Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Fünfzehntes Kapitel

Gilbrecht ging am anderen Morgen nicht wie sonst auf den Viskulenhof, sondern wollte nach der Rückkehr des Hausherrn abwarten, bis man ihn rufen würde. Statt dessen kamen zu ungewöhnlich früher Stunde die Viskules, der Ratsherr mit Sohn und Tochter, selber in das Böttcherhaus. Es war ein herzergreifendes, überaus beglückendes Wiedersehen. Heinrich Viskule konnte seiner Bewegung kaum Herr werden, und mehr als einmal versagte ihm die Stimme, wie er den Hennebergs seinen Dank aussprechen wollte; er hielt die Hand seines Freundes Gotthard lange in der seinigen und sah ihn dabei mit blinkenden Augen an. Frau Johanna umschlang er und küßte sie auf die Wange. Dann wandte er sich zu Gilbrecht und sprach: »Und was sage ich dir?! Ich weiß alles, alles weiß ich, Gilbrecht! Wie du Hildegund aus dem Kloster geholt und wie du Balduin zur Seite gestanden hast. Als sie mich fortschleppten, konntet ihr mich nicht frei machen, und nun bist du doch gekommen mit deinem lieben Alten und hast mich errettet. Wenn ich dir das je vergesse – euch allen, euch allen!« Und er schüttelte jedem die Hand, auch Lutke und dem guten Gesellen, dem Jakob, der sich bescheiden hinter den anderen zurückgehalten hatte. Hildegund stand neben Gilbrecht, leise an ihn gelehnt, und hatte heimlich seine Hand erfaßt, die sie ihm mit aller Kraft drückte. Meister Gotthard erzählte seinem Freund nun, auf welche Weise er in den blauen Turm gelockt und wie dadurch die Befreiung möglich geworden wäre, und der Ratsherr sprach zu Arnold: »Bringe mir deine Ursula, Arnold! Ich muß sie sehen, muß ihr danken, und dem Dippold will ich aufhelfen, wie ich kann; er hat es um mich verdient.«

»Da tut Ihr ein gutes Werk, Herr Ratsherr!« sprach Johanna. »Der Mann hat mich schon lange gedauert, und ich glaube, manchen anderen auch, der es nur nicht eingestehen will.«

Dabei blickte sie ihren Gotthard an; der aber war zerstreut und unruhig, und das frohe Wiedersehen mit den Viskules schien ihm nicht die reine Freude zu bereiten wie allen übrigen. Er ging in der Stube hin und her, sprach wenig, war gedankenvoll, beinahe finster, und es hatte den Anschein, als dauerte ihm der Besuch der Freunde schon zu lange.

Arnold hätte am liebsten seine Ursula gleich hergeholt, um sie als seine Braut der Mutter ans Herz zu legen und ihr den lange verweigerten Segen seines Vaters geben zu lassen. Sie wußte ja noch gar nichts davon, daß sie nun mit ihm glücklich werden durfte.

Balduin wandte keinen Blick von Ilsabe. Er rang mit dem Entschluß, ob er diese glückliche Stunde nicht benutzen und im Kreise der versammelten Familien um Ilsabe werben sollte. Ilsabe erriet seine Gedanken und war in jedem Augenblick darauf gefaßt, ihn seine Rede beginnen zu hören; ihr wogte die Brust und brannten die Wangen. Allein auch Balduin bemerkte Meister Gotthards unruhiges und düsteres Wesen, für das er keinen Grund finden konnte, weil er nicht ahnte, was in dem sonst so gastfreundlichen Mann vorging. Darum schwieg er.

Herr Heinrich Viskule ward mehr und mehr guter Dinge; er war so lange in der Einsamkeit des Kerkers zum Schweigen verdammt gewesen, und da floß nun sein dankerfülltes Herz über in heiteren und freundlichen Worten gegen alle die lieben Seinigen um ihn her, zu denen er die Hennebergs zählte, als wären sie seines Blutes.

Er vergaß darüber ganz die Gefahr, in der er, der gewaltsam Befreite, und seine Befreier schwebten, solange des eingesperrten Dalenborgs Genossen die Macht hatten, den Streich zu rächen.

»Johanna«, sprach er lächelnd zu der Frau, während Hildegund mit Gilbrecht flüsterte und Balduin und Ilsabe sich mit stumm redenden Blicken gegenübersaßen, »Johanna, unser Gotthard ist doch der klügste von uns gewesen, daß er damals meinem Wunsche nicht gefolgt und nicht in den Rat getreten ist; denn sonst wäre er auch mitgeturnt, und wer hätte dann uns, wer hätte ihn befreien sollen?«

Gotthard hob die Hand mit mahnendem Zeigefinger und nickte dem Ratsherrn ernst und bedeutungsvoll zu. Johanna aber sagte: »Oh, Herr Ratsherr, wie oft hab' ich daran schon gedacht und ihm im stillen gedankt, daß er damals fest geblieben ist! Was sollten wir anfangen, ohne ihn?«

Da ward die Tür hastig aufgetan, und keuchend, mit wankenden Schritten und schreckentstellten Zügen kam der Ratskellermeister Ambrosius von dem Rhyne herein.

