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Am anderen Tage erinnerte sich Susanne mit einer peinlichen Empfindung des Versprechens, das sie Frau Paula Reichelt und den Schülerinnen und Mitgliedern der Arbeiterinnenbildungsschule gegeben hatte. Sie hatte ihrem Mann noch gar nichts davon gesagt und nach dem, was er gestern bei ihrem Nachhausekommen geäußert hatte, wagte sie auch jetzt nicht, auf ihr Vorhaben, den Arbeiterinnen einen Vortrag zu halten, zurückzukommen. Mit stillem Bedauern sagte sie sich, daß ihr nichts übrigbliebe, als abzusagen. Ihr erster Entschluß war, unter irgendeinem Vorwande abzuschreiben, aber sie schämte sich, das Ehepaar, das ihr mit ehrlichem Freimut, mit so ungekünstelter Offenheit und Herzlichkeit entgegengekommen war, durch eine feige, frivole Lüge zu täuschen. Und so teilte sie Frau Paula in einem längeren Schreiben mit, daß zwingende Rücksichten sie leider verhinderten, ihr Versprechen einzulösen.
Vergebens wartete sie auf ein paar bedauernde und tröstende Zeilen. Paula Reichelt ließ nichts von sich hören. »Das Schweigen der Verachtung!« sagte sich Susanne, und eine heiße Scham, ein stachelnder Schmerz durchzuckte sie.
Als sie Frau Paula ein paar Tage später auf der Straße begegnete, eilte sie auf sie zu, obgleich die andere tat, als sähe sie sie nicht und offenbar ohne Gruß vorüber wollte.
»Sie sind mir doch nicht böse, liebe Frau Reichelt?« fragte sie herzlich.
»Böse?« Die ihr Gegenüberstehende sah sie mit einem ungewissen, halb schmerzlichen, halb zürnenden Blick an. »Allerdings, ich habe, offen gestanden, von Ihnen etwas anderes erwartet.«
»Etwas anderes? Aber was hätten Sie denn in meiner Lage getan?«
»Das fragen Sie noch? Sie kennen doch meine Ansichten. Ich hätte mir einfach von meinem Mann verbeten, sich in meine eigensten Angelegenheiten zu mischen. Näher als mein Mann stehe ich mir selber.«
»Aber wenn es dann zum Konflikt gekommen wäre?«
Die Frau des Redakteurs zuckte mit ihren Schultern, und ein Zug trotziger, fanatischer Energie prägte sich um ihre Mundwinkel aus.
»Dann hätte ich eben die Konsequenzen gezogen. Ich lasse mir von keinem Menschen etwas befehlen, auch von meinem Manne nicht. Wenn ich als freier Mensch, als mein eigner Herr nicht neben ihm leben kann, dann eben ohne ihn. Da gibt's für mich kein Besinnen.«
Ein stilles Frösteln und Schaudern rann durch den Körper der Zuhörenden, und sie wußte nicht, sollte sie über die vor ihr Stehende den Kopf schütteln oder sollte sie sie bewundern. Das freilich empfand sie klar, als sie sich nach einigen weiteren gezwungenen Reden getrennt hatten, daß die Anschauungen der anderen für sie keine Geltung haben konnten. Ohne Eugen leben – hieße das nicht das Köstlichste, Süßeste aus ihrem Leben streichen?
Mit um so größerem Eifer widmete sich Susanne der Ausführung der Idee, die ihr Mann in ihr angeregt hatte. Er ließ ein Zirkular, das sie zusammen aufgesetzt hatten, vervielfältigen, und sie sandten es an eine größere Anzahl von Damen der besseren Gesellschaftskreise der Stadt. Die ihr bekannten Familien suchte Susanne persönlich auf. Die Väter und Mütter hatten nichts dagegen, wenn auch einige der älteren Herrschaften ihre Ausführungen mit skeptischem Lächeln anhörten. Die jungen Damen erklärten sich meist mit dem Feuereifer und dem Enthusiasmus bereit, die junge Leute, besonders weiblichen Geschlechts, allem Neuen, Außergewöhnlichen entgegenbringen.
Man kam sich so wichtig und so modern vor. Frauenbildung, Frauenstudium – das war ja das Neuste, Modernste, das war geradezu fashion! Da konnte man sich doch nicht ausschließen, wollte man nicht altmodisch, zurückgeblieben erscheinen. Die jungen Damen freuten sich schon, künftig auf Bällen und gesellschaftlichen Veranstaltungen ihren Tänzern mit den Kenntnissen zu imponieren, die sie sich bei den wissenschaftlichen Vorträgen aneignen würden.
