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XII.

Und doch drangen in den nächsten Tagen bei Susanne Bedenken und Zweifel wieder an die Oberfläche und es regte sich in ihr eine bohrende Unzufriedenheit gegen sich selbst. Sie tadelte sich und empfand es als demütigend, daß sie ihm gegenüber so schwach war. Er brauchte sie nur einfach in seine Arme zu nehmen, und ihre Widerstandskraft, ihr Selbstgefühl schwanden dahin. Hatte sie keinen höheren Ehrgeiz, als nur seine Geliebte zu sein? Verflachte, korrumpierte sie dadurch nicht ihre Ehe? War sie nicht selber schuld, wenn er ihr seinen Willen immer wieder aufaufzwang, wenn er sich gewöhnte, sie als das gefügige Werkzeug seiner Interessen und Wünsche zu betrachten? War es nicht ihre Pflicht, ihm gegenüber mehr Willenskraft, mehr Selbstzucht, mehr Selbstachtung zu beweisen? Stand nicht ihre Zukunft, ihr beider Glück in Frage, wenn sie sich nicht endlich aufraffte und ihrem Zusammenleben eine ernstere und festere Grundlage gab?

Ja, es war die höchste Zeit, daß sie sich auf sich selbst besann, daß sie ihn zwang, sie höher als ein Spielzeug, ein Mittel zur Freude und Lust zu bewerten, daß er sie auch achten lernte in ihrer Eigenart, daß er in ihr nicht nur das Weib, sondern auch den Menschen sah mit dem Rechte eines eigenen Lebens nach eigenem Willen und eigenen Neigungen.

Eines Nachmittags, als Eugen Kamberg an seinem Schreibtisch saß, um ein Aktenstück durchzusehen, das er vom Amt mit nach Hause gebracht hatte, trat Susanne zum Ausgehen fertig in sein Zimmer. Sogleich schob er die Arbeit beiseite und erhob sich.

»Ich komme mit. Du gehst doch spazieren, Susanne?«

»Nein. Ich habe einen Besuch vor, den ich eigentlich schon längst hätte abstatten sollen.«

»Bei der Frau Oberbürgermeister oder sonst einer Respektsperson, du Arme?« fragte er mit humoristischem Bedauern.

Sie schüttelte, ebenfalls lächelnd, mit dem Kopf.

»Nein, nur zu Frau Reichelt will ich.«

Die Antwort überraschte ihn sichtlich.

»Zu Frau Reich–? Aber wie kommst du denn auf einmal darauf, Susanne?«

Sie hielt seinen fragenden, offenbar mißbilligenden Blick ruhig und unbeirrt aus.

»Mein Gott, Ella erkundigt sich in jedem Brief nach ihr und da muß ich ihr doch endlich Auskunft geben. Übrigens fühle ich auch selbst das Bedürfnis, einmal wieder nach der mir so sympathischen Frau zu sehen.«

Seine Stirn lag in Falten, sein Blick war nachdenklich und heftete sich mit einem Ungewissen Ausdruck auf die vor ihm Stehende.

»Ich dachte,« sagte er langsam, zögernd, »daß du den Verkehr für immer abgebrochen hättest.«

»Aber nein!« erwiderte sie lebhaft. »Warum sollte ich? Dazu liegt doch gar keine Veranlassung vor. Paula Reichelt hat geistige Interessen. Ich kenne keine zweite Frau in der ganzen Stadt, die ihr darin gleich käme. Überhaupt, das Ehepaar ist eigenartig und ich verspreche mir starke geistige Anregungen von ihm.«

»Findest du denn die nicht in deinem Heim?« fragte er mit deutlichem Vorwurf.

Sie nickte lächelnd.

»Gewiß. Aber man muß sich doch vor Einseitigkeit bewahren. Stehst du nicht auch außerhalb des Hauses in Verkehr mit Leuten, von denen du geistig profitierst?«

»Ich?« erwiderte er etwas gereizt, nervös an seinem Bart zupfend. »Das ist doch etwas anderes. Du solltest uns nicht immer in Vergleich bringen, Susanne. Ich bin schon im Interesse meines Berufes darauf angewiesen, aber du als Frau –«

»Soll mich auf den häuslichen Kreis beschränken?« fiel sie, während ihr die Röte der Erregung ins Gesicht stieg, eifrig ein. »Oder soll ich vielleicht ganz in Sorgen für den Putz und in gesellschaftlichem Klatsch aufgehen. Wolltest du das sagen, Eugen? Ist das etwa dein Wunsch?«

Er verneinte mit einer Gebärde.