»Gotthard!« stammelt er. »Ach! Und Ihr, Herr Ratsherr, seid Ihr da? Seid Ihr frei? So danket Gott und hört es gleich zusammen, das Schreckliche, das Grausige! Er ist tot! Er ist tot!«

»Wer? Wer ist tot?« fragten schnell die anderen.

»Der Bürgermeister Springintgut. Sie haben ihn – im Turm – o Gott, o Gott! – sie haben ihn ver – verhungern lassen!«

Ein Ausruf des Entsetzens antwortete ihm aus dem Munde der einen, starr blickten die anderen.

Der Kellermeister war auf einen Stuhl gesunken; sie waren aufgesprungen und umstanden ihn alle.

Meister Gotthard faßte den ganz in sich zusammengebrochenen Alten mit beiden Händen an den Schultern, und seine Stimme klang heiser und stoßweise, wie wenn die Luft ihm ausginge, als er fragte: »Ambrosius! Sprecht! Wie ist's gekommen? Wann ist er gestorben?«

»Diese Nacht«, hauchte Ambrosius, »der Schließer hat ihn heute früh tot im Kerker gefunden und hat es in seiner Seelenangst dem Knecht gestanden, der bei ihm ist und mit dem ich gut bekannt bin, daß er dem Gefangenen auf Dalenborgs und der anderen Befehl schon lange keine Nahrung mehr gereicht hat. Gestern noch hat er, wie er sein Ende spürte, mit matter Stimme gebeten und gefleht um einen Priester und die himmlische Wegzehrung. Umsonst! Sie haben es ihm verweigert.«

Schaudernd, in Mark und Bein erschüttert, hörten sie den grausigen Bericht. Gotthard Henneberg schlug sich die gefalteten Hände vor die Stirn, und mit gewaltigen Schritten auf- und niederrennend, daß sie alle vor dem furchtbar Ergrimmten zur Seite wichen, rief er aus: »Und ich habe gezögert und gezaudert und gewartet. Einen Tag früher, und ich hätte ihn gerettet! Sülfmeister, räche mich! Aber jetzt –«, er reckte seine Hünengestalt und hob die geballten Fäuste hoch empor, »Herr Gott im Himmel! In dieser Stunde soll es sein! Johanna, wo hast du die Stabhölzer?«

Johanna griff schnell in den Wandschrank und gab ihm die fünf Täfelchen. Er öffnete die Tür und rief hinaus, daß die Diele hallte: »Arnold! Jakob! Lutke! Schnell herein!« Und als die drei gesprungen kamen, sprach er: »Hier, diese Stückchen Holz bringt ihr, so schnell ihr könnt, wohin ich euch sage. Arnold, du zu Schnewerding, Gilbrecht zu Schuttenhelm, Jakob zu Stephan Bartels, Lutke zu Eekholt, und dies –« Er sah sich im Kreise um.

»Ich, Vater, ich« rief Ilsabe.

»Ja, mein Mädchen, du! Du bringst es Hans Laffert. Lauft, lauft! Und gebt es jedem der Meister selber in die Hand; zu sagen braucht ihr nichts, als einen Gruß von mir. Kinder, ich verlasse mich auf euch, richtet eure Sache gut aus! Schnell! Fort!«

»Ja, ja!« riefen sie in Hast und Eile. Gilbrecht faßte des Meisters Arm und sagte: »Vater, eine Bitte! – Überlaß mir Sengstake!«

»Gut, Gilbrecht!« sprach der Meister. »Und wenn es sein kann, bring ihn mir ganz und lebendig, sonst aber in Stücken, Glied für Glied!«

»Ich bring' ihn dir, Vater!« rief Gilbrecht und eilte den anderen nach.

»Jetzt geh, Alter!« sprach der Meister zu Heinrich Viskule. »Und du, Balduin, wappne dich und alle eure Leute auf dem Hofe. – Ambrosius, auf Wiedersehen! – Johanna, komm, hilf mir in den Harnisch!«

So kamen die befehlenden Worte Schlag auf Schlag aus dem Munde des Meisters. Die Stube war leer. Gotthard ging mit seiner Johanna hinauf in die Rüstkammer.

Des Sülfmeisters Kinder aber eilten durch die Gassen. Sie wußten nicht, welche Botschaft sie trugen, aber sie ahnten es; ihre jungen Herzen klopften bei den beflügelten Schritten, als hätten sie mit dem Stückchen Holz das Geschick der Welt in ihren Händen, und sie hielten es umklammert wie ein unschätzbares Kleinod.

