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Ein vorwurfsvoller Brief ihrer Schwester veranlaßte Susanne sich endlich eines sozusagen privaten Besuches zu entledigen, den sie ihrer offiziellen Visiten wegen immer wieder hinausgeschoben hatte. Es handelte sich um eine Frau Paula Reichelt, mit der ihre Schwester und Anna Möller in regem Briefwechsel standen und die eine eifrige Frauenrechtlerin war, obgleich sie vor anderthalb Jahren geheiratet hatte.
»Du kannst da einmal«, so schrieb Ella Neudeck u. a., »eine wirklich ideale Ehe kennen lernen, die für beide Teile gleich ehrenvoll und zuträglich ist, und wie ich sie für jedes erwachsene weibliche Wesen für wünschenswert halte (im Gegensatz zu Anna, die, wie du weißt, in dieser Hinsicht eine radikalere, strikt ablehnende Haltung einnimmt), wenn es nur mehr so sittlich hochstehende Männer gäbe, wie Herr Reichelt es ist.«
Susanne war sehr neugierig und gespannt. Eine ideale Ehe! Wie die wohl beschaffen sein mußte? Anders als die ihre? Die junge Frau seufzte und die Glut der Beschämung schoß ihr ins Gesicht. So sehr sie auch ihren Mann liebte und von seiner innigen, aufrichtigen Liebe überzeugt war, so ganz ideal erschien ihr ihr Zusammenleben doch nicht mehr.
Als ihr Gatte eines Nachmittags, kurz nach dem Essen, sich wieder nach dem Rathause begab, um einer wichtigen Magistratskonferenz beizuwohnen, benutzte sie die Gelegenheit, um den Besuch endlich abzustatten. Es war kurz vor vier Uhr, als sie an der Reicheltschen Wohnung klingelte. Ein brünetter Mann öffnete, Anfang der Dreißig mit lebhaften energischen Bewegungen. Das Gleichmaß der Züge störte ein Paar stark aufgeworfene Lippen, die ebenso wie die dunklen, hinter einem Pincenez funkelnden Augen viel Temperament verrieten. Sein Haar war sehr dicht und etwas kraus, der Vollbart wirr und ungepflegt. In der Rechten trug er merkwürdigerweise einen Kochlöffel.
Auf ihre Frage nach Frau Reichelt nickte er.
»Jawohl, Paula ist zu Hause.«
Zugleich schritt er ihr voran, öffnete die nächste in den Flur mündende Tür und ließ sie eintreten. An einem Schreibtisch saß eine mittelgroße, starkknochige Frau – etwa Mitte der zwanzig. Sie hatte ein paar Bücher vor sich liegen und machte sich emsig Notizen.
Als die Eintretende ihren Namen genannt hatte, erhob sie sich eifrig.
»Seien Sie mir willkommen! Ich kenne Sie ja schon aus den Briefen Ellas und Annas. Ich habe Sie schon längst erwartet.«
Der Vorwurf, der in den Worten lag, ließ Susanne erröten. Sie stammelte eine Entschuldigung. Aber die andere unterbrach sie verständnisvoll lächelnd.
»Wir brauchen uns doch gegenseitig nichts vorzumachen. Ich kenne doch die bürgerlichen Ehen. Da ist es schwer für die Frau, einmal eine eigene Angelegenheit zu betreiben. Doch nun sind Sie ja glücklich da und nun lassen Sie uns mal ein bißchen plaudern!«
Sie zog ihren Besuch nach dem Sofa. Ein Kinderkleidchen, kleine Schuhchen und Strümpfchen, sowie ein paar Bücher, die hier in holdem Durcheinander lagen, wurden kurzerhand auf den Fußboden geworfen.
