Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Vor drei Tagen hat dir Herr Albrecht von der Mölen den Brief gegeben?« fragte der worthabende erste Bürgermeister Herr Johann Springintgut den vor ihm stehenden jungen Böttcherknecht.
»Ja, hochedler Herr! Am Montag war es«, antwortete Gilbrecht.
Der Bürgermeister öffnete das Schreiben und begann zu lesen.
Es war in seinem Hause am Markte. Gilbrecht, dem kein Sitz angeboten wurde, ließ seine Augen in dem reich ausgestatteten Zimmer umherschweifen und dann auf der schlanken Gestalt des Bewohners ruhen, dessen strenge Züge sich beim Lesen zusehends verfinsterten. Er sprang, nachdem er zu Ende gelesen, vom Stuhle auf und maß das Zimmer mit hastigen Schritten unruhig und erregt, daß das Papier in seiner Hand bebte.
»Ich danke dir!« sagte er dann kurz. »Nein! Ich danke dir nicht für diesen Brief!« verbesserte er sich zornig.
Gilbrecht blickte ihn fest und ruhig an, und der Bürgermeister sagte etwas gelassener: »Was red' ich? Du kannst ja nichts dafür. Weiß dein Vater von diesem Schreiben?«
»Ja«, sprach Gilbrecht, »ich hab' es ihm gestern abend erzählt!«
»So! Hast's ihm schon erzählt. Weiß sonst noch jemand davon in Lüneburg?«
»Auch ein fremder Schusterknecht, mit dem ich von Celle hierher gewandert bin«, sagte Gilbrecht.
»Ein fremder Schusterknecht! Hm!« grollte der Bürgermeister. »Daß so junges Volk nicht den Mund halten kann und alles gleich ausplappern muß! Hat dir Herr Albrecht nicht Schweigen geboten?« fragte er herrisch.
»Nein, Herr Bürgermeister! Mit keinem Worte.«
Wahrscheinlich von den überlauten Reden angelockt, betrat jetzt die Frau Bürgermeisterin das Zimmer, warf einen erstaunten Blick auf den ihr Unbekannten und dann einen fragenden auf ihren Gatten.
»Ein Henneberg ist es«, sagte dieser, »ein Sohn des Sülfmeisters.«
»Ah, des Böttchermeisters«, betonte sie scharf, kehrte Gilbrecht den Rücken und ließ sich in einen Sessel nieder.
»Er bringt mir einen Brief von Mölen, den er in Celle getroffen hat«, fuhr Herr Springintgut fort und wandte sich dann wieder zu Gilbrecht: »Der Brief ist an mich gerichtet, geht nur mich an, es steht nichts darin, was irgendein Mensch in Lüneburg zu wissen brauchte. Sage das deinem Vater, und es wäre mir lieb, wenn du auch dem fremden Schusterknecht die Zunge binden könntest, daß er sich keine Ungelegenheiten macht.«
»Ich will's versuchen, Herr Bürgermeister«, sagte Gilbrecht, verbeugte sich und ging, wenig erbaut von diesem Botenlohn.
Der Bürgermeister nahm seinen Sturmschritt im Zimmer wieder auf und setzte ihn auch fort, als seine Gattin fragte: »Nun, wie steht's?«
»So schlecht wie möglich«, war die verdrießliche Antwort.
