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Während der nächsten beiden Tage sahen die jungen Eheleute einander nur während der Mahlzeiten. Sofort nachdem der Tisch aufgehoben worden, zog sich jeder in sein Zimmer zurück. Das Verhalten, das sie gegeneinander beobachteten, war grundverschieden. Er gab sich den Anschein völliger Unbefangenheit, richtete das Wort an sie – natürlich nur in bezug auf ganz indifferente Gegenstände – als sei nichts geschehen, und zeigte die sichere Haltung eines Menschen, der mit sich zufrieden ist und sich auf dem richtigen Wege weiß.
Sie hingegen saß in sich gekehrt, still, die Augen niedergeschlagen und sprach nur, wenn er direkt eine Frage an sie richtete. In ihren Mienen und in ihrem ganzen Wesen kam eine innerliche Verstörtheit und das Gefühl einer erlittenen schweren Demütigung zum Ausdruck. An jeder ihrer müden, schlappen Bewegungen, in jedem der unstet, nervös flirrenden Blicke malte sich eine starke Erschütterung, die sie noch ganz in Banden hielt und zu keinem klaren Gedanken und zu keinem festen Entschluß kommen ließ.
Am dritten Tag nach der letzten scharfen Auseinandersetzung mit ihrem Mann erhielt Susanne von ihrer Freundin eine kurze Mitteilung, die wie ein Schmerzensschrei, ein verzweifelter Hilferuf klang.
»Unsre kleine Libby ist plötzlich wieder schwer erkrankt. Der Arzt läßt wenig Hoffnung. Mein Mann ist außer sich, und auch ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll. Wollen Sie nicht einmal nach uns sehen?«
Es war am Nachmittag, Susanne machte sich sofort auf den Weg. Ihrem Mann, der in seinem Arbeitszimmer saß, sagte sie nichts. Nur dem Mädchen teilte sie mit, wohin sie ging, und daß sie nicht wüßte, ob sie zum Abendbrot zurück sein würde. Frau Paula hatte nicht übertrieben. Auch Susanne hatte sofort den Eindruck, daß der Engel des Todes bereits über dem Lager des totenbleich, in Zuckungen daliegenden kümmerlichen kleinen Wesens schwebte.
Emil Reichelt hatte alle Selbstbeherrschung, alle Fassung verloren. Bald saß er an dem kleinen Bettchen und belauschte jeden Atemzug, jede Miene seines kleinen Lieblings, während ihm die Tränen über die eingefallenen blassen Wangen liefen, bald sprang er auf, rannte wie ein Unsinniger im Zimmer umher und machte seinem gequälten Herzen, seiner fiebernden Reue in wilden Selbstverwünschungen Luft.
»Wir haben sie getötet! Wir haben sie getötet!«
Und selbst, als Susanne, erschüttert, ihn zu trösten sich bemühte und ihn darauf hinwies, wieviel Zeit und Liebe er dem Kinde immer gewidmet, schüttelte er hartnäckig mit dem Kopf.
»Nein, nein! Wir haben unsre Pflicht gegen sie sträflich vernachlässigt. Und wenn sie uns genommen wird, ist's unsre eigne Schuld. Wir haben sie nicht verdient, wir haben kein Kind verdient!«
Frau Paula zog die Freundin beiseite und erklärte ihr, daß die Wiedererkrankung des Kindes von dem Abend herrühre, da sie beide – sie und ihr Mann – die Versammlung besucht und das Kind dem kleinen vierzehnjährigen Dienstmädchen überlassen hätten. Sie hätten das Mädchen beim Nachhausekommen in festem Schlaf vorgefunden, das Kind habe wahrscheinlich stundenlang bloß gelegen und sich so eine starke Erkältung zugezogen. Und deshalb messe sich der bekümmerte Vater nun die Schuld zu. Schon zwei Nächte sei er nicht aus den Kleidern gekommen und zwei Tage nicht in der Redaktion gewesen. Sie selbst sei ebenfalls nicht vom Krankenbett gewichen und könne sich kaum noch aufrecht halten.