Als Gilbrecht zu Schuttenhelms Werkstatt kam, hielt er dem dort rüstig Schaffenden das Stabholz hoch entgegen. Da tat der Schmied mit seinem schweren Hammer einen Schlag auf den Amboß, daß das glühende Eisen darauf mitten durchbrach und die Funken nach allen Seiten stoben. »Endlich! Endlich! Sülfmeisterssohn, gib her!« Er drückte dem jungen Böttcherknecht die Hand, wie sie diesem noch von keiner anderen Menschenhand gedrückt worden war, dann setzte er sich schnell die Sturmhaube auf, die schon seit drei Tagen in der Diele hing, und lief mit seinem Hammer fort, so wie er am Amboß gestanden hatte; seine zwei Gesellen hinter ihm her.

Das Zeichen zum Stürmen der Glocken, womit die ganze Bürgerschaft aus ihrer Ruhe geschreckt und zum Kampf in den Ringmauern der Stadt gerufen werden sollte, lag in Ilsabes Hand. Schnellfüßig schritt sie dahin mit fliegendem Atem und hochroten Wangen und traf Hans Laffert zwischen seinen Gesellen in der Werkstatt bei emsiger Arbeit, die wenig Geräusch machte. Einer der Gesellen klopfte mit einem kleinen Hammer an einer gebogenen Platte herum; das gab einen silberhellen Klang. Als der Meister das schöne Mädchen bei sich eintreten sah, rückte er an dem Samtkäppchen auf seinem schlohweißen Haar und bot ihr die Hand zum fröhlichen Willkomm. Ilsabe trat dicht an ihn heran und drückte ihm geheimnisvoll das Stabholz in die Hand. »Einen Gruß vom Vater!« flüsterte sie. Wie erschrak Hans Laffert, als er das Zeichen erkannte! »Des Sülfmeisters Marke!« rief er aus und faltete die Hände wie zu einem Stoßgebet.

»Macht euch langsam fertig«, sprach er zu seinen Gesellen, »die Stunde ist da; ihr wißt, was ihr zu tun habt. Holt eure Brüder ab, und läutet Sturm aus Leibeskräften!«

Die Gesellen legten die Arbeit hin und eilten in ihre Kammern, sich bereitzumachen.

»Geh, mein Liebling«, sprach der Meister zu Ilsabe, »und sage deinem Vater, Hans Laffert täte seine Schuldigkeit.«

Ilsabe eilte davon, aber nicht nach Hause, sondern mit einem raschen, hochherzigen Entschluß lief sie zur Nikolaikirche, wo in einem Vorraum die Glockenstränge von der Decke niederschwebten. Einen derselben erfaßte sie, hing sich mit dem Gewicht ihres jugendlich blühenden Körpers daran und zog mit starken Armen, was sie nur konnte.

Es dauerte eine Weile, bis sie die Glocke in Schwung brachte. Bald aber schlug der erste Ton aus der Höhe an ihr Ohr, und nun läutete sie regelrecht, daß es weithin über alle Stadt klang.

Da nahten die Goldschmiedegesellen, nicht die von Hans Laffert, sondern von einem anderen Meister, nicht wenig überrascht, als sie sahen, wer ihnen zuvorgekommen war und ihr Geschäft übernommen hatte. Sie lösten die holde, die glühende Mesnerin des Aufruhrs ab und zogen nun auch die übrigen Seile.

Als Ilsabe aus der Kirche heraustrat und sich auf den Heimweg begab, hörte sie die Glocken schon von allen Seiten; von allen Türmen klang es und rief es und heulte es: Sturm! Sturm! Sturm!

Zu Hause in der Diele traf sie ihren Vater zum Aufbruch bereit. Sie warf sich an seine bepanzerte Brust und jubelte: »Vater, die erste Glocke, die du gehört hast, habe ich gezogen!«

»Darum also klang die eine so früh und so lange allein«, erwiderte der Meister. »Mädchen, Mädchen! Das war gegen die Abrede. Die Glocken durften nicht früher klingen, als unsere Freunde gerüstet waren. Aber daran erkenne ich mein Hennebergisch Blut; sei bedankt, mein Kind! Du hast es wacker gemeint in deinem mutigen Herzen!« Und er küßte sie.

Jetzt kamen auch Arnold, Gilbrecht und Jakob nacheinander von der Rüstkammer herab, alle bewaffnet, die Brüder auch im Harnisch; die Mutter, die ihnen mit Lutke geholfen, folgte ihnen. Wie heldenhaft sahen die starken, hochgewachsenen Männer in Stahl und Eisen aus, als sie eine kurze Musterung unter sich hielten und dann alle vier, der Meister voran, guten Mutes hinausschritten.