»Hat Albrecht von der Mölen nichts erreicht?«
»Nicht das geringste!« sprach der Bürgermeister. »Wir sollen zu Kreuze kriechen, sollen die eingezogenen Gelder den Prälaten herausgeben, sollen auf die verlangte Hälfte der Einkünfte verzichten und uns mit einem Viertel begnügen, oder –«
»Nun? Oder –«
»Acht und Bann!«
»Herr Gott im Himmel!« rief entsetzt die Frau und fuhr empor, »Johann, das ist schrecklich!«
»Wär' ich doch selbst nach Wien geritten!« sagte Springintgut, »hätte nicht geknickert und geknausert. Mölen hatte ja Vollmacht und genügende Wechsel; und Kaiser Friedrich, das schwache, schwankende Rohr im Winde, wie der zu fassen ist, weiß jedes Schreiberlein im Reiche. Aber die Pfaffen sind rascher gewesen als wir und klüger. O diese Glatzen! Und Rom! Was schiert uns Rom?«
»Wir werden's empfinden«, seufzte die Bürgermeisterin; »das Regiment der Stadt ist ihnen verhaßt.«
»Niemand hat sich in unser Regiment zu mischen!« rief er heftig. »Die Stadt bin ich und der Rat, und ein anderer hat in Lüneburg kein Wort zu reden, kein Wort!«
Damit warf er den Brief in eine Schublade, stieß sie zu, daß es krachte, und machte sich mürrisch bereit, aufs Rathaus zu gehen. –
Gilbrecht hatte sich von des Bürgermeisters Wohnung nicht nach Hause begeben, sondern der Alten Brücke zugewandt und ging nun das Ufer der Ilmenau entlang an der Abtsmühle vorbei, um seinen Freund Balduin Viskule zu besuchen. Am Stintmarkte blieb er stehen, als er am jenseitigen Ufer, dem Kaufhause gegenüber, den alten, mächtigen Kran erblickte, der sich freilich wunderlich genug ausnahm. Fast auf der Spitze des Daches von einem umfänglichen runden Unterbau stand ein vierseitiges Bretterhaus, an dessen einem Giebel ein langer, langer Arm wie ein Windmühlenflügel schräg in die Luft emporragte, der mit Kupfer gedeckt war und an seinem oberen Ende einen aufrechtstehenden Stab mit einem Knopfe trug. Dieser Oberbau mit dem steifen Arm ähnelte, von der Seite gesehen, einem Schneckenhause, aus dem die Schnecke mit aufgeregtem Horn eben herauskroch und sich emporbäumte. Das Ganze war das Gehäuse für das Triebwerk im Innern, das Gilbrecht wohl kannte. Er hatte nicht allein oft zugeschaut, wenn mit dem Krane schwere Stückgüter aus den Schiffen herausgehoben wurden, sondern er war auch einmal mit Balduin nach erbettelter Erlaubnis der Kranzieher hineingestiegen, und die beiden Jungen waren in dem großen Tretrade gegangen, das die Winden in Bewegung setzte, und hatten eine leichte Last damit emporgewunden. Es hatte ihnen großes Vergnügen bereitet.
Diese Erinnerungen hatten Gilbrechts Schritte eine Weile gehemmt, nun aber lenkte er sie dem Viskulenhof zu und spähte nach den Fenstern des Wohnhauses hinauf, ob sich dort nicht ein bekanntes Gesicht erblicken ließ.
Der Viskulenhof war ein umfangreicher, vielgliedriger Bau mit Vorder-, Seiten- und Hintergebäuden, mit langgestreckten Speichern und Salzräumen, mit Beamten- und Arbeiterwohnungen, Stallungen für Frachtgäule und Reitpferde und mehreren Höfen. Dieses in sich abgeschlossene Ganze machte den Eindruck des gediegensten Wohlstandes und glich einer wahren Handelsfeste, der das damit verbundene hochgiebelige Wohnhaus an der Ecke als Herrensitz würdig voranstand. In den Häusern und auf den Höfen regte sich ein lautes, lebhaftes Treiben von vielen eifrig beschäftigten Menschen. Stückgüter von den verschiedensten Formen und dem mannigfaltigsten Inhalt wurden hinein und heraus gefahren, getragen, gewälzt und gerollt, die Winden ächzten und knarrten, und an Seilen schwebten Fässer und Ballen zu den Bodenräumen empor. Auf der Ilmenau vor der einen Langseite der Warenhäuser lagen Schiffe, die befrachtet oder deren Ladungen gelöscht wurden. Es war das buntbewegte Bild eines ausgedehnten Großhandels, der die Erzeugnisse des Nordens mit denen des Südens austauschte, denn hier begegneten sich die Kostbarkeiten des Orients und der Levante, über Venedig kommend, und die Reichtümer aus den Küstenländern des deutschen und baltischen Meeres, durch die Häfen der Hansestädte dem Binnenlande zugeführt.
Daß dieser blühende Handel seine guten Zinsen trug, bezeugte die innere Pracht des großen Wohnhauses. Da war viel reicher Schmuck und feines Gerät, Teppiche, Bildwerk und schöne Gefäße an den Wänden, auf Schränken und Tischen, lauschige Winkel und bequeme Sitzplätze, und über alle Fülle des Köstlichen und Seltenen war doch eine höchst anmutende Wohnlichkeit und Behaglichkeit ausgebreitet. Während draußen Hast und Bewegung, Arbeit und Geschäft geräuschvoll durcheinander fluteten, war hier innen alles zum glücklichen Genießen geschaffen, daß die Bewohner und ihre Gäste schon von diesen üppigen Räumen eingeladen wurden, sich einer fröhlichen Geselligkeit hinzugeben oder einer beschaulichen Ruhe zu pflegen.