»Also Sie sind die Frau Bürgermeister! Ihren Mann kenne ich, das heißt par renommé durch meinen Mann. Emil ist nämlich Stadtverordneter, da geraten sie oft hart aneinander. Na, das geht uns nichts an. Ich hoffe, wir werden gute Freundinnen werden.«
Sie erfaßte die beiden Hände ihres Besuches und drückte sie kräftig. Susanne schaute befangen, doch lebhaft interessiert in das eigenartige Gesicht der Sprechenden. Sie trug das braune Haar in der Mitte schlicht gescheitelt. Ihre Augen waren ebenfalls braun und zeigten einen ernsten, sinnenden, etwas starren Blick. Die Augenbrauen waren dicht zusammengewachsen, was dem sonst nicht unschönen Antlitz etwas Finsteres, fast Dämonisches gab. Ihre Gestalt war trotz der Starkknochigkeit schlank und mädchenhaft. Sie trug natürlich ein lose sitzendes Reformkleid ohne Schnürleib; ihre Füße steckten in unschönen breiten sandalenartigen Schuhen. In dem Gesichtsausdruck sowie in dem ganzen Wesen dieser merkwürdigen Frau schienen sich die heterogensten Eigenschaften zu paaren: Herzlichkeit mit Schroffheit, weibliche Schwäche und Anmut mit Derbheit und eigensinniger Energie. Es war etwas Verworrenes, Gärendes in ihr, wie in einem ungegorenen brausenden Wein. Dennoch trug sie etwas Bestimmtes, Sicheres zur Schau, als hielt sie sich für eine ausgeglichene, in sich gefestigte Persönlichkeit.
»Also das sind Sie!« sprach sie aufgeräumt weiter. »Die Susanne Neudeck! Nach dem Bilde haben Sie viel Ähnlichkeit mit Ihrer Schwester, nur daß bei Ihnen alles hübscher und zarter ist. Darum haben Sie auch einen Mann gekriegt« – sie machte eine wegwerfende Handbewegung – »die sehen doch nun mal zuerst nach der hübschen Larve. Sagen Sie mal, ist es Ihnen nicht schwer geworden, Ihr Studium aufzugeben?«
»Freilich – so dicht vor dem Abschluß, und ich habe doch nie daran gedacht zu heiraten.«
Die andere lachte.
»Geradeso ist es mir ergangen. Wer mir das noch vor drei Jahren gesagt hätte, den hätte ich ausgelacht. Aber es ist nun mal so – unter uns können wir es ja ruhig zugeben – der Zug nach dem Manne steckt uns im Blut. Und es ist eine Phrase, wenn man sagt: der Mann begehrt, das Weib ist passiv und gewährt höchstens. Unsinn, auch das Weib verlangt bewußt, wenigstens einmal im Leben, nach dem Mann. Meinen Sie nicht?«
Susanne errötete. Die offenherzigen Worte waren ihr peinlich und berührten etwas Uneingestandenes in ihr.
»Es nützt nichts,« fuhr Frau Paula Reichelt fort, »die Augen zu verschließen vor dem, was ist. Und sollen wir uns vielleicht des natürlichen Triebes in uns schämen? Der Mann braucht zu seiner Ausgeglichenheit und Vollendung das Weib, und wir sollten den Mann nicht brauchen? Wir brauchen ihn trotz Anna Möller, mindestens ist er das notwendige Übel für uns. Wir müssen uns sozusagen von uns selbst durch die Ehe erlösen. Das war immer eine zitternde Unruhe, ein unbestimmtes, treibendes Verlangen in mir – furchtbar störend! Erst in der Ehe habe ich, so paradox das klingen mag, alle meine Kräfte freibekommen für unsre große Sache. Freilich, als mich Emil Reichelt seinerzeit fragte, ob ich seine Frau werden wolle, habe ich nur unter der Bedingung ja gesagt, daß er von vornherein jeden Versuch, mich geistig zu beeinflussen, aufgibt, daß er mir die volle Freiheit läßt mich nach meinen Wünschen und Neigungen zu betätigen, wie ich ihm, daß er mir, wie gesagt, in der Ehe dieselben Rechte einräumt, die er sich selber zuspricht.«
»Aber geht denn das? Ist denn das möglich?« warf Susanne innerlich aufs stärkste interessiert ein, und mit einem Gemisch von Unglauben und bewunderungsvollem Staunen in das Antlitz der neben ihr Sitzenden blickend.
Paula Reichelt nickte entschieden, mit der Kraft der Überzeugung.