Und in der Tat, diesmal schien auch bei Paula die Mutterliebe rückhaltlos durchzubrechen und all ihr Denken und Empfinden zu beherrschen, denn als bald darauf zwei Männer erschienen, um anzufragen, ob Frau Reichelt nicht ein Referat über die »Frau in der Gewerbeinspektion« in einem Fachverein übernehmen wolle, lehnte sie kurzerhand ab. Vorläufig könne sie keine Zusage geben, ja überhaupt nicht daran denken, das Haus zu verlassen. Dann setzte sie sich wieder an das Bett, nahm die Händchen der Kranken in ihre Hand, sprach der hin und wieder die Augen Aufschlagenden und Klagenden liebevoll zu und erhob sich wieder, als das Fieber stieg, um mit Susannes Hilfe dem Kinde einen kühlenden Umschlag um den ganzen Körper zu machen.
Um acht Uhr ging Susanne mit dem Versprechen wiederzukommen. Als sie ihrem Gatten von ihrer Absicht sprach, die Nacht über bei der Familie Reichelt zu bleiben, machte er eine auffahrende Bewegung, und seine Stirn runzelte sich ärgerlich. Freilich, er besann sich gleich darauf und fragte: »Steht es denn so schlimm?«
»Das Ableben des Kindes ist stündlich zu erwarten.«
»Und haben denn die Leute keine andere Hilfe? Können sie sich denn nicht eine erfahrene Krankenpflegerin nehmen?«
»Nein. Sie haben nichts als sein Gehalt, und das ist klein. Für alle ihre sonstige Tätigkeit in Vereinen und Versammlungen nehmen sie keine Entschädigung.«
Er nickte.
»Ich weiß. Er ist ein idealgesinnter Mensch, einer von den wenigen, die aus ihrer Überzeugung nie ein Geschäft machen.«
Es war das erstemal, daß er sich so anerkennend über Emil Reichelt äußerte. Über ihr Gesicht flog ein warmer Schein.
»Um so mehr fühle ich mich verpflichtet, ihnen in dieser schweren Zeit zur Seite zu stehen.«
»Schön! Also dann geh! Hoffentlich tritt doch noch eine Besserung ein.«
Sie dankte ihm mit einem Blick und machte sich bald darauf wieder auf den Weg. Am anderen Morgen kam sie, gerade als er aufgestanden war und das Wohnzimmer betrat.
»Nun?« fragte er.
Sie legte mit matten, schleppenden Bewegungen Hut und Jackett ab.
»Es ist noch immer beim alten.«
»Ah!« Er sah sie prüfend an. »Du siehst sehr übermüdet aus und solltest dich sofort schlafen legen.«
Aber sie verneinte mit einer Kopfbewegung.
»Dazu hätte ich nicht die nötige Seelenruhe. Ich will mich nur etwas erfrischen und mich umkleiden.«
Er sah sie erstaunt, mißbilligend an. »Du hast doch nicht etwa die Absicht, gleich wieder zu den Reichelts zurückzukehren?«
»Allerdings, das halte ich für meine Pflicht.«
»Erlaube,« fuhr er ärgerlich auf, »mir scheint, du hast auch Pflichten gegen dich selbst und – gegen mich.«
Sie schien den Nachsatz zu überhören und beantwortete nur die erste Hälfte seiner Bemerkung.
»Gerade die Pflicht gegen mich, mein innerster Trieb, gebietet mir, dort zu sein, wo ich mich zurzeit für unentbehrlich halte.«
Er zögerte ein paar Sekunden mit der Antwort und nahm mit ernster Gebärde die Zeitung vom Tisch.
»Gut!« erklärte er endlich. »Ich will dich nicht zurückhalten. Aber ich möchte dir auch nicht meine Meinung vorenthalten, daß ich deine Rücksicht gegen – andere wieder einmal übertrieben finde.«
Sie zuckte mit den Achseln, erwiderte nichts, sondern schenkte ihm Kaffee ein und sich selbst, und schweigend verzehrte sie ihr Frühstück ...
Als er um drei Uhr wie gewöhnlich nach Hause kam, fand er sie bereits im Wohnzimmer. Sie sah verweint aus und schien auch erst vor kurzem zurückgekehrt zu sein.
»Das Kind ist gestorben«, berichtete sie, noch ehe er eine Frage an sie gerichtet hatte.
»Das tut mir leid – aber nun solltest du auch etwas für dich tun. Du kannst dich ja kaum mehr auf den Beinen erhalten.«
Sie nickte.