»Warum so bitter, Susanne?«

Er griff nach ihrem Handgelenk und sah ihr kopfschüttelnd in das Gesicht, das von innerer Bewegung zuckte.

»Bin ich das?« Sie atmete tief und strich mit der Hand über die erhitzten Wangen. »Entschuldige! Aber ich hatte den Eindruck, daß du meinem Verkehr mit den Reichelts hindernd in den Weg treten wolltest.«

Ihre Augen blickten herausfordernd, während sich eine stille Spannung in ihren Mienen verriet.

»Du irrst«, erwiderte er nach kurzem Zaudern. »Ich bitte – ich erwarte nur von dir, daß deine Beziehungen zu dieser Familie nicht einen allzu intimen Charakter annehmen.«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Allzu intim? Ja, man kann doch vorher nicht wissen, wie sich das Verhältnis zwischen uns in längerem Umgang gestalten wird und ich kann dir in dieser Ansicht gar kein Versprechen geben. Alles, was ich dir versprechen kann, ist, daß ich mit ihnen, in ihren Kreisen, öffentlich nicht hervortreten werde, um dich nicht in deinem Amt zu schädigen. Mehr kannst du billigerweise nicht von mir verlangen und ein Dritter vollends, meine ich, hat schon gar kein Recht, mich in meinem privaten Verkehr zu beschränken.«

»Gewiß nicht.«

»Nun also!« Sie atmete wieder tief auf, wie von einem Druck befreit, reichte ihm die Hand zum Abschied und neigte sich ihm entgegen. Er küßte sie und sah ihr dann nachdenklich mit besorgter Miene nach.

Eine halbe Stunde vor der Abendbrotzeit kam sie zurück. Er beobachtete sie im stillen. Ihren lebhaften, frischen Bewegungen, ihren glänzenden Augen entnahm er, daß sie sich in bester Stimmung befand. Er aber konnte sich, obwohl er ihr die Zerstreuung, die seelische und geistige Anregung, die sie in der fremden Familie empfangen zu haben schien, wohl gönnte, eines unbehaglichen, fast eifersüchtigen Gefühls nicht erwehren, denn er glaubte zu bemerken, daß sie mit ihren Gedanken noch immer nicht recht zu Hause war.

Von da ab suchte Susanne die ihr befreundete Familie wöchentlich zwei- oder dreimal auf. Gewöhnlich ging sie in der vierten Nachmittagsstunde und blieb meist bis gegen sieben Uhr. Eugen Kamberg vermied es geflissentlich, sie nach ihren Erlebnissen in der Familie Reichelt und nach den Gesprächen zu fragen, die zwischen ihnen geführt wurden. Aber aus gewissen Tatsachen ergab sich das klar. Susanne legte mit einem Mal ein starkes Interesse für die soziale Frage an den Tag und bat sich von ihm die Schriften von Engels und Marx und andere grundlegende und bekannte Bücher der sozialistischen Literatur aus. Und sie begann sich mit einem Eifer in das Studium dieser zum Teil recht schweren, streng wissenschaftlichen Werke zu vertiefen, der ihm durchaus nicht recht war. Denn erstens glaubte er wahrzunehmen, daß ihre Gesundheit und ihr Aussehen darunter litt. Gesellschaftliche Veranstaltungen besuchte sie gar nicht mehr, und es kam vor, daß er sie, wenn er des Nachts von irgendeiner Gesellschaft nach Hause kam, noch bei ihren Büchern traf, abgespannt, mit tiefen Linien vom vielen Denken und Grübeln in der Stirn, blaß, mit vornübergeneigter, schlaffer Haltung. Fast jedesmal, wenn er sie zu einem Nachmittagsspaziergang aufforderte, kostete es einen förmlichen Kampf, sie seinem Wunsche geneigt zu machen. Zweitens empfand er es als eine Beeinträchtigung seiner Interessen und als eine Verletzung seiner berechtigten Ansprüche als Mann, daß sie seinen Mitteilungen über seine amtliche Tätigkeit nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit schenkte wie früher. Dagegen entspannen sich jetzt regelmäßig des Abends große Debatten zwischen ihnen, die alle soziale Themata zum Gegenstand hatten. Dabei gerieten sie meist in eine hitzige Opposition gegeneinander und wenn es ihn auch mit einer gewissen Genugtuung erfüllte, daß sie ein so sachlich tiefgehendes und verständnisvolles Interesse für diese ernsten Fragen bekundete und ihre Ansichten mit großem Scharfsinn und beredten Worten zu vertreten wußte, so erregte es doch ein steigendes, bohrendes Mißbehagen in ihm, zu bemerken, daß ihre Stellung ihm gegenüber sich ganz und gar geändert hatte. Wenn er früher mit ihr über wissenschaftliche Fragen gesprochen hatte, so hatte sie sich sein Urteil und seine Meinungen fast immer ohne Widerspruch zu eigen gemacht. Nun aber war das anders geworden; nun wurde er täglich mehr inne, daß sie ihm geistig mehr und mehr entglitt und daß sie besonders in der sozialen Frage einen ganz anderen Standpunkt einnahm als er.