»Ob das geht! Unser Zusammenleben ist ein Beweis dafür. Mein Mann und ich gehen ganz unabhängig voneinander unseren besonderen Bestrebungen nach. Er hat seine Redaktion und sonstigen Parteipflichten, ich arbeite im Dienste der Frauenaufklärung. In unsrer Häuslichkeit aber nehmen wir die gleiche Stellung ein. Da hat keiner vor dem anderen etwas voraus. Ganz gleichmäßig teilen wir uns in unsre Haushaltarbeiten und in die Kinderpflege.«
»Sie haben ein Kind?« fiel Susanne verwundert ein. Weder ihre Schwester noch Anna Möller schienen das für wichtig genug gehalten zu haben, um es ihr mitzuteilen.
Die Gefragte hatte noch nicht Zeit gehabt zu antworten, als ihr Mann die Tür öffnete und den Kopf hereinsteckte.
»Du entschuldigst,« sagte er, »wie lange muß das Roastbeef braten, bis es gar ist?«
Frau Paula machte eine Bewegung der Ungeduld.
»Lieber Freund, wie oft habe ich dir das schon gesagt, fünf bis sieben Minuten.«
»Schön! Und muß das Fleisch zuerst in die Pfanne oder erst die Butter?«
»Die Butter natürlich ... Er bereitet nämlich heut unser Mittag,« wandte sie sich, nachdem der Mann eilig wieder verschwunden war, an Susanne, die in grenzenlosem Befremden zuhörte, »ich habe am Abend Unterricht zu geben im Arbeiterinnen- Bildungsverein und muß mich noch dazu präparieren, deshalb ist es heute an ihm, das Kochen zu übernehmen.«
Ein unklares, widerspruchsvolles Gefühl regte sich in Susanne. Sie wußte selbst nicht: war es Neid und Bewunderung oder Unglaube und Befremdung? Gab es wirklich Männer, die die völlige Gleichstellung ihrer Frau aufrichtig anerkannten und ehrlich und konsequent durchführten? Und war eine glückliche Ehe auf dieser Basis möglich? Plötzlich fiel ihr ein, daß sie sich wohl verabschieden müsse. Aber als sie sich erheben wollte, hielt die andere sie zurück.
»Nein, Sie dürfen nicht schon gehen. Wir haben uns ja doch noch so viel zu sagen ... Nein, Sie stören mich gar nicht! Mit meiner Vorbereitung für heute abend bin ich sowieso ziemlich zu Ende. Jetzt kommt ja ohnedies die Pause des Essens. Dabei haben wir Zeit genug zum Plaudern. Sie speisen einfach ein bißchen mit uns, einen kleinen Happen werden Sie schon noch zwingen und wär's auch nur, um einmal die Kochkunst meines Mannes zu probieren.«
Sie lachte, und auch Susanne mußte von Herzen einstimmen. Das alles: dieser sonderbare Haushalt, diese eigenartige Ehe, dieses von jeder Ziererei und konventionellem Getue und Gehabe freie, natürliche Wesen ihrer neuen Bekanntin mutete sie angenehm an und erfrischte sie förmlich. Alles das war so anregend und interessant, ein wahres Labsal nach den Erlebnissen beim Damenkaffee der Frau Oberbürgermeisterin. Und so widersprach sie nicht weiter, sondern setzte sich wieder und sah dem weiteren mit einem Gemisch von neugieriger Erwartung und banger Unsicherheit entgegen.
Indes öffnete sich wieder die Tür und Herr Reichelt erschien mit einem Stoß Teller auf dem Arm. Frau Paula sprang hilfsbereit hinzu, zog das weiße Tischtuch aus dem Tischkasten und breitete es über den Tisch. Dann begleitete sie nach kurzer Entschuldigung ihren Gatten nach der Küche und vereint trugen sie Geschirr, Bestecke und zuletzt die dampfenden Speisen herein.
