ihr, das Vorgefühl eines interessanten, anregenden Erlebnisses und das, was seit Wochen und Monaten in ihr geschlummert hatte, fast erloschen zu sein schien, wurde mit einem Male wieder wach: der Sinn für geistige, ideale Interessen.

Freilich, je näher sie ihrem Hause kam, desto mehr verflüchtigte sich die innere Gehobenheit. Was würde Eugen sagen? Sie hatte wohl bemerkt, wenn er auch nichts geäußert hatte, daß sich seine Stirn unmutig gekraust hatte, als sie ihm von ihrem Vorhaben gesprochen hatte, die Frau des Redakteurs der »Volksstimme« zu besuchen.

Als sie nun mit klaffendem Herzen die Wohnung betrat, war er noch nicht von der Magistratssitzung zurück. Sie wartete ungeduldig in zunehmender Nervosität. Wie sollte sie sich verhalten, wenn er sie bat zu Hause zu bleiben, ja. wenn er vielleicht ihrem Wunsch ernstlich widersprach? Das Herz schlug ihr immer heftiger und banger. Doch Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, ohne daß er erschien, und sie mußte sich endlich entscheiden, ob sie ohne ihres Mannes Einwilligung gehen oder ob sie verzichten und bei Frau Paula absagen lassen sollte.

Unentschlossen schritt sie im Zimmer auf und ab. Was tun? Sollte sie sich vor ihren neuen Freunden lächerlich machen, indem sie sich wie ein Kind benahm, das ohne Erlaubnis keinen Schritt aus dem Hause zu tun sich getraute? Das Selbstgefühl regte sich in ihr und zugleich eine ungestüme Lust sich geistig zu betätigen. Die eben angeknüpfte Bekanntschaft mit dem Ehepaar Reichelt erschien ihr so wertvoll und versprach noch so anregende interessante Stunden, daß sie die Achtung und das Interesse der beiden hochherzigen, strebsamen, ideal gesinnten Menschen durch ihr Ausbleiben nicht aufs Spiel setzen mochte. Und wie genußvoll versprach nicht der Besuch der Arbeiterinnen-Bildungsschule zu werden! Ja, vielleicht ergab sich auch für sie daraus die Möglichkeit, ihre geistige Kraft und ihr Wissen in den Dienst einer guten Sache zu stellen.

Ganz erfüllt von diesem Gedanken warf sie ein paar eilige Zeilen auf ein Blatt Papier, das sie auf den Tisch im Wohnzimmer legte, so daß der Heimkehrende es sogleich finden mußte.

Voll Erwartung betrat sie eine halbe Stunde später an Frau Paula Reichelts Seite das Versammlungslokal der Arbeiterinnen-Bildungsschule, das Extrazimmer eines bescheidenen kleinen Restaurants. Etwa zwanzig Mädchen und Frauen, von denen die jüngste kaum achtzehnjährig schien, die älteste das vierzigste Lebensjahr gewiß schon überschritten hatte, waren anwesend und begrüßten ihre Lehrerin mit einem Gemisch von zutraulicher Herzlichkeit und achtungsvollem Respekt.

Als Frau Paula ihre Begleiterin mit den Worten: »Eine gute Freundin von mir, frühere Studentin –« vorstellte, richteten sich aller Augen voll Neugier und sichtlicher Bewunderung auf die befangen Errötende.

Darauf nahmen alle auf Stühlen Platz, Susanne unter den Schülerinnen, und Frau Paula begann ihren Vortrag. Heute war Literaturstunde, an anderen Abenden wurde außerdem im Schreiben und Rechnen unterrichtet und Geschichte, Naturkunde sowie etwas Nationalökonomie gelehrt.

Susanne hatte im Anfang mit einer ablenkenden Zerstreutheit zu kämpfen, in die die ungewohnte Situation und die verschiedenen Empfindungen, die auf sie einstürmten, sie versetzten. Zum erstenmal in ihrem Leben saß sie zwischen einfachen Frauen, die augenscheinlich zum größten Teil den niedrigsten Volksschichten angehörten und deren Kleidern jener undefinierbare Arme- Leute-Geruch entströmte, der sich aus dem engen Zusammenwohnen vieler Menschen in schlecht gelüfteten Räumen, aus Mangel an Reinlichkeit und dem langen Tragen ein und derselben Kleidungsstücke erklärte. Aber das Unbehagen, das die Hospitantin während der ersten Minuten beschlich, verschwand bald unter anderen Eindrücken, die sich ihrer ganz bemächtigten und sie unempfindlich für äußere Einflüsse machten. Die Frau zu ihrer Rechten war, wenn auch sauber, so doch sehr dürftig gekleidet; ihr Gesicht zeigte deutliche Spuren des abstumpfenden, verbitternden und verhärmenden Kampfes ums Dasein, ihre Finger waren abgearbeitet und zerstochen. Wahrscheinlich eine Mäntelnäherin, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend der schwersten, körperlich aufreibenden Arbeit oblag und die nun Müdigkeit und Sorgen zurückdrängte und besiegte, um sich ein paar Körner des Wissens, das ihr eine harte Kindheit und Jugend nicht vergönnt hatte, aufzupicken und das Sehnen ihrer Seele nach Aufrichtung und Erhebung, die ihr der wahrscheinlich verlorene Kinderglaube nicht zu gewähren vermochte, zu stillen. Aber die groben, bekümmerten Züge breitete sich mehr und mehr der verklärende Schein geistiger Anregung, seelischer Versunkenheit, die sie dem Jammer des bitteren Lebens entrückte und in die höheren reineren Sphären idealer Genüsse trug.