»Ja, ich bin müde, und du entschuldigst mich wohl –«
Ihre Hinfälligkeit schien ihn zu rühren; Mitleiden und Bedauern spiegelte sich in seinen Mienen, und als sie sich anschickte, das Zimmer zu verlassen, tat er ihr hastig ein paar Schritte nach. Aber er hielt plötzlich wieder an, schüttelte mit dem Kopf und kehrte langsam zum gedeckten Tisch zurück, um allein sein Mittagbrot zu essen.
Am dritten Tag begab sie sich zur Beerdigung. Während Frau Paula unablässig weinte, fand der trauernde Vater keine Träne. Mit geheimer Unruhe beobachtete ihn Susanne. Sein Gesicht war totenbleich, ab und zu flog ein krampfhaftes Zucken darüber. So oft Frau Paula ihrem Schmerz allzu laut Ausdruck gab, schien ihn das peinlich zu berühren, denn er heftete seine Blicke finster, fast drohend auf die Schluchzende. In seinem ganzen übrigen Wesen verriet sich eine nervöse Unruhe. eine schwer in ihm arbeitende Bewegung.
Was ging in ihm vor?
Susanne war sehr in Sorge um ihre Freunde, und so erschien es ihr als ganz selbstverständlich, sie vom Friedhof in ihre Wohnung zu begleiten. Es war in der sechsten Stunde, als sie in dem bescheidenen Heim der Reichelts anlangten. Susanne nahm sich der häuslichen Pflichten an. Sie entzündete die Lampe und stellte sie auf den Tisch im Wohnzimmer, dann begab sie sich in die Küche, um den Kaffee zu kochen. Als sie, von dem Dienstmädchen gefolgt, zu dem Ehepaar zurückkehrte, fand sie den Mann in einer Ecke hockend, anscheinend ganz in seinen Schmerz versunken. Frau Paula saß auf dem Sofa und weinte leise vor sich hin, erhob sich aber, um bei dem Herrichten des Tisches zu helfen.
»Willst du nicht auch etwas zu dir nehmen?« fragte Frau Paula sich ihrem Gatten nähernd.
Aber er wies sie barsch zurück.
»Laß mich!«
Erst als Susanne mit einer bereits gefüllten und mit Milch und Zucker versehenen Tasse an ihn herantrat, dankte er und nahm ein paar Schlückchen. Als er die Tasse wieder auf den Tisch zurückstellte, erblickte er das Dienstmädchen, das sich in seinem Trauerkleide offenbar sehr wichtig vorkam und sich, am Tisch sitzend, gütlich tat. Da sprühten seine Augen, und mit zorniger Gebärde herrschte er sie an.
»Hinaus!«
Die Kleine war ganz erschrocken und verharrte vor Schrecken wie gelähmt. Mit erhobener Hand ging der Wütende auf sie los. »Hinaus! sage ich dir.« Erst auf einen Wink Susannes sprang die Kleine auf und lief schreiend davon.
»Aber Emil!« tadelte Frau Paula und faßte ihren Mann am Arm. Da richtete er seinen Grimm auf sie und schüttelte ihre Hand mit heftiger Bewegung von sich ab. Darauf erhob er drohend seine Fäuste vor ihr und sein Gesicht verzerrte sich zu einem Ausdruck wilden Hasses und Abscheus.
»Du! du! Nimm dich in acht! Nimm dich in acht!«
Frau Paula war im ersten Augenblick so überrascht, daß sie lautlos zurückwich. Es war ja das erstemal in ihrer Ehe, daß ihr Mann wagte, gegen sie aufzutreten. Nun aber brauste ihr verletztes Selbstgefühl auf.
»Was fällt dir ein?« schrie sie ihn an. »Was soll das heißen?«
Seine Aufregung wurde jedoch durch die Zurechtweisung nur noch gesteigert.
»Das soll heißen,« rief er und packte sie derb an beiden Schultern, »das soll heißen, daß du eine Mörderin bist, hörst du, eine Mörderin. Du hast unser Kind verkommen lassen, unser Kind, unser armes gemißhandeltes Kind. Du mußtest ja in die Versammlungen laufen, mußtest dein Lichtlein leuchten lassen und deiner armseligen Eitelkeit frönen. Du mußtest ja Vorträge halten über die Rechte des Kindes und –« er lachte zornig auf, es gellte schaurig, wie das Lachen eines Wahnsinnigen – »indes verkümmerte dein Kind, dein einziges Kind. Du hast es zugrunde gelichtet, du – du!«
Er rüttelte sie so heftig, daß sie hin und her flog, und zuletzt schleuderte er sie von sich, daß sie haltlos zu Boden taumelte. Sie dachte nicht mehr an Widerstand und Widerspruch. Sein rasender Zorn betäubte und schüchterte sie ein. Sie fing nur laut an zu jammern, während sie sich, von Susanne unterstützt, wieder aufrichtete.