Auf Susanne wirkte die Geschäftigkeit des Ehepaars anfeuernd, und auch sie beteiligte sich an dem Ordnen der Tafel. Und dann setzten sie sich alle drei vergnügt zu Tisch. Die natürliche Unbefangenheit ihrer Gastgeber befreite Susanne immer mehr von ihrer anfänglichen Scheu und ihrer zurückhaltenden, einschüchternden Befremdung, und sie fühlte sich von Minute zu Minute behaglicher, freier, froher.
»Nun, was sagen Sie zu dem Roastbeef?«
Susanne hatte schon ein paar Bissen gegessen. Das Fleisch war ziemlich hart und offenbar zu lange auf dem Feuer gewesen, aber sie empfand das in ihrer angeregten, frohen Stimmung kaum und lobte aufrichtig.
»Ich mache Ihnen mein Kompliment, Herr Reichelt. Jedenfalls hätte ich es selbst nicht besser fertiggebracht.«
»Wirklich? Das freut mich! Da darf ich Ihnen doch noch ein Stück vorlegen?«
Er schien wirklich erfreut, und so mochte sie nicht ablehnen, als er ihr noch eine Fleischschnitte auf den Teller legte.
»Und nun probieren Sie auch mal meine Makkaroni!«
Er präsentierte ihr die Schüssel; sie nahm einen Löffel voll von den weißen und etwas formlosen Dingern und piekte ein paar davon mit der Gabel auf. Unwillkürlich schnitt sie eine Grimasse, denn es brannte wie höllisches Feuer auf der Zunge.
»Ein bißchen zuviel Salz, scheint mir«, bemerkte sie mit höflichem Tadel.
Frau Paula lachte.
»Sagen wir schon: gründlich verpfeffert und versalzen! ... Aber lieber Mann an Makkaroni gehört doch kein Pfeffer!« Sie hob scherzhaft drohend den Finger. »Du scheinst mir ja ganz gehörig verliebt.«
»Kann wohl sein!« sagte er schmunzelnd, und ohne sich von der bewiesenen gastronomischen Unzulänglichkeit die gute Laune schmälern zu lassen. »Wenn man ein so hübsches Frauchen hat!« Er sah die neben ihm Sitzende mit verliebten Augen an, beugte sich zu ihr hinüber und schlang den einen Arm um ihre Schultern, sie näher zu sich heranziehend. Sie bot ihm ohne jede Ziererei, lächelnd und voll Genugtuung zu der unwillkürlich errötenden Gastin hinüberblinzelnd, ihre vollen Lippen. Und sie küßten sich, ebenso ungeniert und mit ebenso natürlicher, rückhaltloser unbefangener Hingabe, wie sie sich vorher ihren Haushaltungsgeschäften trotz des Besuchs gewidmet hatten.
Frau Paula strich sich die Haare zurück, die ihr bei der stürmischen Attacke ihres Gatten in das erhitzte Antlitz gefallen waren, und begann jetzt ein ernstes Gespräch.
»Haben Sie schon mal solch eine Arbeiter- oder Arbeiterinnenschule kennen gelernt?«
»Nein. Ich hatte noch keine Gelegenheit. Aber ich denke mir das hochinteressant.«
Sie bejahte voll Eifer.
»Ob! Es ist erhebend und manchmal geradezu rührend – bei den Arbeitern übrigens noch viel mehr, als bei den Mädchen und Frauen. Da können Sie Männer kennen lernen, manchmal schon Grauköpfe mit von Sorgen zermürbten Gesichtern, von schwerer Arbeit gebeugtem Rücken, die von einem wahren Heißhunger nach Wissen verzehrt sind. Da ist es natürlich eine Lust zu unterrichten und zu sehen, wie sie mit einer wahren Gier einem förmlich jedes Wort aus dem Munde ziehen und wie sie sich mit heißem, heiligem Eifer bemühen, in ihren an Denkarbeit wenig geübten Köpfen das Vorgetragene aufzunehmen und zu verarbeiten. Nicht, Emil?«
Der Redakteur nickte mit leuchtenden Augen.