Gilbrecht trat von der Straße nicht in das Wohnhaus, sondern ging durch die offene Durchfahrt eines Seitenflügels, in der an jeder Wand vier mannshohe, unbehauene Prellsteine Wache hielten. Rechts im Winkel dieses Hofes war eine breite Treppe von Felsplatten und gewaltigen Quadern, die in das Wohnhaus führte. Diese beschritt Gilbrecht, weil er so am nächsten zu den Schreibstuben im unteren Geschosse kam, wo er die Viskules, Vater und Sohn, zu finden hoffte. Er fand sie auch, und nach einer Begrüßung, wie sie freudiger und herzlicher nicht sein konnte, gingen sie hinauf in Herrn Viskules Wohngemach. Hier wurde Gilbrecht nun nach den Erlebnissen seiner vierjährigen Wanderschaft ausgefragt, und es wäre schwer zu entscheiden gewesen, wer ihm dabei eine lebhaftere und innigere Teilnahme entgegenbrachte, der Sohn oder der Vater.
Herr Heinrich Viskule war ein ältlicher Herr unter Mittelgröße mit fast weißem Haar und klugen, lebhaften Augen. Er hatte in seinem ganzen Wesen und Gebaren etwas Vornehmes, das sich bis auf die wohlgepflegten weißen Hände und die gewählte Kleidung erstreckte. Wenn er sprach, so bewegten sich schon vor dem ersten Worte die schmalen Lippen mit einem fast lächelnden Ausdruck, als wenn er den Gedanken erst mit der Zunge kostete wie einen guten Bissen oder einen edlen Tropfen. Sein Sohn Balduin war von geschmeidigem Wuchs, aber nicht so stark gebaut wie Gilbrecht, obwohl ein Jahr älter als dieser. Er hatte braunes Haar und sprühende Augen; sein feingeschnittenes Gesicht und seine raschen Bewegungen machten den Eindruck des Leichtlebigen, ja Leidenschaftlichen.
Als die drei mitten im Plaudern waren, öffnete sich eine Seitentür, und herein lugte ein braunlockiger Mädchenkopf mit den Worten: »Ich höre eine Stimme, die ich kennen sollte, und doch – Gilbrecht! Gilbrecht Henneberg, bist du es wirklich?«
Rot vor Freude sprang er ihr entgegen, reichte ihr die Hand, in die sie herzlich einschlug, und sprach: »Hil – Hildegund! Ja, ich bin es, o wie freu' ich mich! Wie freu' ich mich!«
Er stockte, und auch sie geriet ein wenig in Verlegenheit, überrascht von der kraftvollen Männlichkeit des Jugendfreundes, der sie weder mit der Hand noch mit den Augen losließ. Aber die Viskulentochter war auch des Ansehens wert, und Ilsabe hatte recht: das kleine Mädchen, das Gilbrecht manchmal gegen den eigenen Bruder beschützen mußte, war sehr hübsch geworden mit seinen neunzehn Jahren. Hildegund war ebenso groß wie Ilsabe und ihrem Bruder Balduin sehr ähnlich; auch in ihren Adern rollte das rasche Viskulenblut.
Gilbrecht nahm den durch Hildegunds Eintritt unterbrochenen Bericht von seiner Wanderschaft wieder auf und hatte an der Hinzugekommenen eine aufmerksame und dankbare Hörerin. Als er aber von seinem Aufenthalt am Rhein und von seiner Küferarbeit in den großen Weingeschäften erzählte, sagte Herr Viskule freundlich: »Ei, Gilbrecht, da könntest du uns ja mal ein Probestückchen deiner Küferkunst ablegen. Ich habe mir ein Fäßchen Malvasier vom Stahlhof aus London kommen lassen, wohin man ihn von Venedig zu Schiffe bringt; willst du mir das abziehen? Und wollt ihr ihm dabei helfen?« fügte er, sich an seine Kinder wendend, hinzu.
