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XI.

Während der ersten Stunden war die Gegend den Männern bekannt, sie konnten unwegsame Stellen vermeiden und an bequemen Plätzen ein wenig ausruhen, dann aber kamen ausgedehnte Waldblößen mit sumpfigem Grunde, undurchdringliches Gebüsch oder steinige Hügelketten, an denen das Vordringen beinahe zur Unmöglichkeit wurde. Es kostete schon an diesem ersten Tage große Mühe, die Kinder bei guter Laune zu erhalten, sie weinten und klagten über Schmerzen in den Füßen, so daß wenigstens alle zwei Stunden Rast gemacht werden mußte.

»Etwa zehn Meilen sind zu durchmessen,« sagte der Kaufmann, »danach folgen Strecken, in denen wir jedenfalls einzelne Farmen treffen, bebautes Land und geebnete Wege. Bis dahin muß das Ungemach der Wanderung ertragen werden.«

»Aber wir können uns Zeit lassen, können dann und wann einen Tag überschlagen, nicht wahr?«

»Wenn es durchaus sein muß, ja. Seht dorthin, Kinder! Fünf Hasen!«

Lampe und seine Familie blieben um ihres ergötzlichen Spieles willen von der mörderischen Kugel verschont, ebenso die Rehe und zahllosen Hühner, welche überall in ganzen Völkern aufflogen. Es gab Wild in Hülle und Fülle, aber nur sehr wenig Munition; bis daher für die Küche notwendig neuer Vorrat herbeigeschafft werden mußte, sparte man der persönlichen Sicherheit wegen lieber jeden einzelnen Schuß, dessen man vielleicht in der nächsten Stunde dringend bedurfte, um Freiheit und Leben gegen die zuchtlosen, überall umherstreifenden Freibeuterbanden zu verteidigen.

Immer schöner und schöner wurde die Gegend, immer malerischer die Formen der Gebirgskuppen. Zwischen zwei hohen Säulen hing an einer Stelle frei schwebend, nur mit einem Teile der Seitenwände sich anlehnend, ein riesiger Felsblock, der aussah, als müsse er in jedem Augenblick zu Boden stürzen und alles zerschmettern, was sich in seiner Umgebung befand. Ein natürliches Thor, ragte dieser Punkt weit in das Thal hinaus und diente zugleich als eine Art von Wegweiser. Einige Meilen weit hinter ihm durchzog ein Bahngeleise den mittleren Teil des Landes; bei hellem Wetter konnte man vom Koupee aus diesen sonderbaren Felsen sehen, das wußte Neubert und ein Seufzer hob heimlich seine Brust.

Gerade um den Besitz dieser Bahnlinie wurde auf Tod und Leben gekämpft, – wer jeden einzelnen Teil derselben heute inne hatte, die Konföderierten oder die Regierungstruppen, darüber ließ sich nicht einmal eine Vermutung aufstellen. Tagelang wogte gerade hier die Schlacht, und wer vielleicht jetzt den Sieg erfochten hatte, der wurde morgen wieder geschlagen und verlor auch noch das Gebiet, welches er bis dahin besetzt gehalten.

Mr. Forster sah den Felsen und lächelte zufrieden. Diese unbequeme Reise durch Wald- und Steinwildnis konnte doch wenigstens nicht lange andauern, dessen war er sicher.

Etwa gegen vier Uhr nachmittags mußte Halt gemacht werden. Die Kinder weinten und Frau Neubert war erschöpft bis zum Umsinken, sie konnte vor Schwäche kaum noch sprechen, so daß ihr Mann gleich Befehl gab, aus den mitgebrachten Decken notdürftig ein Zelt herzurichten und eine Lagerstätte zu bereiten. Wie ohnmächtig sank die arme Frau zurück, nur einige wenige Worte fielen von ihren Lippen: »Wasser! Wasser!«

Schon seit dem Mittag zeigte die sandige Gegend keinen Quell oder Fluß mehr, es gab wenig Vögel und Insekten, auch keine Wildpfade, so daß Neubert mit heimlicher Sorge an die nächste Zukunft dachte. Das Wasser war unentbehrlich wie die Luft zum atmen.