»Bei den Frauen ist es nicht ganz so erfreulich. Auf den verheirateten liegen so viele Lasten und Sorgen des täglichen Lebens, daß sie kaum zwei Stunden in der Woche für ihre geistige Weiterbildung erübrigen können. Und den Jüngeren steckt die Oberflächlichkeit und die Neigung zu Putz und Tanz und vor allem die Liebe, oder was sie dafür nehmen, zu sehr im Blut und im Kopf, als daß sie aus eigenem den Trieb zu ernster, geistiger Beschäftigung empfänden. Da muß dann der Einfluß der Väter und Brüder und unsere Bemühung nachhelfen ...«
Man hörte draußen die Flurtür gehen und gleich darauf machte sich eine Kinderstimme vernehmlich. Sogleich sprang Herr Reichelt auf, während der Schimmer stolzer Vaterfreude sein blasses Gesicht verklärte. Schon wurde die Zimmertür von draußen geöffnet und ein halbwüchsiges Mädchen mit einem kleinen Kinde auf dem Arm, das kläglich weinte, trat ein.
»Libby, Libbychen! Nicht doch weinen!« sagte Herr Reichelt und lächelte und nickte der Weinenden freundlich zu.
Man gewahrte es an seinen strahlenden Mienen, seinen weichen, kosenden Lauten und der sanften, liebevollen Art, wie er jetzt sein Töchterchen dem Kindermädchen abnahm, ein wie zärtlicher Vater er war. Mit tiefer Innigkeit drückte er das ruhiger werdende Kind an sich und küßte es, dann brachte er es seiner Gattin.
»Libby – sie heißt nämlich Liberty,« wandte er sich mit vergnügtem Gesicht, von dem die frohste Genugtuung leuchtete, an den Gast – »Libby will ihr Mittagbrot.«
Frau Paula knöpfte ungeniert ihre Bluse auf und nahm das Kind aus den Armen ihres Gatten an die Brust.
Es war ein anheimelndes, rührendes Bild häuslichen Glücks: die säugende Mutter, das an der Mutterbrust ruhende mit Behagen tränkende Kind, die noch kinderlose halb mit ihrer Befangenheit ringende, halb von einer bewundernden, neidischen, sehnsuchtsvollen Stimmung durchglühte junge Frau und im Hintergrund das selbst noch im Kindesalter stehende etwa fünfzehnjährige Mädchen, das, den Finger im Mund, mit blöden Augen herüberschaute.
»Ist es nicht reizend unser Baby?« wandte sich Herr Reichelt jetzt mit Vaterstolz an die Besucherin.
Susanne nahm das Kind genauer in Augenschein und ein warmes, mitleidiges Gefühl quoll in ihr auf. Das Aussehen des Kindes hatte nichts, das Zufriedenheit und freudige Genugtuung einflößen konnte. Es sah blaß und schlaff aus; die Ärmchen und Händchen, die aus den Ärmeln des kurzen Kleidchens hervorschauten, waren knochig und wachsbleich. Es war im ganzen ein Anblick, der einem eher das Herz zusammenschnürte als erheben und erfreuen konnte, und unwillkürlich stieg in der Zuschauenden die bange, beklommene Frage auf: wenn der Vater von seinem Beruf in Anspruch genommen war und die Mutter ehrgeizig und ganz von idealem Eifer erfüllt, ihre Zeit und ihr bestes Können und Streben der Frauenbefreiung widmete, wer pflegte dann das Kind? Ihr Blick glitt instinktiv zu dem Kindermädchen hinüber; der etwas stumpfe Ausdruck in dem unschönen, blassen, verkümmerten Gesicht war gerade nicht vertrauenerweckend. Überhaupt in der ganzen Erscheinung lag etwas Verwahrlostes, das Mädchen sah selbst der Pflege bedürftig aus.
»Du kannst jetzt abräumen und essen!« rief die Stillende dem Kindermädchen zu.
Sogleich kam Leben und Bewegung in die gleichgütig, teilnahmlos Dastehende. Die Augen funkelten gierig, und mit Hast stürzte sie an den Tisch und raffte die beiden Schüsseln mit den Resten des Roastbeefs und der Makkaroni, der nur sehr wenig zugesprochen worden war, an sich und verließ damit, ohne sich um das übrige Geschirr zu kümmern, das Zimmer.