Auch ihre Cousine, Adele Portig, suchte Susanne auf. Die schöne Frau nickte sogleich zustimmend.
»Gewiß. Mache ich mit. Ich bin immer dabei, wenn es eine neue Unterhaltung gibt. Nur mußt du die Vorträge so legen, daß man nichts Wichtigeres versäumt. Ich bin schon Mitglied des Eislaufvereins und des Tennisklubs. Sage mal, was zieht man denn bei einer so ernsten Chose am passendsten an?«
»Aber das ist doch ganz gleichgültig«, erwiderte Susanne lächelnd.
»Gleichgültig? Das sage nicht. Zu den Erfordernissen einer Dame von Welt gehört unbedingt, daß sie bei allen Veranstaltungen taktvoll auch das passende Kostüm zu wählen versteht. Ich denke mir am besten: dunkler Tuchrock, helle Seidenbluse, natürlich bis oben geschlossen.«
Als Susanne sich eilig wieder davonmachen wollte, hielt die andere sie noch mit einer Frage zurück.
»Apropos, Herren sind doch natürlich auch dabei?«
»Als Vortragende ja, das ließ sich nun mal nicht umgehen. Als Zuhörer aber nehmen wir nur Damen auf.«
Da zeigte die schöne Frau eine enttäuschte, bedenkliche Miene.
»Schade! Ohne Herren ist's immer nur etwas Halbes. Na, jedenfalls kann man sich's ja mal ansehen ...«
Susanne war durch das Unternehmen sehr in Anspruch genommen. Außer den Besuchen ruhte auch die sonstige Organisation des neuen Unternehmens fast allein auf ihren Schultern, denn die andern Komiteedamen gaben zwar gern und eifrig die Erlaubnis, daß ihre Namen in den Zeitungen der Stadt genannt wurden, aber mit der Übernahme der Mühen, die mit dieser Würde doch eigentlich verknüpft war, hatten sie es nicht so eilig.
So mußte Susanne auch die schwierige Aufgabe, die nötigen Vortragskräfte zu gewinnen, fast allein auf sich nehmen. Für den ersten Abend – die Vorlesungen sollten wöchentlich einmal stattfinden – hatte ein Justizrat, der Vertreter des Kreises im Reichstag, ein älterer Herr, zugesagt. Er wollte nach dem einleitenden Vortrag über den Zweck und die Ziele des Vortragskursus, den Susanne übernommen hatte, über »Einführung in das Studium der Nationalökonomie« sprechen.
Susanne nahm ihre Aufgabe, ihrer Natur gemäß, sehr ernst. Mit ganzer Seele und all ihren geistigen und körperlichen Kräften gab sie sich der Sache hin. Wenn sie ermüdet von ihren Gängen nach Hause zurückkehrte, setzte sie sich an den Studiertisch, um sich für ihren Vortrag vorzubereiten, und Herr Kamberg war nahe daran, seinen Einfall zu verwünschen. Nicht nur, daß er sie häufig, wenn er vom Amte nach Hause kam und es ihm nach ihrem freundlichen Gesichtchen, nach ihrer lieben hellen Stimme, nach ihrem anmutigen, zärtlichen Wesen verlangte, nicht antraf, weil sie wieder einmal irgendeine dringende Besorgung zu erledigen hatte, auch wenn sie anwesend war, hatte er nichts von ihr, denn sie saß an ihrem Schreibtisch, die Feder in der Hand, eine Anzahl aufgeschlagener Bücher neben sich. Und wenn er dann an sie herantrat und sie begrüßte, nickte sie zerstreut, ohne sich, wie sonst, an ihn zu hängen und ihm zum Willkommen ihre Lippen zu bieten.
Ihre gefurchte Stirn, ihre nachdenklichen, sorgenvollen Mienen, die gebückte Haltung und das in die Bücher begrabene grübelnde Gesicht boten keinen schönen Anblick, auch fand er, daß sie von Tag zu Tag blasser wurde und auch in ihrem ganzen sonstigen Wesen einen müden, abgespannten Eindruck mache.