Zu ihrer Linken saß ein noch jüngeres, besser gekleidetes Mädchen. Ihre Gesichtszüge hatten einen feineren Schnitt, aber ein körperliches Gebrechen der kleinen schmächtigen Gestalt, ein entstellender Höcker beeinträchtigte stark die sympathische Wirkung ihrer sonstigen Erscheinung. Das von der Natur so stiefmütterlich bedachte oder vielleicht infolge eines körperlichen Unfalles mißgestaltete arme Geschöpf schien sich hier für den Mangel an Freuden und Genüssen zu entschädigen, die andere junge Mädchen ihres Alters und Standes in der Liebe und auf Tanzböden und anderen geselligen Veranstaltungen fanden. Sie schien die lernbegierigste von allen und saß weit vornübergeneigt, die glänzenden Augen auf die Vortragende gerichtet und mit wahrer Andacht ihren Worten lauschend.

Nur einige wenige unter den jungen Zuhörerinnen legten sich bequem in ihre Stühle zurück und zeigten uninteressierte, wenn nicht gar gelangweilte Mienen. Die meisten aber standen ganz im Bann der Vortragenden und gaben sich mit ganzer Seele und der naiven Begeisterung einfacher, leicht empfänglicher Gemüter dem Gegenstand des Vortrags hin.

Frau Paula sprach über die klassische Periode der deutschen Literatur und schilderte eingehend, in schlichter, populärer, dem Verständnis der Zuhörerinnen angepaßter Weise und in fesselnden Einzelbildern das Weimarer Geistesleben zur Zeit Goethes und Schillers. Sie plauderte über ihren anregenden, sich gegenseitig dichterisch befruchtenden Verkehr und hob die charakteristischen Unterschiede in der Veranlagung und den Dichtungen der beiden Geistesheroen hervor und gab auch einige Einzelheiten über die persönlichen Schicksale und Verhältnisse Goethes und Schillers und ihrer Familien und Freunde, die die Frauen und Mädchen aus dem Volk natürlich besonders interessierten.

Die Gesichter der Zuhörerinnen strahlten in immer glühenderer, begeisterterer Anteilnahme, ihre Augen leuchteten immer glänzender und verzückter. Auch in einzelnen Ausrufen und in lebhaften Fragen, die die Schülerinnen an die Lehrerin richteten, so oft dieselbe sich eine kurze Pause gestattete, machte sich der hingebende Eifer und der steigende Enthusiasmus Luft.

Am bewegtesten aber war wohl die Seele der jungen Frau Bürgermeister, für die das alles ein ebenso ungewöhnliches, wie tief ergreifendes Erlebnis war. Die aus Hunger nach Bildung, aus einem religiösen Bedürfnis nach seelischer Läuterung und Erhebung quellende ehrliche andachtsvolle Hingabe dieser armen, abgearbeiteten, in der Not des Lebens gehärteten Proletarierinnen rührte sie tief, und der liebevolle Eifer und die feinfühlige und zugleich temperamentvolle Art, mit der die Vortragende die durstenden, schmachtenden Seelen zu fesseln, hinzureißen und ganz zu erfüllen verstand, erweckte ihre uneingeschränkte Bewunderung.

Nach etwa einstündigem Vortrag erhob sich die Nachbarin Susannes, jene ältere arme Frau, die wie eine Mäntelnäherin aussah, um auf Paula Reichelts Aufforderung den Inhalt des Vortrages, so gut sie konnte, wiederzugeben. Wie die geistig Arme, Ungeübte, Befangene mit dem Ausdruck rang, wie ihr die Worte stockend, schwerfällig kamen und die Sätze sich lose, unbeholfen fügten und wie nun der Gegenstand und die in ihr glühende Begeisterung sie allmählich fortriß, wie sich die gebeugte, eckige Gestalt straffer, stolzer, selbstbewußter streckte, wie sie mehr und mehr aus sich herausging und die Perioden immer glatter und schneller flossen, das war so rührend und ergreifend, daß sich die Augen der mit gefalteten Händen, voll Spannung Zuhörenden mit Tränen füllten.

Und als nun Paula Reichelt die Hospitantin bat, eines der unsterblichen Goetheschen Gedichte vorzulesen, da sprang sie freudig auf, nahm den Gedichtband, den die Lehrerin mitgebracht hatte, blätterte eine Weile und trat dann vor die erwartungsvoll zu ihr Aufschauenden. Mit tönender Stimme, sich mehr und mehr erwärmend an den klangvollen Rhythmen, dem edlen Inhalt und an den heller und heller zu ihr aufleuchtenden Blicken, las sie:

»Edel sei der Mensch,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen ...«

Ihre weiche, modulationsfähige Stimme brachte alle Schönheiten der Dichterworte, die in ihrem eigenen Innern widerklangen, zur Geltung. Mit allen Sinnen war sie bei der Sache; der Anblick der verzückten Gesichter, die an ihren Lippen hingen, steigerte ihre Kraft und verlieh ihrem Ausdruck Innigkeit und Glut. Ihr Herz schlug im Gleichtakt mit den begeisterungsfähigen, leicht enthusiasmierten Herzen der schlichten Arbeiterinnen, und ihre Seele mischte sich mit den schwelgenden, entzückten, weihevoll gestimmten, gläubigen Seelen der Proletarierinnen, vor denen sich eine höhere Welt auftat, in der es keine Dürftigkeit und Niedrigkeit, kein Leiden und Entbehren, nichts Häßliches und Niederziehendes gab, sondern nur Schönheit und Hoheit, nur Glanz und Herrlichkeit, nur Güte und Liebe.

»Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff' er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen!«


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