»Die Arbeiterbewegung und die Frauenbewegung«, äußerte sie eines Abends, »haben viel Verwandtes miteinander, beide entspringen ähnlichen Ursachen und haben das gleiche Ziel: die Selbständigkeitserklärung der sozial Schwachen und Abhängigen.«

»Wer hat dich denn auf einmal auf diese Entdeckung gebracht?« fragte er mit einem ironischen Lächeln.

»Auf einmal? Das ist wohl allmählich in mir entstanden.«

»Im Gedankenaustausch mit dem Ehepaar Reichelt?«

»Du irrst, du solltest wohl wissen, daß ich mir meine Anschauungen nicht inspirieren lasse.«

»Von mir allerdings nicht«, versetzte er bitter. »Aber ich bezweifle, daß du ohne diesen Verkehr je auf solche Gedanken gekommen wärst.«

Er sah sie ein wenig spöttisch und zugleich vorwurfsvoll an. Plötzlich ergriff er ihre Hand und sagte ernst und warm: »Ist es nicht traurig, Susanne, daß du geistig immer mehr in einen Gegensatz zu mir gerätst und daß dir die Anschauungsweise dieses Herrn Reichelt näher steht als die deines Mannes?«

Sie ließ ihre Blicke ernst und durchdringend auf ihm ruhen.

»Ist das meine Schuld, Eugen? Herr Reichelt ist der einzige Mann, den ich kenne, der seiner Frau vollkommene Freiheit und Gleichberechtigung zuerkennt. Daß ich das bewundere, kann dich das befremden?«

Die Mienen des Ehemanns verfinsterten sich, während er in das strahlende Antlitz seiner Frau blickte.

»Das sagst du mit einem Enthusiasmus –«

»Den ich allem Hohen und Edlen gegenüber empfinde.«

»Edel?« Er lachte rauh. »Ein Phantast ist er – dein Herr Reichelt! In einer Ehe läßt sich völlige Gleichberechtigung ja überhaupt gar nicht durchführen, weil –«

»Weil –?«

Er sah ihr in die kampflustig blitzenden Augen, lachte ironisch und sprang auf, um zu ihr hinüberzueilen.

»Einfach, Schatz, weil Mann und Frau in jeder Hinsicht grundverschieden sind. Der Mann ist von Natur mehr aktiv, die Frau passiv. Der eine küßt, der andere läßt sich lieber küssen.«

Er beugte sich mit gespitzten Lippen zu ihr hinab, aber sie drängte ihn ärgerlich zurück.

»Nein, ich will, daß du mir ernsthaft antwortest. Nicht Küsse, Gründe will ich.«

Er aber schüttelte halb ärgerlich, halb belustigt den Kopf. »Nein! Geschwatzt ist nun genug! Denkst du, ich habe eine so hübsche kleine Frau genommen, um immer nur mit ihr zu disputieren? Dazu wäre ja deine Schwester, das Fräulein Doktor, viel geeigneter gewesen. Nein, küssen will ich dich, küssen!«

Er umschlang sie kräftig und küßte sie herzhaft trotz ihrem heftigen Sträuben. Zornig, puterrot sprang sie auf und stampfte erregt mit dem Fuß auf.

»Deine – deine Gewalttätigkeit finde ich verabscheuenswert«, stieß sie pustend und keuchend hervor. »Ich lasse mich nicht wie ein Kind behandeln, das man nicht ernst nimmt.«

Dunkle Glut flammte in seinem Gesicht auf; auch sein Atem fing an schneller, lauter zu gehen; ein paar Sekunden lang sah er sie mit finster gerunzelten Brauen, drohend an. Endlich zuckte er mit den Schultern, schüttelte mit dem Kopf und kehrte, ohne ein Wort zu erwidern, zu seinem Platz zurück und nahm seine Zeitung zur Hand. Auch sie setzte sich und beugte sich über ihr Buch und so brachten sie den Rest des Abends schweigend, anscheinend eifrig lesend zu.


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