Wenn er gelegentlich einen Spaziergang zur Erholung vorschlug und sie an den Händen faßte, um sie mit sanfter Gewalt von ihrer Arbeit hinwegzuziehen, zeigte sie eine ihm neue Eigenschaft: sie wurde nervös, ungeduldig und brauste ärgerlich auf: »Aber so laß mich doch! Du siehst doch, daß ich zu tun habe.«
Umsonst waren alle seine Hinweise auf ihre Gesundheit und auf die Pflichten gegen sich und gegen ihn.
»Willst du, daß ich mich und dich blamiere?« erwiderte sie heftig. »Meine Pflicht gegen mich und dich ist, das, was ich mit deiner Einwilligung angefangen habe, auch mit allem Ernst und aller Gründlichkeit zu Ende zu führen.«
Endlich war der große Tag gekommen. Der kleine Saal, der zur Abhaltung der »Frauenbildungskurse« gemietet worden, war gut gefüllt. Fast alle Familien der guten Gesellschaft der Bezirksstadt waren in ihren Frauen und Töchtern vertreten. Schon an den eleganten, geschmackvollen Toiletten konnte man erkennen, daß man sich in einem erlesenen Kreise vornehmer Damen befand.
Susanne freilich, die im einfachen dunklen Reformkleide an das kleine Pult trat, das auf der Estrade aufgestellt war, konnte ein leises Mißbehagen nicht unterdrücken, als sie einen Wald von Hüten vor sich sah, darunter wahre Wagenräder, die ihr vollständig die Gesichter ihrer Trägerinnen entzogen. Dennoch riß sie, wenn sie auch anfangs etwas unsicher und leise einsetzte, der Gegenstand mit sich fort und immer klarer und vernehmlicher klang ihre Stimme durch den Saal und ihrem bewegten Klange war anzuhören, daß das, was sie sprach, aus dem Innersten ihrer Seele kam.
Sie gab eine kurze geschichtliche Übersicht der Frauenbewegung und nannte die Frauenemanzipation eine der am tiefsten gehenden und weitest wirkenden Revolutionskämpfe der Weltgeschichte. Viel sei schon erreicht, aber noch viel mehr müsse erstrebt werden. Die moderne Frau könne und dürfe sich nicht mehr mit ihrem Sinnen und Trachten, mit ihrem Wirken und Sorgen auf den Familienkreis beschränken. Heute müsse jeder Mensch, so Mann und Frau, und die Frau der vornehmen Stände mehr als alle anderen, an den sozialen Aufgaben der Zeit teilnehmen. Deshalb müsse man sich auch in erster Linie mit denjenigen Zweigen der Wissenschaft beschäftigen, die einen fähig machen, einen Einblick in die soziale Bewegung der Gegenwart zu gewinnen. Es sei charakteristisch für unsre Zeit, daß die Welt widerhalle von den Ermahnungen zu handeln und daß die Ansicht, es sei sittliche Pflicht jedes Menschen, zu arbeiten, sich nützlich zu machen, nicht nur zu Hause, sondern für die Allgemeinheit, immer mehr an Boden gewinne und in das Bewußtsein der Menschen übergehe. Daher wohl auch vielfach die Unzufriedenheit, die man so oft an unsern jungen Damen beobachten könne, die wohl das instinktive Gefühl, nutzlos zu leben, bedrücke. Ja. für das junge Mädchen sei es in der Zeit zwischen Schule und Heirat im Interesse ihrer Charakterbildung geradezu verderblich, wenn sie ohne ernste geistige Arbeit bleibe und höchstens als Dilettantin allerlei Liebhabereien betreibe und im Vergnügen ihren Lebensinhalt finde.