Susanne war selbst aufs äußerste erschrocken. Sie ahnte, daß es eine Nervenkrisis war, die den sonst so ruhigen, friedfertigen, von den Idealen der Gleichheit und der Gerechtigkeit ganz durchdrungenen Mann aus dem Gleichgewicht brachte. Ein heißes Mitleiden erfaßte sie mehr mit dem Mann als der Frau. Er hatte sich nach dem Wutanfall erschöpft auf einen Stuhl geworfen. Hier saß er, die Hände vor sein Gesicht geschlagen, und ein röchelndes Schluchzen erschütterte seinen ganzen Körper.
Die beleidigte Frau aber begann zu schimpfen, nachdem sie von ihrer ersten Bestürzung wieder zu sich gekommen war.
»Der rohe Mensch! Der brutale Mensch!«
Susanne bemühte sich vergebens, sie zu beschwichtigen, aber der Unwille der Gemißhandelten war zu groß. In ihrer Ehe hatte sie sich angewöhnt, sich eher für den überlegenen Teil zu halten. Nie hatte ihr Mann sich einfallen lassen, ihr irgendwie entgegenzutreten, ihr Vorhaltungen oder Vorschriften zu machen. Nun war sie aufs tiefste empört über diesen Rest männlicher Roheit und Barbarei, wie sie es in gänzlicher Verständnislosigkeit der sich in ihm vollziehenden aus heißestem Schmerz, aus bitterster Reue geborenen Reaktion nannte. Und so erhob sie ihre Stimme, und sich zu dem noch immer schluchzenden Mann hinüberneigend, ließ sie einen ganzen Hagel von Verwünschungen auf ihn herniederprasseln.
Er hörte anfangs nicht darauf, ganz seinem Schmerz, seinen zermarternden Selbstvorwürfen hingegeben. Endlich aber ließ er seine Hände sinken und sah sich wirr mit fragenden, forschenden Blicken im Zimmer um, als sei ihm das Bewußtsein der Gegenwart geschwunden, als müsse er sich wieder erst zurechtfinden. Sein Ohr lauschte, die Reden der unablässig Scheltenden drangen zu seinem Bewußtsein.
Da sprang er plötzlich auf, da packte ihn von neuem die Wut.
»Hinaus mit dir!« rief er und seine Augen quollen ihm fast aus den Höhlen, seine Haare sträubten sich. »Hinaus! Mir aus den Augen!«
Sie aber schritt ihm, ebenfalls in hellem Zorn, entgegen.
»Bist du von Sinnen? Bist du denn ganz und gar verrückt!«
Er stürzte sich auf sie und faßte sie, außer sich, am Halse.
»Ich bringe dich um, ich bringe dich um! Ich will dich nicht mehr sehen, du – du!«
Da war ihr Widerstand gebrochen.
»Hilfe!« kreischte sie, voll Angst und Atemnot rot und blau im Gesicht.
Susanne warf sich zwischen die Ringenden, wehrte mit der rechten Hand den wütenden Ehemann ab und drängte mit der linken die Frau zurück.
»Gehen Sie doch!« raunte sie der halb Bewußtlosen zu. Und während Frau Paula sich instinktiv aus dem Zimmer flüchtete, redete sie auf den Redakteur ein.
Er rang nach Luft, wie nach einem Krampfanfall, und sah sie fragend, bestürzt, wie aus einem Traum, aus einer Betäubung erwachend an.
»Was denn?« stammelte er. »Verzeihen Sie! Was war denn?«
Er sank wieder atemlos, ganz erschöpft und ermattet auf den nächsten Stuhl. Susanne aber eilte davon. Sie sagte sich, daß ihre nächste dringlichste Aufgabe war, Frau Paula in Sicherheit zu bringen. Ihr bloßer Anblick – das sah sie – reizte den gänzlich Fassungslosen, den die tiefen Erschütterungen am Krankenlager, beim Todeskampfe seines Kindes seelisch ganz gebrochen hatten, aufs äußerste. Die beiden Eheleute mußten wenigstens für eine kurze Zeit getrennt werden, bis er den ersten heftigen Ansturm des Schmerzes überwunden hatte.