»Ja, ja! Versteht sich!« riefen freudig alle drei, »und Ilsabe hilft auch mit.«
»Gut«, sagte der Ratsherr, »aber es muß noch ein oder zwei Wochen liegen, um sich vollends zu klären. Du magst dann selber bestimmen, wenn es Zeit ist. Nun schwatzt euch nur aus, ich habe noch Briefe zu besorgen. Gilbrecht, auf Wiedersehen! Auf recht häufiges Wiedersehen!« Damit ging er.
Die Jugendgespielen riefen sich nun eine Menge kleiner Erlebnisse und Auftritte früherer Zeiten ins Gedächtnis zurück. Wie ihre Väter schon von klein auf innig befreundet waren, so wurden es auch die vier Kinder, die sich in den Jahren am nächsten standen. Sie empfingen von denselben Lehrern in der Klosterschule der Prämonstratenser denselben Unterricht, und Gilbrecht und Ilsabe brachten ihre freie Zeit mehr auf dem nahen Viskulenhof als im Elternhause zu. Dort tummelten sie sich auf den Höfen und in den großen Warenhäusern umher und machten dem alten Lagermeister viel zu schaffen, wenn sie aus Fässern, Ballen und Säcken sich Stuben oder Festungen bauten, die jener dann wieder einzureißen und beiseite zu schaffen hatte. Der gutmütige Alte drohte und schalt dann wohl und tat wunder wie grimmig, hatte aber doch seine stille Freude an den vier hübschen Kobolden, die in seinem Gehege herumspukten und das Unterste zuoberst kehrten.
Die Mutter hatten die Viskulenkinder leider schon früh verloren; auf Base Barbara, die nun an ihrer Statt im Hause des Witwers schaltete, hörten sie nicht, und der Vater hatte zu wenig Zeit, sich um sie zu kümmern, gönnte ihnen auch ihre Lust.
Als sie heranwuchsen, die beiden Jungen in die väterliche Lehre kamen und die Mädchen jungfräulich sittsam und gesetzter wurden, hörten zwar die übermütigen Streiche und das arglos tolle Kopfüber-Kopfunter allmählich auf, aber in der Freundschaft blieb sich das vierblättrige Kleeblatt treu und hielt nach wie vor zusammen, bis nach überstandener Lehrzeit erst Gilbrecht und bald darauf auch Balduin in die Welt hinauszogen. Balduin war erst zwei Jahre am Stahlhof in London und dann fast ebensolange in einer großen Faktorei zu Brügge gewesen, von wo er als ein in kaufmännischen Dingen Wohlbewanderter zurückgekommen war. Da hatte er Hildegund und Ilsabe zu voller Jugendblüte entfaltet vorgefunden und hatte sich ihnen als ihr Ritter und Freund gleich wieder angeschlossen, als wenn sich das ganz von selbst verstünde. Auch die beiden schönen Mädchen faßten es so auf, und seitdem verkehrten sie nun wieder zu dreien vertraut und unbefangen wie Geschwister.
Daß sie aber alle vier auf den großen Standesunterschied zwischen einem Ratsherrn, der zugleich der bedeutendste Kauf- und Handelsherr der Stadt war, und einem Böttchermeister, wenn er auch seiner Gilde als Amtsmeister vorstand, keine Rücksicht nahmen, ihn bis zu ihrer Trennung vielleicht noch nicht einmal begriffen hatten, bewirkte das Beispiel ihrer Väter, denn diese verkehrten als alte Jugendfreunde durchaus auf gleichem Fuße miteinander. Kein Handwerksmeister genoß ein so allgemeines Vertrauen in der ganzen Bürgerschaft wie Meister Gotthard Henneberg, und wenn er sich einmal, was selten geschah, in der Trinkstube der Sülfmeister blicken ließ, so deuchte er sich keineswegs geringer als der reichste unter ihnen; im Gegenteil, er blickte mit einem Anflug von Mißachtung auf diejenigen, die früher auch Handwerksmeister gewesen und, weil sie Sülfmeister geworden waren, ihr Handwerk aufgegeben hatten. Das hatte er nicht getan; seinem Fleiß und seiner Tüchtigkeit verdankte er seine Stellung, darum wollte er auch sein Böttcherschurzfell nicht ablegen, denn er liebte sein Handwerk.