»Nein, dazu ist die Zeit zu ernst«, rief die Rednerin mit blitzenden Augen, ganz von dem Gegenstand ergriffen und fortgerissen. »Neue Ideen, neue Anschauungen ringen sich empor, ringsherum kämpft alles in brausendem Lebensmeer, und wir sollten die Hände in den Schoß legen und uns mit der Drohnenexistenz begnügen, die man dem jungen Mädchen, der Frau der Gesellschaft bisher zugewiesen hat? Nein, wir können und wollen uns nicht länger ausschließen lassen von dem Glück geistiger und künstlerischer Genüsse jeder Art, von der Genugtuung des Handelns aus eigenem Willen, unter eigner Verantwortung, von der Freude der Arbeit im Dienste einer großen Idee. Die Frauenbewegung läßt sich nicht mehr zurückhalten, sie marschiert unaufhaltsam vorwärts. Wer weiß, welche Möglichkeiten sich uns und denen, die nach uns kommen, noch erschließen werden! Wir lassen uns nicht damit abspeisen, daß man uns ein paar Berufe freigibt, ein paar Brotstellen für unverheiratet bleibende höhere Töchter. Wir wollen weit, weit mehr: wir wollen teilnehmen an allen Fragen des Menschenlebens, an den höchsten und tiefsten Problemen der Zeit. Darum müssen wir uns wappnen mit der Rüstung der Wissenschaft, untertauchen in alle Tiefen des Lebens – nichts Menschliches sei uns fremd!«
Schon ein paarmal war während Susannes Rede das Rauschen und Murmeln der Zustimmung und Anteilnahme durch die Reihen der Zuhörerinnen gegangen, jetzt, nach dem mit voller Lungenkraft, mit ansteckender Begeisterung in den Saal geschmetterten Schlußsatz, klatschten die enthusiasmierten jüngeren Damen lebhaften Beifall. Aber auch die älteren Frauen erhoben sich und umringten die Vortragende, als sie vom Podium in den Saal hinabgestiegen war, und beglückwünschten sie mit lobenden Ausrufen: »Sehr hübsch! Sehr nett! Uns ganz aus der Seele gesprochen!«
Sogar Frau Adele, auf deren zierlichem Köpfchen auf kunstvoll aufgebautem Lockengewirr sich der gewaltigste Hut im ganzen Saal schaukelte, war offenbar angenehm überrascht und platzte mit seltener Aufrichtigkeit heraus: »Du, das war ja gar nicht so langweilig wie ich dachte! Schick hast du gesprochen, wirklich totschick!«
Und dann deutete sie mit sichtlichem Stolz auf ein elegant in Samt gebundenes Buch und den Bleistift mit goldenem Stiel, den sie zwischen den mit zahlreichen, blitzenden Brillantringen geschmückten Fingern hielt: »Sieh' mal, ist das nicht stilvoll?«
Susanne fühlte sich in so gehobener, glückseliger Stimmung, daß sie nur nachsichtig lächelte. Es war nicht nur die Nachwirkung der eigenen Begeisterung, in die sie sich hineingeredet hatte, es war auch der Anblick der strahlenden, lächelnden, freundlich nickenden Gesichter, die sie umgaben und der freudigen, zum Teil ekstatischen Zurufe, die an ihr Ohr klangen.
Ja, es war ein voller Erfolg, und das Hochgefühl, verstanden zu sein von kongenial empfindenden Seelen, sich auf dem rechten Wege zu wissen, ließ ihr Herz höher schlagen.
Da betrat ein älterer Herr das Podium und schritt langsam schlürfend, mit gesenkten Schultern, auf das Rednerpult zu. Sogleich legten sich die Wogen der Aufregung; man setzte sich, mit neugierigen, zum Teil mit kritischen und argwöhnischen Blicken hinaufschauend. Einige der eifrigsten schlugen die mitgebrachten Schreibhefte und Notizbücher auf und setzten sich, mit dem Bleistift in der Hand, zurecht.
Auch Susanne nahm in einer der vordersten Reihen Platz, erwartungsvoll, lernbegierig.
Der Justizrat und Reichstagsabgeordnete begann: »Die Nationalökonomie oder politische Ökonomie ist die Wissenschaft, welche die volkswirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, in ihren Ursachen erklären und in ihrem Zusammenhange mit den andern Elementen des staatlichen Lebens begreifen will. Unter Volkswirtschaft verstehen wir den Inbegriff der in einem Staate vorhandenen, durch Arbeitsteilung und Tauschverkehr miteinander verbundenen Einzel- und Korporationswirtschaften ...«
So ging es weiter in ruhig, gleichmäßig dozierendem Ton und obwohl sich der Vortragende bemühte, möglichst einfach und leicht verständlich zu sprechen, es war doch alles trockne, theoretische Wissenschaft.