In aller Eile half sie der angstvoll, zitternd im Flur Stehenden in ihren Paletot hinein und legte selbst hastig ihr Jackett an. Dann faßte sie die Hand der Freundin, die alles mit sich geschehen ließ und sich ohne Widerspruch ihren Maßnahmen fügte. Unterwegs, auf der Straße, entwickelte Susanne ihrer Begleiterin ihre Ansicht. Sie halte es für unbedingt nötig, daß Frau Paula die Nacht bei ihr verbringe, vielleicht auch noch die nächsten Tage. Ihr – Paulas Gatte – bleibe am besten einige Zeit sich selbst überlassen. Hoffentlich werde er sich bis morgen so weit beruhigt haben, daß sie mit ihm in Ruhe das weitere verabreden könne.
Frau Paula sagte zu allem ja und dankte herzlich. Ihre anfängliche Empörung hatte tiefer Niedergeschlagenheit Platz gemacht, sie konnte sich nun doch nicht mehr des Eindrucks erwehren, daß aus dem Gebaren ihres Mannes wohl etwas anderes, als die bloße Aufwallung männlicher Rechthaberei gesprochen hatte. Sie schien zu ahnen, daß hier ein tiefer, nachhaltiger, seelischer Vorgang zum Ausbruch gedrängt hatte, und vielleicht ging ihr daneben auch ein ganz klein wenig die Erkenntnis von der Berechtigung seiner starken Erregung und Empörung auf, die sich so stürmisch gegen sie gekehrt hatte.
Das Dienstmädchen öffnete und war so überrascht über die unvermutete Begleitung, mit der die Frau Bürgermeister nach Hause kam, daß sie ganz den üblichen Gruß vergaß. Susanne führte ihren Besuch zunächst in ihr Zimmer und suchte dann ihren Gatten auf, der ihrer im Wohnzimmer harrte. Sie sah, daß er aufs höchste überrascht war von ihrer Mitteilung; seine Augenbrauen rückten näher aneinander, wie immer, wenn er seine Mißbilligung über irgend etwas ausdrücken wollte; auch schüttelte er wiederholt lebhaft mit dem Kopf.
»Du kannst doch nicht im Ernst daran denken, diese – diese Frau Reichelt die Nacht über bei uns zu beherbergen?«
In ihrem Gemütszustand berührte sie sein kaltherziger Widerspruch, mit dem sie ganz und gar nicht gerechnet hatte, doppelt empfindlich.
»Du wirst doch nicht annehmen, daß ich mit solchen Dingen scherze«, erwiderte sie und sah ihn mit ihrem ernsten Gesicht an, in dem noch die Spuren der durchlebten Aufregungen deutlich vibrierten.
»Nun, dann muß ich dir erklären,« fuhr er unbeirrt fort, »daß ich mich in keinem Fall dazu verstehen kann, eine davongelaufene Frau, noch dazu die Gattin des Herrn Reichelt, in meiner Wohnung aufzunehmen.«
In ihr war alles Wärme und Weichheit, Mitleid und herzliche Hilfsbereitschaft. Seine entschiedene Weigerung traf sie wie ein Schlag ins Gesicht.
»Ich erlaube mir dir zu bemerken,« gab sie erregt zurück, »daß das nicht bloß deine, sondern auch meine Wohnung ist.«
Das Zittern in ihrer Stimme und ihre matte Haltung, die trotz ihrem Bemühen sich zusammenzuraffen, die Anstrengungen und seelischen Erschütterungen der letzten Tage und Nächte sichtbar offenbarten, dämpfte seine Heftigkeit.
»Sei doch vernünftig, Susanne!« sagte er ruhig, überredend. »Sieh doch selbst ein, daß es nicht geht! Halte mich doch nicht für eigensinnig, halsstarrig oder gar für herzlos! Es geht doch einfach nicht. Ja, wenn es nicht gerade diese Frau Reichelt wäre! Unser Mädchen kennt sie. Morgen weiß es die ganze Stadt.«
»Aber ich kann sie doch nicht teilnahmlos, mitleidlos auf die Straße werfen!«
»Nein! Du bringst sie einfach wieder nach Hause. Sie haben sich geschlagen, sie werden sich wieder vertragen.«
Die Nuance von Verachtung, die im Ton seiner Stimmung lag, ohne daß er es vielleicht beabsichtigt hatte, erbitterte sie von neuem.