Der Ratsherr ließ dem Handwerkerstolz seines Freundes Gerechtigkeit widerfahren, hielt große Stücke auf ihn und hatte vor seiner unantastbaren Rechtschaffenheit und seinem klaren Verstande eine so hohe Achtung, daß er den Meister in manchen wichtigen Dingen um seine Meinung fragte, sich bei ihm nach der Stimmung und den Wünschen der Bürgerschaft erkundigte und seine Winke oft im Rate benutzte, von dem Herr Viskule eines der angesehensten Mitglieder war. Zudem war er auch Morgensprachsherr bei der Böttchergilde, und so hatten diese beiden erfahrenen und ehrenwerten Männer Berührungspunkte genug, um sich gegenseitig ihre Freundschaft dauernd zu bewahren.
Als Gilbrecht den Viskulenhof betrat und hier das großartige Geschäftstreiben erblickte, konnte er sich doch der Frage nicht erwehren, ob er wohl noch hierher gehöre; denn er sah dieses reiche Kaufmannswesen heute mit ganz anderen Augen an als damals, da ihm diese Räume nur Spielplätze, diese aufgestapelten Güter nur Hindernisse oder willkommene Anstalten und Gelegenheiten zu Kletterübungen, Verstecken und fröhlichen Kämpfen gewesen waren. In ebensolchen Handelshäusern, wenn auch anderer Art, hatte er am Rhein als Knecht gedient, und was war er denn jetzt mehr als ein Böttcherknecht, der zwar sein Handwerk verstand, sich aber sein Brot mühsam mit seiner Hände Arbeit verdienen mußte.
So schlug ihm denn das Herz etwas zweifelnd und bänglich, als er die mächtige Steintreppe zu den Schreibstuben aufstieg. Es kam ihm in Erinnerung, wie herrisch und hochfahrend sein Freund Balduin gegen Untergebene und auch gegen Gleichstehende manchmal sein konnte. Wie würde ihn der stolze, weitgereiste Junker nun wohl empfangen, nachdem ein Zeitraum von vier Jahren die alte Vertraulichkeit vielleicht in Vergessenheit gebracht und das inzwischen erwachte Standesbewußtsein das Freundschaftsband vielleicht stark gelockert hatte?
Um so größer war nun seine Freude über die Herzlichkeit des Empfanges, der ihm von den Viskules, Vater und Sohn, zuteil wurde. Da war kein Junker und kein Böttcherknecht, da war nur wieder Balduin und Gilbrecht, Gilbrecht und Balduin; der ganze Unterschied lag in den Händen, von denen die eine das Böttcherbeil, die andere die Kaufmannsfeder geführt hatte.
Aber Hildegund! Was war denn nach der ersten freudigen Begrüßung zwischen sie und Gilbrecht getreten, daß sie jetzt fast scheu und schüchtern gegeneinander waren und den harmlos heiteren Ton, mit dem sie sich früher begegneten, nicht recht wiederfinden konnten? Es war nicht die Sprödigkeit eines sorgsam erzogenen Geschlechterfräuleins, nicht die bescheidene Zurückhaltung eines sich unterordnenden Handwerksgesellen, und noch weniger war es die Erkaltung freundschaftlicher Gefühle, die an der Ausdehnung von Zeit und Raum zugrunde gegangen waren. Denn das Herz klopfte beiden, und wenn sie sich ansahen und zueinander sprachen, ward es ihnen heiß in den Wangen.
Sie hatten sich immer liebgehabt; Gilbrecht hatte stets Hildegunds leiseste Wünsche zu erraten und dann mit einem Eifer und einer Aufopferung zu erfüllen gesucht, die von ihr nicht unbemerkt bleiben konnte, und die sie ihm mit stummen Blicken dankte, mit fügsamer, unwandelbarer Anhänglichkeit schmeichelnd erwiderte. Wenn er gegen sie kämpfen mußte, wie vorsichtig und schonend gebrauchte er dann die weit überlegene Kraft, um ihr nicht weh zu tun. Aber wie gern auch ließ sie sich von ihm besiegen und entwaffnen, während sie gegen Balduin und Ilsabe sich bis aufs äußerste verteidigte. War es nur ein Streit mit Worten, so hatte für Gilbrecht stets Hildegund recht, und Gilbrechts Meinung war stets auch ihre Meinung. Nun sahen sie sich wieder, gedachten jener seligen Zeit und bedauerten vielleicht heimlich, nicht mehr Brust an Brust miteinander ringen zu können; dabei weh tun würden sie sich auch jetzt nicht. Sie saßen sich gegenüber, die Spitze seines Fußes berührte nicht den Saum ihres Gewandes; aber mit all seinen Gedanken hielt er sie umschlungen. Paßten denn diese zwei zu einem Paar zusammen? Vor der Welt waren sie sehr ungleich, aber vor dem ersten Sonnenblick der Liebe sank die Scheidewand zwischen ihnen wie ein Nebel, der am warmen Frühlingsmorgen zerrinnt und in Millionen blinkender, funkelnder Tropfen an Blumen und Gräsern zu des Wanderers Füßen liegt. Gilbrecht war in diesem Sonnenglanze wie ein junger Ritter anzuschauen, der mit überschwellenden Gefühlen zu jeder höchsten Siegestat bereit ist, und Hildegund war von einer stillen Seligkeit erfüllt und der ungestandenen Sehnsucht nach einem Glück, von dem sie noch nicht ahnte, daß sie davon ebensoviel zu geben als zu empfangen hatte.