Susanne, ganz von dem Drange beherrscht zu lernen und mit ihrem in anhaltender, ernster Denkarbeit geschulten Geist folgte mit ebenso großem Eifer wie Verständnis. Über ihr Buch gebeugt saß sie und füllte Blatt um Blatt mit Notizen, nur ab und zu sich einen kurzen Blick nach dem Redner gönnend. Und so entging es ihr vollständig, wie ringsherum die Gesichter immer länger wurden, wie man einander fragend, beobachtend, blinzelnd oder gar spöttisch ansah, wie sich die Hände immer häufiger zum Munde emporreckten, um ein Gähnen zu verdecken, wie die Züge immer schlaffer und schlaffer wurden, wie die traurigste, ödeste Langeweile immer mehr Opfer fand. Manch eine machte wohl ab und zu einen krampfhaften Versuch, Interesse zu markieren oder auch sich ehrlich abzuzwingen und rückte sich, angestrengt horchend, in eine vornübergeneigte Haltung, aber auch die Tapferste und Willigste sank schließlich überwunden, widerstandslos, völlig abgespannt in die Stuhllehne zurück.
Erst als endlich nach einer langen, langen Stunde der Vortragende den letzten Satz gesprochen, kam wieder Leben und Bewegung in das apathische Auditorium.
Fast noch lauter und freudiger als nach Susannes Rede klatschten sie Beifall. Wie ein Aufatmen kam es über alle und frohe Genugtuung drückte sich in aller Mienen aus. Freilich, kaum hatte sich der Herr Justizrat durch die Tür, die vom Podium direkt zum Ausgang führte, entfernt, da erstaunte Susanne über die Veränderung, die urplötzlich im Aussehen und Benehmen ihrer Mithörerinnen vor sich ging. Die Feinfühligeren und Zurückhaltenderen begnügten sich einander mokant lächelnd, achselzuckend anzusehen. Andere rieben sich die blinzelnden Augen, die sie bisher nur mit Anstrengung offen gehalten, reckten sich und gähnten so anhaltend und heftig, als könnten sie sich vor Müdigkeit nicht lassen.
Frau Adele Portig aber machte ihrer Empfindung offenherzig Luft. »Gott sei Dank! Ich dachte schon, es würde überhaupt kein Ende nehmen. Nein zum Auswachsen war's!«
Susanne war so überrascht und bestürzt, daß sie sich fragend, zweifelnd umsah. Aber überall begegnete sie denselben unendlich gelangweilten, entrüsteten oder beistimmend zu der schönen Fabrikbesitzersgattin hinüberlächelnden Gesichtern. Keine einzige, die auch nur mit einer Silbe über den Inhalt des Gehörten sich äußerte. Nur ein paar Damen vom Komitee traten an Susanne heran und drückten ihr schweigend die Hand, mit Mienen, die aussahen, als wollte man ihr kondolieren.
Susanne wandte sich traurig ab und schritt langsam, mit gesenktem Blick, als scheue sie sich, den Augen der anderen zu begegnen, dem Ausgang zu. In der Vorhalle erwartete sie ihr Mann. Das strahlende Lächeln, mit dem er sie begrüßte, drückte die Freude aus, sie wiederzuhaben. Sie aber runzelte die Stirn und zog mißmutig ihre Augenbrauen zusammen.
»Warum holst du mich ab? Bin ich denn ein Kind?«
Er sah sie überrascht an.
»Aber Susanne! ... War's denn nicht interessant?«
Sie zuckte stumm mit den Schultern; die hastigen, ruckartigen Bewegungen, mit denen sie ihr Jackett anzog, bekundeten ihre Erregung deutlich.
Er verstand. Als er mit Susanne allein dem Heim zuschritt, meinte er begütigend: »Vielleicht war das Thema nicht gut gewählt, vielleicht war es doch zu abstrakt für den Anfang.«
Sie warf spöttisch die Lippen auf.
»Sollten wir uns vielleicht über die neueste Mode oder über die Kunst, einen Mann zu erobern, unterrichten lassen?«
Er erwiderte nichts, denn er sah, daß sie sich in einer gereizten Stimmung befand, in der sie jeder Widerspruch nur noch mehr erbitterte. Zu Hause wollte er sie tröstend an sich ziehen, aber sie riß sich los und lief in ihr Zimmer, das sie hinter sich verriegelte. Lauschend hörte er, daß sie weinte.
»Tränen!« dachte er mitleidig und doch mit lächelnder Genugtuung – »die Waffe und der Trost der Kinder und Frauen. Gottlob, daß sie noch Weib ist, echtes Weib!« ...