»Geht mit Gott, und kommt mir heil und gesund wieder!« rief ihnen Frau Johanna nach und wischte sich eine zudringliche Träne vom Auge.

Die Vorbereitungen zum Aufstand waren allen Uneingeweihten verborgen geblieben, und als sie nun die von Ilsabe gezogene Glocke auf Sankt Nikolai zu so ungewöhnlicher Stunde läuten hörten, erstaunten sie und konnten es sich nicht erklären. Als aber eine Glocke nach der anderen einstimmte, bald das volle Geläut der Stadt von allen Türmen klang und nur die Glocken des Rathauses schwiegen, als sicherstes Zeichen, daß der Rat nicht darum wußte, da blieb kein Zweifel mehr, das war nicht Feuerlärm, das war Aufruhr, die Glocken riefen zum Kampf. Den davon Überraschten blieb nicht Zeit zum Erkunden und Fragen, denn jeder hatte seiner Gilde einen bewehrten Mann zu stellen. Diejenigen aber, die schon Tag um Tag und Stunde für Stunde auf die Klänge gewartet hatten, die sprangen freudigen Mutes auf, von ruheloser Ungeduld endlich erlöst. In allen Werkstätten ward die Arbeit mitsamt dem Gerät hingeworfen, wohin sie fiel, Meister und Gesellen griffen zu Schwert und Spieß und stürmten hinaus, und durch das Glockengeläut, durch das Hetzen und Hasten, das Rennen und Treiben erscholl in allen Gassen der alte Not- und Kampfschrei: Jodute! Jodute!

Aus allen Häusern kamen die Männer hervor, alte wie junge, und schwangen die Waffen und lärmten und stoben hierhin und dorthin. Freund und Feind aus den verschiedenen Gewerken eilte mit kämpflichen Grüßen aneinander vorüber. Hier und da wurden bei der raschen Begegnung ein paar Hiebe gewechselt, aber mehr aus vorschneller Streitlust als in ernster Feindschaft, und es gab keine Wunden dabei. Jeder suchte so schnell wie möglich zu seinem Sammelplatz zu kommen, wo die Kumpane bald im Haufen standen, der noch fehlenden Genossen oder der Amtsmeister harrend. Wer von den Gegnern des Weges kam, um sich durch dieselbe Gasse zu den Seinigen zu schlagen, den ließ man nicht durch, er mußte umkehren, von Hohngelächter begleitet, vielleicht auch eine Strecke verfolgt und mit ein paar Püffen bedacht.

An den Toren tobte schon der Kampf, denn die Harnischmacher und die Schnitzler waren schnell bei der Hand gewesen und rangen nun mit den Knechten und Söldnern, hier heftigeren, dort schwächeren Widerstand findend.

»Alles, was Äste hat! Drückt fest auf, ihr Brüder von der blauen Schürze!« rief Meister Eekholt am Altenbrücker Tor. »Wir haben was abzuhobeln, was uneben war an unserem Kistenholz; nur immer scharfe Kanten!« Und am Roten Tor war Schnewerding allen voran und rief den Seinigen zu: »Schlagt zu, Plattenschläger! Sie haben ein dickes Fell, und unsere Harnische sind auch nicht von Spinneweb.«

Da gab es Beulen und Blutschläge; aber die Handwerker blieben überall Sieger, warfen die Knechte hinaus, schlossen die Tore und bewachten sie mit blanker Waffe, jedes Angriffs gewärtig,

Als Meister Gotthard mit seinen Söhnen vor dem, nahe seiner Wohnung, in der Lüner Straße, belegenen Böttchergildehaus erschien, ward er von der großen Schar seiner Werkbrüder jubelnd empfangen, und gleich darauf trafen schon Meldungen von den nächsten Toren bei ihm ein, daß sie glücklich genommen und in sicherer Hut der Bundesgenossen wären. Gilbrecht wählte sich sofort drei ihm befreundete Böttcherknechte zur Jagd auf Sengstake und machte sich still mit ihnen davon. Die Böttcher aber zogen zum Markt.

Dorthin drängte alles, denn dort mußte die Entscheidung fallen. Aber es ward nicht allen Gilden leicht, dahinzugelangen; sie trafen unterwegs mit Gegnern zusammen, und dann kam es zum Reiben und Raufen. Die Verständigeren und Besonneneren mahnten zur Eintracht und zum Abwarten und meinten, auf dem Markte würde man sich mit Worten besser verständigen als mit Schwerthieben und Lanzenstößen. Aber mittlerweile war doch mancher alte Span ausgefochten, denn mancher Meister oder Gesell hatte für den anderen etwas Besonderes auf dem Kerbholz, und diese Zeche sollte nun bei der Gelegenheit bar bezahlt werden. Die Schuster und die Gerber gerieten sich in die Haare, die Apengießer banden mit den Grapengießern an, und Sattler und Riemenschneider gedachten ihres alten Haders mit den Gürtlern und Zaumschlägern. Aber es blieb mehr bei einer handfesten Prügelei, als daß es zu blutigen Gefechten kam, und die Gesellen kühlten dabei ihren jugendlichen Mut und Übermut mehr als die Meister, die wenig Lust hatten, für den jetzt machthabenden, ihnen mißliebigen Rat das Leben zu wagen.