So erglühten sie beide in Freuden, die sie kaum verbergen konnten, und wenn sie nicht in hellen Jubel ausbrachen, so war es, weil den schwingenden, klingenden Saiten noch jener wohltuende Dämpfer aufgesetzt war, der junge Liebe in Schüchternheit und Bangigkeit niederhält, daß sie im Verborgenen wachse und sich erst Kraft und Sicherheit aus sich selber hole. Da bleibt denn vorläufig nichts übrig, als hoffen und schweigen. Und das taten Gilbrecht und Hildegund, denn keiner wußte und keiner glaubte, daß der andere ihn wiederliebte, daß der erste Blick des Wiedersehens in beiden Herzen zugleich gezündet hatte.
Balduin merkte nichts von dem, was eine unsichtbare Macht hier rechts und links neben ihm spann und wob. Er plauderte so lebhaft und unaufhörlich, daß die anderen beiden gar nicht zu Worte kommen und höchstens auf sein oft wiederholtes: Wißt ihr noch, wie wir einmal und so weiter ein kurzes Ja in die einseitig geführte Unterhaltung einstreuen konnten. Dann schlug er den Freund auf die Schulter und sagte in seiner raschen Art: »Aber nun bleibst du doch hier, Gilbrecht, nicht wahr? Nun kann es wieder losgehen, hast uns schon lange gefehlt. Bist zwar noch größer und stärker geworden, und nun nimmt es keiner mehr mit dir auf, höchstens Hildegund, wenn sie sich noch an dich heranwagt und du dich wieder von ihr bezwingen läßt wie ehemals.«
Hildegund errötete, aber durch des Bruders lustiges Wesen mehr und mehr aus ihren träumenden Gedanken und dem Verlorensein in Gilbrechts Anblick zur Munterkeit erweckt und zur Teilnahme am Gespräch aufgefordert, sagte sie heiter: »Die Kräfte zu messen, wollen wir nun euch beiden allein überlassen, aber auch dir rate ich nicht, mit Gilbrecht anzubinden.«
»Werde mich hüten!« lachte Balduin.
»Du hast nun wohl hier ein fleißig Schaffen und Wirken für dich gefunden?« wandte sich Gilbrecht zu dem Freunde. »Ich muß noch eine Weile den Lediggänger spielen, um meines Vaters zweiten Knecht nicht zu verdrängen. Da hab' ich nun sehr viel freie Zeit und –«
Er blickte auf Hildegund, und die fragte: »Würdest du Arbeit nehmen, die ich dir gebe?«
»Jede, wenn sie nur rechte Mühe macht, und am liebsten, wenn ich sie unter deinen Augen verrichten könnte.«
»O wir helfen dabei, Ilsabe und ich«, erwiderte sie. »Aber ich muß es dir allein sagen, Balduin darf es nicht wissen, der kann nicht schweigen.«
»Was?« rief Balduin. »Ein Geheimnis vor mir? Sieh dich vor, Gilbrecht! Sie führen nichts Gutes im Schilde.«
»Balduin, da in die Ecke! Gesicht gegen die Wand! So! Und nun die Ohren zugehalten!« befahl Hildegund.
»Was wohl der Mummenscherz bedeuten soll!« brummte Balduin, gehorchte aber, hielt auch beide Hände an die Ohren, jedoch nicht platt schließend darauf, sondern hohl davor wie große, nach hinten offene Muscheln, damit er desto besser nach rückwärts lauschen konnte. Aber es half ihm nichts, er verstand nichts von dem, was Hildegund mit Gilbrecht in der anderen Ecke des Zimmers flüsterte.