Der Redakteur war indes an ein Spind getreten und hatte einen Apfel herausgenommen. Er deutete nach der Tür, durch die das Mädchen verschwunden war, und flüsterte gewissermaßen entschuldigend: »Wir müssen nämlich alles vor ihr verschließen. Sie ist unglaublich genäschig und diebisch. Die Arme! Sie ist unter gräßlichen Verhältnissen aufgewachsen, der Vater ein Trunkenbold, die Mutter liederlich, dabei sieben Kinder. Wir haben sie aus Mitleid zu uns genommen und weil wir doch auch einer Hilfe bedürfen, obgleich ich im Prinzip gegen Dienstbotensklaverei bin.«
Inzwischen hatte er ein Stück des Apfels geschält, jetzt zerkleinerte er es mit einem Messer und drückte es dann auf einem Teller mit der flachen Klinge zu einem Brei zusammen. Frau Paula nahm den Apfelbrei in Empfang und fütterte damit das Kind, das das Obst jedoch nur widerwillig zu nehmen schien.
»Aber«, rief Susanne verwundert und erschrocken, »schadet denn das rohe Obst dem Kinde nicht?«
Herr Reichelt lächelte überlegen.
»Im Gegenteil, es ist der Kleinen sehr dienlich, um so mehr, als sie ja neben der Brust auch die Flasche bekommt, da die natürliche Nahrung nicht ausreicht und Paula durch ihre Pflichten ganze Stunden außer dem Hause festgehalten wird. Wir erziehen unser Kind streng nach den Grundsätzen der Naturheilmethode. Täglich bekommt es seine kalte Abreibung, und im Sommer soll es regelmäßig Sonnenbäder nehmen. Dazu hauptsächlich Obst und Gemüse. Ja, ja, unser Kindchen soll einmal ein kräftiger, gesunder, natürlich lebender Mensch werden.«
Susanne warf wieder einen Blick nach dem schwächlichen kleinen Wesen hin, das den Eindruck eines verkümmerten, vernachlässigten oder falsch behandelten Menschenpflänzchens machte, und sah dann zu dem Mann auf, von dessen Gesicht die innigste Überzeugung blickte.
Ein merkwürdiger Mensch! Machte er nicht den Eindruck eines klugen, geistvollen Mannes? Und schien doch blind und urteilslos für das Nächstliegende.
Frau Paula richtete sich eben in die Höhe und schloß ihre Bluse wieder, als das Kindermädchen, das mit unglaublicher Geschwindigkeit mit den Resten der Mahlzeit fertig geworden war, im Zimmer erschien. Sie nahm das Kind und brachte es in das benachbarte Schlafzimmer, während die drei Erwachsenen den Tisch abräumten und das Geschirr in die Küche trugen. Hier war bereits das warme Wasser bereit, und Frau Paula begann nach ihrer Gewohnheit abzuwaschen. Susanne ließ es sich nicht nehmen, ebenfalls ihre Hände ins Wasser zu tauchen, und Herr Reichelt machte sich nützlich, indem er Schüsseln, Teller, Messer und Gabel abtrocknete. In einer halben Stunde war die Arbeit unter vergnügtem Plaudern und Scherzen vollbracht. Der Redakteur machte sich fertig, um in die Redaktion zu gehen.
»Soll ich dich um zehn Uhr abholen?« fragte er seine Frau.
Aber sie wehrte ordentlich entrüstet ab.
»Du weißt doch, daß ich das nicht mag, Emil. Ich bin doch kein Backfisch und keine Jungfer Margarete, kann ungeleitet nach Hause gehen. Du bleib' nur ruhig bei deinen Freunden! Ihr habt doch heute euren Diskussionsabend?«
»Allerdings. Nach Redaktionsschluß komme ich noch einmal, um eine Kleinigkeit zu essen und nach dem Kinde zu sehen.«
Er reichte Frau Susanne die Hand.
»Danke auch meinerseits für freundlichen Besuch und für die liebenswürdige Hilfe«, sagte er herzlich. »Hoffentlich werden wir Sie nun öfter bei uns sehen.«