Anders war es mit den fünf großen Gilden, deren Amtsmeister selber im Rat saßen und die von diesem nicht nur bereits wesentliche Verbesserungen ihrer Rechte und Befugnisse erreicht hatten, sondern deren auch noch mehr erhofften. Für diese war es Ehrensache, ihre Amtsmeister nicht im Stiche zu lassen, sondern mit ihnen in hartem Trotz gegen die Widersacher auszuhalten. Darum eilten die von den nächstgelegenen Gildenhäusern zum Ratshaus, und als Meister Kerkrink mit seinen Schiffern ankam, fand er es schon von den Bäckern und Knochenhauern besetzt. Da kam es zu scharfen Worten und noch schärferen Streichen, denn die Schifferknechte zogen die Messer und stachen darauf los, und die Bäcker und Knochenhauer ließen sich das nicht gefallen, sondern stießen und schlugen derb zu, so daß es Fleischwunden gab.

Auf dem Markt boten die Tausende in ihren verschiedenartigen Erscheinungen ein gar krauses Bild, das von den Frauen und Mädchen aus den Fenstern und Luken der Häuser mit Spannung und Angst beobachtet wurde. Die sonderbarsten Waffen kamen zum Vorschein, Hellebarden, Partisanen, Piken und Armbrüste, Kolben und Schwerter jeglicher Form und Größe, auch schwere Hämmer, Eisenstangen und lange Messer. Wer von den Handwerksknechten keinen Harnisch hatte, der trug statt dessen ein ledernes Schurzfell; der eine hatte eine Stahlhaube oder einen altertümlichen Helm, der andere nur eine Kappe, und zu all dieser gemischten Ausrüstung stimmte die buntfarbige Kleidung in der oft seltsamsten Weise.

Die Genossen waren oft getrennt, indem sich die einzelnen Gilden wechselnd durcheinander schoben und manch eine mitten zwischen ihr feindlichen zu stehen kam. Alle fanden sie auch nicht den Raum auf dem Markt, oder die an den Einmündungen der Straßen wehrten herankommenden Gegnern den Zutritt. Diese suchten ihn nun auf anderem Wege, von anderer Seite, und so gab das ein fortwährendes Hin- und Herziehen durch die Gassen, eine stetige, lärmende Bewegung, die alles in Atem hielt. Sie maßen gegenseitig ihre Kräfte vorläufig mehr mit den Augen als mit den Waffen und wußten nicht recht, was sie tun sollten, ob sie den lieben Nachbarn aus derselben Straße, aber aus einer anderen Gilde, mit Hieb und Stoß anfallen sollten oder nicht. Man schien auf ein Zeichen zum Angriff zu warten, um dann auch mit allem Fleiß aufeinander loszuschlagen.

Als nun die beiden größten Gilden, die Brauer und die Böttcher, von entgegengesetzten Seiten und noch ohne sich zu sehen, heranrückten, suchte man ihnen an den Häusern entlang Platz zu machen, so daß sie bis nahe an das Rathaus vordringen konnten, denn man glaubte, daß zwischen diesen beiden unter Anführung ihrer Amtsmeister Rokswale und Henneberg der heftigste Kampf entbrennen und dann allgemein werden würde.

Inzwischen waren die Rademacher, Reepschläger und endlich die Schar der Sülzarbeiter den Schiffern zu Hilfe gekommen, hatten Knochenhauer und Bäcker zurückgedrängt und das Rathaus im Sturm genommen. Bald erschien oben auf einem der Rathaustürme ein Schifferknecht und steckte als Siegeszeichen eine Fahne heraus.

In diesem Augenblick traten die Böttcher und die Brauer sich frei gegenüber, als hätten sie sich gesucht, um gegeneinander in der vordersten Reihe zu kämpfen. Die Meister und ihre Knechte waren auf beiden Seiten kräftige Gestalten und die Führer ihrer Schar würdig. Die zwei waren die Häupter des Aufruhrs, der die Stadt erfüllte; mit einem jeden der beiden stand und fiel auch die Sache, die er vertrat. Denn hier hatten sich nicht schwer bedrückte, unterjochte Handwerksleute in geschlossener Eintracht gegen einen gemeinsamen Feind empört, um ihnen zukommende Rechte mit Gewalt zu erringen oder eingebildete sich trotzig anzumaßen und eine unerträgliche Zwingherrschaft übermütiger, üppiger Stadtgeschlechter zu stürzen, sondern das Beil stritt wider den Hammer, der Pfriemen wider den Meißel, der Böttcher wider den Brauer. Eines Standes und eines Glaubens waren die Gegner, und keiner wollte dem anderen weichen, dem anderen sich fügen.