»Darüber erlaubst, du mir wohl das Urteil. Vor morgen werde ich sie keinesfalls zu ihrem Manne lassen.«
»Nun, dann wird sie irgendwo anders Unterkunft finden.«
Ihre Ungeduld, ihre Erbitterung wuchs.
»Wie? Du mutest mir zu, ich soll sie hinausweisen aus – aus kleinlichen Bedenken? In ihrem Zustand soll ich ihr den kühlen Rat geben, von Tür zu Tür zu gehen und anderswo um ein bißchen Mitleid zu betteln? Eine solche Erbärmlichkeit mutest du mir zu? Nein! Für mein Empfinden gibt's hier nur eins: Hilfe, Erbarmen. Das ist einfachste Menschenpflicht. Da darf mich das Gerede der Leute nicht kümmern.«
Sie wollte sich entfernen, aber sein Ruf hielt sie zurück.
»Susanne! Und doch muß ich dir erklären, daß Frau Reichelt nicht bei uns bleiben kann.«
Sie schnellte herum, sie schien es nicht fassen zu können.
»Wie, du willst mich wirklich hindern, ihr in meinem Zimmer eine Zuflucht zu gewähren für diese eine Nacht?«
»Ich muß es. In unser beider Interesse. Du übersiehst, impulsiv wie du bist, wieder einmal die Folgen. In Ehezwistigkeiten soll man sich überhaupt nicht mischen. Wenn nun der Mann käme und mich zur Rede stellte? Soll ich es darauf ankommen lassen, daß er mir einen Skandal macht? ... Wenn es dir peinlich ist, will ich selbst mit Frau Reichelt sprechen.«
Er machte ein paar Schritte der Tür zu. Aber sie stellte sich ihm entgegen und breitete zur Abwehr ihre Arme aus.
»Wenn du sie hinausweisest, dann –« sie atmete tief, hob ihren Blick und sah ihm mit fester Entschlossenheit in die Augen – »dann weisest du auch mich hinaus.«
Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Susanne!« Auch in ihm bäumte sich der Widerstand, flammte die Energie mit aller Macht auf. Er dachte an das, was bereits geschehen war und an seinen Vorsatz, er sagte sich, daß es sich, ganz abgesehen von dieser einen Sache, um die Gestaltung ihres ganzen zukünftigen Verhältnisses zueinander handelte, und daß er auf keinen Fall wieder nachgeben dürfe. Er trat ganz dicht vor sie hin und heftete seinen Blick drohend, gebieterisch auf sie.
»Susanne, überlege dir wohl!«
»Hier gibt's nichts mehr zu überlegen«, unterbrach sie schroff und das, was sich seit Wochen und Monaten in ihr angesammelt, brach unaufhaltsam hervor. »Zu sehr habe ich mich bereits von dir biegen und beugen lassen. Ich lasse mich nicht mehr zu unsittlichen Handlungen von dir zwingen. Und wenn du mich hinderst, einer Unglücklichen ein Obdach zu bieten, dann kann ich diese Wohnung auch nicht mehr als die meine betrachten.«
»Soll das heißen – ?«
»Daß ich mit ihr gehe, daß ich sie nicht im Stich lasse.«
»Ich verbiete dir –«
Er wollte sie am Arm fassen, aber sie wich rasch einen Schritt zurück und maß ihn mit einem sprühenden Blick.
»Also wirklich Gewalt? Rohe Gewalt? Hast du denn gar keine Selbstachtung mehr?«
Eine glühende Röte schoß ihm ins Gesicht, rasch zog er seine Hand zurück. Er bebte am ganzen Leibe vor mühsam beherrschter Erregung.
»Wenn du die Nacht aus dem Hause bleibst, dann –«
»Dann darf ich nicht mehr zu dir zurück. Ja, glaubst du denn, daß ein Zusammenleben zwischen uns nach dieser Szene überhaupt noch möglich ist?«
Er erwiderte nichts, sondern stöhnte nur in sich hinein. Mit erhobenem Haupt schritt sie zur Tür.