»Der Sturm hat in unserem Garten vor dem Bardowicker Tor die Laube umgerissen, in der der Vater immer so gern saß«, sprach Hildegund leise. »Nun laß' ich heimlich eine neue zimmern, und bis sie grün berankt ist, will ich sie wie ein Zelt mit Leinen überspannen, damit sie Schatten gibt. Ilsabe hilft mir, aber wir Mädchen können nicht allein in den Garten gehen und das Zeug abmessen und anpassen. Willst du uns beistehen? Du kletterst ja gut.«
»Jawohl!« sagte Gilbrecht. »Alles, was du willst.«
»Seid ihr noch nicht fertig?« rief Balduin ungeduldig und sah sich um.
»Nein!« sagte Hildegund laut. »Dreh dich um!« und dann leise: »Ich will den Vater damit überraschen, der in dieser Zeit nicht in den Garten kommt.«
»Aber Balduin?« fragte Gilbrecht.
»Der kann nicht hinein«, kicherte sie, »ich habe den Schlüssel an mich genommen.«
»Recht! Das war klug.«
»Ilsabe wird dir Bescheid sagen, wann wir einmal hingehen.«
»Je eher, je lieber!«
Sie hatte beim Sprechen die Hand auf seinen Arm gelegt, wie um sich zu stützen, indem sie sich emporreckte, während er den Kopf ein wenig niederbeugte. Er fühlte ihren Atem, ihr Haar streifte das seine; sie spürten es beide; es war nur eine ganz leise Berührung, aber es durchbebte sie wie knisternde Funken vom Scheitel bis zur Sohle, und keiner zog den Kopf zurück aus der willkommenen Nähe. Wenn sie sich bewegten, so stieß Locke sanft an Locke, Braun an Blond, zur stillen Lust des Blonden und der Braunen.
»Jetzt hab' ich's satt!« rief Balduin und sprang herum.
»Wir sind auch fertig«, lachte Hildegund.
Nun hatten sie schon ein Geheimnis miteinander, ein ganz unschuldiges, aber doch ein Geheimnis.
Gilbrecht brach auf, weil er vor Tisch noch zum Altschaffer der Böttcherknechte wollte, um sich bei diesem zum Eintritt in die Brüderschaft zu melden. Die Geschwister geleiteten ihn hinaus, und als sie mit ihm auf den Vorraum kamen, trat dort aus einem anderen Zimmer Base Barbara mit einem geistlichen Herrn, dem Propst vom Kloster Lüne, Herrn Dietrich Schupper. Barbara von Erpensen, ein schon betagtes Fräulein und eine Verwandte des Herrn Viskule, begrüßte Gilbrecht ziemlich kühl und herablassend, und als Hildegund wie zu seiner Entschädigung nun erst recht freundlich und vertraulich gegen ihn war, beobachtete sie diese beiden mit altjüngferlichem Spürsinn und suchte mit gespreizter Vornehmtuerei dem jungen Manne recht absichtlich seinen großen Abstand von ihr fühlbar zu machen.
»Du trittst nun wohl bei deinem Vater als Knecht in Arbeit«, sagte sie hochmütig, »nun, das ist ja recht schön, da werden wir dich wohl selten sehen; halte dich nur recht fleißig und ehrlich.«
Balduin lachte hell auf und sagte: »Bedanke dich doch, Gilbrecht, für die vortreffliche Lehre! Base Barbara ist reich an Weisheit und Erfahrung.«
Hildegund aber fuhr zornrot heraus: »Unser lieber Freund Gilbrecht bedarf solcher Mahnung nicht, Base! Und der Vater hat ihn eingeladen, sich recht, recht oft bei uns sehen zu lassen.«
»So!« sagte das Fräulein spitz. »Und das scheint deinen Wünschen ganz besonders zu entsprechen.«
»Allerdings!« sprach Hildegund. »Meinen Wünschen ganz besonders.«
»Meinen auch, Base!« rief Balduin. »Meinen auch, wenn du gütig erlaubst.«
»Meinetwegen!« sagte Barbara und sah über die Schulter. »Was kümmern mich die Hennebergs!«
Der geistliche Herr dagegen zog ganz andere Saiten auf und sagte, als er den Namen hörte: »Henneberg? Gilbrecht Henneberg? Der Sohn des Sülfmeisters? Ei, das freut mich ja ungemein, den Sohn eines so braven und ausgezeichneten Mannes, der in der ganzen Stadt ein so hohes Ansehen genießt, hier kennenzulernen.« Und er reichte Gilbrecht eine kalte, feuchte Hand.