Rokswale nahm sich in Helm und Harnisch gar stattlich und kriegerisch aus und schien zu einem bitteren Ernst entschlossen. »Henneberg«, rief er dem Böttcher zu, »wer hat nun den Frieden gebrochen? Du hast es zu verantworten, daß hier Bürger gegen Bürger steht!«

»Was für eine Antwort willst du haben?« erwiderte der Sülfmeister. »Eine mit Worten oder eine mit dem Eisen? Du kämpfst mit einem gebrochenen Schwert.«

»Versuche mein Schwert erst, ehe du es gebrochen nennst!« rief Rokswale zurück.

Meister Gotthard wollte noch etwas erwidern, aber laute Rufe übertönten seine Worte; schon fällten die Vordersten ihre Spieße und warfen den Gegnern Schmähworte und Drohungen zu. »Kommt heran, ihr Kimmer und Holzverderber!« riefen die Brauer; und »Fangt mal an, ihr Müller mit euren Hopfenstangen!« riefen die Böttcher, und es erhob sich ein wilder Lärm. Da sprang zornglühend und mit machtvoller Gebärde Gotthard Henneberg dazwischen, hob seine Hellebarde hoch empor und rief mit seiner lautesten Stimme: »Frieden und Ruhe gebiet' ich! Hört mich an!«

Alle, die ihn sehen konnten, blickten auf den Böttchermeister, der in seiner Rüstung noch gewaltiger aussah als sonst, und in seiner nächsten Umgebung ward wirklich Stille, die sich allmählich in immer weiterem Kreise verbreitete, denn die vorderen riefen den hinter ihnen Stehenden zu, daß sie schweigen sollten, der Sülfmeister wäre da und wollte Frieden machen. Da drängten sich von beiden Seiten die Amtsmeister der anderen Gilden herzu, so daß bald Dörgerloh, Hesterwegen, Regenstörp und andere mehr bei Rokswale, und Schnewerding, Kerkring, Peter Flachs und Eekholt bei Gotthard Henneberg standen; es war, als hätten sich die Heerführer vor der Schlacht versammelt und wollten Kriegsrat halten oder Waffenstillstand schließen.

Aber kaum war Ruhe geworden, so daß Gotthard Henneberg zu sprechen anfangen wollte, als sich seitlich vom Ochsenmarkt her aufs neue ein Getöse erhob. Es war ein eigentümliches Murren, aus dem einzelne Rufe, Verwünschungen und Drohungen laut wurden. Eine Bewegung entstand in der dichtgedrängten Masse, und alles wandte sich der unbekannten Ursache der Unterbrechung zu. Da teilte sich die Menge; alle blickten dem Kommenden entgegen, und man sah, wie die Nächsten daran ernst und ergriffen das Haupt entblößtem.

In der freigewordenen Gasse kam langsam der Amtsmeister der Maurergilde, Stephan Bartels, geschritten, und hinter ihm trugen vier Werkmeister eine Bahre, darauf lag der Leichnam des Bürgermeisters Johann Springintgut.

Dicht dahinter ging eine Anzahl Geschlechterherren, die gerüstet und gewappnet beim Ausbruch des Aufstandes zu den Türmen geeilt waren, um ihre eingekerkerten Standesgenossen zu retten, und einige der befreiten Ratsherren hatten sie auch in ihrer Mitte, die Herren Albrecht von der Mölen, Marquard Mildehövet, Garlop, Dassel und Brömbsen. Dann folgten die Maurer und führten den Kerkermeister Springintguts gebunden mit sich.

Die vier Meister setzten die Bahre auf dem Markt nieder, mitten zwischen die feindlichen Gilden, und ein Grausen erfaßte die starken Männer, wie sich der Tote hier zwischen die Lebendigen drängte und mitten im Streit und Lärm das ewige Schweigen brachte.

War es nicht, als wenn der tapfere Bürgermeister, was er im Leben nicht mehr gekonnt hatte, selbst im Tode noch versuchte? Daß er gerade jetzt hier auf den Markt kam, um seine Bürger im Augenblick der höchsten Gefahr vor einem blutigen Kampf zu retten und die schon auf sich Eindringenden mit seinem entseelten, todesstarren Leibe zu trennen? Dieser Gedanke, dieses Gefühl mochte wohl die Umstehenden alle beschleichen, denn sie senkten die schon erhobenen Waffen, und es ward lautlose Stille.