Mit geheimem Bangen sah Susanne dem zweiten Vortragsabend entgegen. Das Thema war schon bestimmt. Ein Gerichtsassessor hatte es übernommen, über die soziale Gesetzgebung zu sprechen. Acht Damen waren es, die sich einfanden, während bei der Eröffnung des Kursus mindestens fünfzig Zuhörerinnen anwesend gewesen. Es waren ausnahmslos junge Damen um die Mitte der Zwanzig herum, und Susanne fiel es auf, daß sich in aller Mienen etwas Erwartungsvolles, Gespanntes, eine angenehm angeregte Stimmung ausprägte. War es das Thema, das den Damen ein so unverkennbares lebhaftes Interesse einflößte? Aber eine andere Wahrnehmung, die Susanne machte, regte Zweifel und leisen Argwohn in ihr an. Die Damen hatten diesmal viel sorgfältiger Toilette gemacht, als am ersten Vortragsabend. Sie waren alle in lebhafte Farben gekleidet, ja, die Bluse mit Ausschnitt oder durchsichtigem Spachteleinsatz und halblangen Ärmeln war vorherrschend. Ungefähr die Hälfte der Hörerinnen hatte die Hüte abgelegt und ab und zu senkte die eine oder andere der jungen Damen ihr Köpfchen und drehte es mit dem Ausdruck der Selbstgefälligkeit nach rechts und nach links und zupfte an Spitzchen, Schleifchen und Löckchen, und die Beobachtende bemerkte, daß es ein Taschenspiegel war, den die Eitlen verstohlen auf ihrem Schoß hielten, um eine letzte Musterung vor Erscheinen des Vortragenden vorzunehmen.
Susanne ärgerte sich, daß sie, als der Vortrag endlich begann, zerstreut war und nur mit halbem Ohr hinhörte, obgleich doch gerade dieses Thema sie interessierte und sie sich vorgenommen hatte, sich kein Wort entgehen zu lassen, um sich möglichst gründlich über die ihr so wenig bekannte Materie zu informieren. Aber ihre Blicke richteten sich immer wieder beobachtend auf ihre Mithörerinnen, und was sie sah, diente nicht, Aufmerksamkeit und geistige Sammlung bei ihr aufkommen zu lassen.
Aller Mienen beherrschte jenes verbindliche, süßliche Lächeln, jene bewußte, absichtliche Lieblichkeit, kurz, jenes deutlich ausgeprägte Bestreben, zu gefallen, das ihr schon in ihren Mädchenjahren so oft bei Altersgenossinnen aufgefallen war und ihre Empörung herausgefordert hatte. Alle hatten eine gekünstelt anmutige Haltung angenommen, von der sie anzunehmen schienen, daß sie die Vorzüge ihrer äußeren Erscheinung am besten zur Geltung kommen ließ. Die meisten hielten ihre Ellenbogen aufgestemmt, so daß die Ärmel zurückfielen und die mehr oder weniger schön geformten Unterarme freiließen.
Susanne errötete und schämte sich für ihre Mitschwestern. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und davongerannt, um nicht länger Zeugin dieses in ihren Augen unwürdigen und schmachvollen Schauspiels zu werden. Aber sie scheute das Aufsehen und so würgte sie Ärger und Empörung still in sich hinein, während nur wenig von den Ausführungen des Vortragenden in ihr Bewußtsein überging. Das stand bei ihr fest, daß sie zum letztenmal an diesem »Bildungskursus« teilnahm. Besser, er nahm ein rasches Ende, als daß er zum Tummelplatz weiblicher frivoler Bestrebungen wurde, die mit der Wissenschaft nichts zu tun hatten.
Diesmal holte Bürgermeister Kamberg seine Frau nicht ab, und als Susanne mit einem Gesicht, dem deutlich die Mutlosigkeit und die Unlust anzumerken war, nach Hause kam, vermied er es, durch irgendeine Frage ihre Empfindlichkeit zu reizen. Aber sie fing selbst an, von den Eindrücken dieses zweiten Vortragsabends zu sprechen. Ihr Herz war zu voll, als daß sie dem Verlangen, sich mitzuteilen, hätte widerstehen können, und so machte sie ihrer Empörung und ihrer Erbitterung in heftigen, rückhaltlosen Worten Luft. Er hörte sie ruhig an und lächelte still in sich hinein. Er war gar nicht so unzufrieden mit dem Fiasko, das ihr Verlangen, sich außerhalb des Hauses einen Wirkungskreis zu schaffen, so rasch gefunden hatte.