»Das klingt schon besser«, spottete Balduin, auf die wütenden Blicke der Base nicht achtend.
Der Propst fuhr fort: »Bestelle deinem wackeren Vater – Gott stärke ihn selig und gesund auf lange Zeiten! – meinen dienstwilligen, ganz freundlichen Gruß und sage ihm, daß er sehr hoch in meinem Herzen angeschrieben stünde.«
»Als ob der Sülfmeister danach was früge!« knurrte Balduin leise zu seiner Schwester, die ein Lachen verbiß.
Gilbrecht dankte kurz und ernst, denn die tiefliegenden, lauernden Augen in des Propstes gelbem Gesicht mit dem süßlichen Grinsen waren ihm unheimlich. Als er sich zum Gehen wandte, trat Herr Viskule ein, grüßte den Propst kalt und höflich und sagte zu Gilbrecht: »Willst du denn fort, Gilbrecht? Willst du nicht mit uns essen?«
»Nein, Herr Ratsherr, ich danke!« sprach dieser. »Die Mutter erwartet mich.«
»Er ist ja erst gestern abend angekommen!« sprach Hildegund.
»Freilich, da gehen die Eltern vor«, sagte Herr Viskule, »aber daß du mir bald wiederkommst, lieber Junge!« fuhr er fort und klopfte Gilbrecht freundlich auf die Wange, »mir geht das Herz auf, wenn ich dir in deine blauen Augen sehe; ganz der Alte, ganz der Alte, wie er so jung war wie du. Grüß ihn, Gilbrecht, und dann – der Malvasier! Denk an den Malvasier!«
»Ja, Herr Ratsherr!« lachte Gilbrecht. »Den vergessen wir nicht; es muß aber gut Wetter sein, wenn wir ihn abziehen.«
Barbara knirschte vor Ärger. Hildegund aber sprang zu ihrem Vater, hing sich an seinen Arm und zog den Ratsherrn mit sich in das Zimmer.
»Ich bringe dich ein Stück Weges«, sagte Balduin zu Gilbrecht und ging mit ihm die Treppe hinab. Auf der Straße fing er an: »Den Pfaffen und die alte Jungfer hat der Teufel zusammengekuppelt; sie beten zusammen und klatschen zusammen und brauen allerhand Unheil. Dabei quälen sie die arme Hildegund mit Andachtsübungen, und ich weiß wohl, was dahinter steckt. Der Barbara ist's nicht recht geheuer mehr im Hause, wir kehren uns nicht an sie und ärgern sie zuviel, und nun will sie ins Kloster Lüne in der Hoffnung, dort einmal Äbtissin zu werden. Da aber jetzt keine Stelle frei ist, so wartet sie in christlicher Liebe und Geduld auf den Tod einer der alten Klosterkatzen. Ein sauberes Paar, sie und ihr Beichtiger! Trau nur dem Fuchsschwanz von Pfaffen nicht über den Weg! Seine Freundlichkeit gegen dich und seine Wohlmeinenheit über deinen Vater ist die niederträchtigste Heuchelei; er will gewiß etwas von ihm, hofft wahrscheinlich, in dem Streite mit dem Rat ihn auf seine Seite zu locken.«
»Da schneidet er sich höllisch ins Fleisch«, lachte Gilbrecht.
»Das hoff' ich auch«, sprach Balduin und trennte sich von dem Freunde mit warmem Händedruck. –
Pünktlich zur Essenszeit, wie der Vater es liebte, war Gilbrecht wieder zu Hause, und Frau Johanna empfing den Sohn so herzlich nach seinem ersten Gange in die Stadt, freute sich so sehr, ihn nach den paar Stunden Abwesenheit wiederzuhaben, als wäre er ihr zum zweiten Male aus weiter Fremde heimgekehrt.
Bei Tisch erzählte er von seinen Besuchen beim Bürgermeister und auf dem Viskulenhof, und als er dem Vater den Gruß des Propstes bestellte, sagte der Meister: »Schade! Hättest ihm antworten können, in meinem Herzen stünde er gar nicht angeschrieben, weder hoch noch niedrig,«