Gotthard Henneberg blickte auf das marmorbleiche, tief eingefallene Antlitz des einst so mutigen, tatkräftigen Mannes, der die Freiheit und Ehre seiner Stadt bis zum letzten Augenblick seines Regiments verteidigt hatte und nun in der Blüte seiner Jahre auf die grauenhafteste Weise elend zugrunde gegangen war. Dann sah er scharf und forschend die fünf Amtsmeister-Ratsherren der Reihe nach an und sprach mit strenger, tiefer Stimme: »Hier, euer Opfer, ihr Ratmannen von Lüneburg: Wißt ihr's oder wißt ihr's nicht, wie Bürgermeister Springintgut gestorben ist? Der Rat hat ihn im neuen Turm verhungern lassen!«

Die letzten Worte rief er so laut, daß sie weithin schallten, und in weitem Umkreise ertönte ein Schrei der Entrüstung. Die Handwerker nahmen eine sehr drohende Haltung an und schossen finstere Blicke auf jene fünf Amtsmeister aus dem Rat. Sie stießen mit den Hellebarden und Piken auf die Steine, und aus dem dumpfen Grollen ringsum drangen heftige Rufe, wie: »Schlagt sie nieder! Reißt sie in Stücke! Wo ist Dalenborg? Tod den Mördern!«

Gotthard Henneberg schaute sich um, und auf seinen Wink ward Ruhe. »Rokswale«, sprach er, »hier, den Toten, den vom Rate gemordeten Toten, den frage, wer den Frieden gebrochen hat. Und wenn er dir jetzt nicht Antwort gibt, so tut er es vielleicht, wenn ihr mit ihm da oben vor dem Thron des ewigen, allwissenden Richters steht.«

Da trat Rokswale einen Schritt zurück, reckte die Hand zum Schwur empor und sprach: »Henneberg und ihr Brüder alle! So wahr die Sonne scheint, mit diesem Mord haben wir, die wir hier stehen, nichts gemein; das hat nicht der Rat, das haben Buben und Schelme getan, die Gott verdammen mag in Ewigkeit!«

»Wir wollen's euch glauben«, sprach Meister Gotthard, »denn von euch ist mir's undenkbar; aber ihr werdet euch zu verantworten haben vor gemeiner Bürgerschaft.«

»Das wollen wir«, erwiderte Rokswale, und die anderen stimmten ihm bei. »Wir kämpfen nicht mehr mit euch, wir geben uns in eure Hand.«

»Gelobt ihr, Einlager zu halten in euren Häusern, bis die Ämter ausgehen, das Recht zu finden über euch?« fragte Meister Gotthard.

»Ja, wir geloben's«, antworteten die fünf.

»Aber wo sind die Bürgermeister? Wo sind die Schurken, die Mörder?« fragten viele aus dem dichten Haufen.

»Dalenborg sitzt hinter Schloß und Riegel im blauen Turm«, sprach Meister Gotthard vernehmlich, »ich habe ihn selber diese Nacht hineingesperrt.«

»Was? Im blauen Turm? Ihr, Henneberg? Ihr, Sülfmeister, habt ihn eingesperrt? Ihr allein?« so riefen sie ihm zu.

»Mit meinen Söhnen«, erwiderte Meister Gotthard, »und für Sengstake ist auch gesorgt, er wird uns schwerlich entwischen. Aber wo ist Schupper?«

»Im steinernen Weinfaß«, gab Kerkrink ruhig zu Antwort, »und zwei Schifferknechte stehen als Wache davor.«

Frohlocken und Jauchzen erschallte auf diese Nachrichten. Da entstand ein Gedränge und Geschiebe in den Reihen der Schuster, die neben den Brauern standen, und eine wohlbekannte Stimme rief: »Seht, Brüder! Daniel in der Löwengrube ist auch da und hat eine Pike in der Hand!«

Meister Schuttenhelm brach sich mit seinen Schmieden Bahn, gefolgt von Ludolf Töbing und anderen befreiten Ratsherren.

»Da sind wir!« rief Schuttenhelm. »Komm' ich zu spät? Schon alles abgemacht? Henneberg, den Dalenborg hast du gut verwahrt! Er hat ihn eingesperrt, Brüder! Der Schuft sitzt im blauen Turm, ich habe ihn gesehen.«

Der Schmied war behelmt, doch mit nackten Armen, ohne Panzer, nur sein dickes Schurzfell trug er und über der Schulter als einzige Waffe seinen schwersten Schmiedehammer.

Töbing schritt auf Gotthard Henneberg zu, schüttelte ihm die Hand, und sprach fröhlich: »Danke Euch, Sülfmeister! Aber Blut und Blau! Konntet Ihr das nicht vier Wochen früher bewerkstelligen? Es lag sich nicht gut –«

Da stockte ihm die Stimme, denn er erblickte jetzt den Toten auf der Bahre. »Was ist das? Wer ist das?« fragte er. »Springintgut? Ist er gefallen? Ist er tot?«

Verlegenes Schweigen ringsum.

»Er ist im Kerker gestorben«, sagte Gotthard Henneberg.

»Verhungert!« rief es hier und dort.

»Barmherziger Gott! Wie ist das möglich!« sprach Töbing tief erschüttert und blickte wütend auf Rokswale und Dörgerloh. Auch Schuttenhelm war still geworden und stützte mit finsterem Gesicht beide Hände auf seinen zur Erde gestellten Hammer. Töbing sah nun die übrigen Ratsherren und suchte mit den Augen. »Einer fehlt noch; wo ist Viskule?« fragte er.

»Den hab' ich schon diese Nacht aus dem blauen Turm geholt; er ist wohl und gesund in seinem Hause«, erwiderte Meister Gotthard.

»Er hat auch Viskule befreit«, murmelten sie neben ihm.

Meister Gotthard wandte sich zu den Ratsherren, besonders zu Albrecht von der Mölen und sprach: »Herr Bürgermeister, nehmt Ihr das Regiment? Euch gebührt es.«

»Ich nicht«, erwiderte Herr Albrecht von der Mölen.

»Nein, so nicht! So nicht!« rief Töbing. »Die uns gestürzt haben, müssen uns wieder einsetzen mit allen Ehren; ich tu' es nicht anders.«

»Nein, nein!« riefen da die Handwerker von allen Seiten. »Gotthard Henneberg hat jetzt das Regiment; der Sülfmeister soll Stadtvogt sein, bis wir einen neuen Rat haben. Aufs Rathaus, Sülfmeister! aufs Rathaus!«

Und über den ganzen Markt hin pflanzte sich der Ruf fort: »Aufs Rathaus! Der Sülfmeister, der Sülfmeister soll Stadtvogt sein! Henneberg soll unser neuer Bürgermeister sein!«

Da stieg Gotthard Henneberg auf die Stufen, die zum Brunnen hinaufführten, so daß seine hohe Gestalt weithin sichtbar war, und sprach mit lauter Stimme: »Bis wir wieder einen Rat haben, will ich zur Wohlfahrt und gemeinem Besten dieser Stadt und mit Vollbord der ganzen hier versammelten Mannheit euer Vogt sein, wenn ihr mir gehorchen wollt.«

Ein tausendstimmiger Zuruf brauste ihm entgegen; Hüte und Hauben, Schwerter und Spieße winkten ihm zu über den Häuptern der Menge und aus den Fenstern und Luken schwenkten die Frauen und Mädchen Tücher in den Händen.

»So gebiete ich von diesem Augenblick an Frieden binnen den Mauern dieser Stadt!« rief Meister Gotthard. »Die Tore bleiben geschlossen; niemand darf hinaus und niemand herein. Geht nach Hause, lieben Brüder und Freunde, und wachet über Frieden und Freiheit unserer guten Stadt Lüneburg!«

»Frieden und Freiheit in Lüneburg! Unser Sülfmeister hoch!« klang es mächtig über den Markt hin.

Dann wogten die Massen durcheinander; jeder suchte sich einen Ausweg; Freunde und Feinde schüttelten sich die Hände und machten Frieden miteinander.

Rokswale aber und seine vier Genossen gingen still nach Hause und traten ihr Einlager an, das auch den fünf Sülfmeistern im Rate auferlegt wurde, während Johann Niebuhr ins Gefängnis wandern mußte.

»Ihr Brüder Amtsmeister und je ein Altermann von den ratsverwandten Gilden, folgt mir aufs Rathaus!« sprach Meister Gotthard noch zu den Umstehenden und schritt dann auf Marquard Mildehövet zu, diesen aufs herzlichste begrüßend.

Einige der Geschlechterherren aber hoben die Bahre auf und trugen den Toten in sein Haus zu seiner verzweifelten Witwe.

Gotthards Augen spähten über die Menge, und als er seinen Sohn Arnold bemerkte, winkte er ihn zu sich heran und fragte: »Hast du Gilbrecht gesehen?«

»Nein, Vater!« war die Antwort.

»Sonderbar!« sagte der Meister. »Er wollte Sengstake fangen und kommt nicht wieder.« Dann übergab er Arnold seine Hellebarde und wandte sich zu den versammelten Amtsmeistern. »Kommt, Brüder! Wir wollen Rat halten.«

Da machte ihm alles freudig und ehrerbietig Platz, und der Sülfmeister schritt wie ein Fürst mit seinem Gefolge würdig und gelassen zum Rathause.


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