Er bot seiner erschöpften Frau die letzten, in einer Flasche noch vorhandenen Tropfen und bat dann die jungen Leute, auf Kundschaft auszugehen. Diesem Wunsche wurde bereitwilligst entsprochen; der Schneckenschritt des Tages hatte hier die Kräfte nicht verbraucht, und die Lust zu einer kleinen Extratour nicht verringert, Bill, Lionel und Hermann machten sich daher auf, um womöglich genießbares Wasser, oder in Ermangelung dessen die wild wachsenden säuerlichen Trauben zu finden. Martin und Neubert blieben in dem neuen Lager, dessen Trübseligkeit gegen die gehobene Stimmung in der Felshöhle sehr abstach.

»Geht nicht weit fort, Kinder,« bat der Kaufmann. »Ich bleibe hier in der größten Unruhe zurück, das bedenkt.«

Bill schüttelte die erhobene Faust. »Alles um dieser verruchten Spitzbuben willen!« grollte er. »An Bord der Argo gab es Vorräte jeder Art!«

»Ich bringe Wasser für Mrs. Neubert und die armen Kleinen,« setzte er dann zuversichtlich hinzu, »oder ich komme selbst nicht wieder.«

Neubert lächelte. »Das letztere überlegen Sie sich noch, Bill! Was sollten wir wohl beginnen ohne unsre beiden treuen, zuverlässigen Freunde?«

Der Fischer schulterte das Blechgefäß. » All right, Sir!« versetzte er. »Es werden ja wohl ein paar Tropfen aufzutreiben sein.«

Als die dreie sich entfernen wollten, rief Mr. Forster mit matter Stimme Bills Namen. »Guter Mann,« sagte er, »bringen Sie auch mir einen kühlen Trunk? Ich bin halb verschmachtet und die Wundränder brennen.«

Bill nickte, ein Zug lustigen Spottes flog über sein gutmütiges Gesicht. »Lernt der Herr jetzt bitten, wenn er etwas zu erlangen wünscht?« sagte er. »Das ist ja eine Änderung zum Bessern. Na, wenn es überhaupt Wasser gibt, so wird's für alle sein, auch für Sie.«

Der Verwundete drehte den Kopf nach der andern Seite. Er bereute schon jetzt die Bitte, welche sich ihm unwillkürlich auf die Lippen gedrängt hatte, – dies unbotmäßige Volk sollte es büßen, sobald er selbst nur erst einmal wieder unter gleichgesinnten Freunden war. Den Kaufmann wollte er dem Henker überliefern und die beiden Fischer, wenn es anging, als seine Helfershelfer daneben.

Ein böser Triumph schwellte bei diesem Gedanken sein Inneres. Hatte er dereinst aus flammendem Hasse den Vater nach Brasilien verkauft, so konnte heute noch mit dem Sohne ein gleiches geschehen, – dann würde Lionel mit Muße bereuen, was damals im Garten des Friedensrichters vorgefallen war. Vielleicht bald sogar! Bald! Noch zwei Tagereisen weiter und der Kriegsschauplatz war erreicht.

Die drei Abgesandten durchzogen unterdessen eine wahre Sandwüste. Hier und dort erhob sich ein alter lebensschwacher Weidenbaum, ein krüppelhaftes Gebüsch oder eine Strecke dürrer Schwarztannen, sonst wuchs am Boden wenig oder nichts; sobald das Gebiet der Felsen begann, war alles öde und grau.

»Hier werden wir kein Wasser finden,« meinte Bill.

»Laßt uns durch das Tannenholz gehen,« schlug Lionel vor, »zuweilen gibt es in solchen kleinen Wäldern einen See oder eine Quelle.«

»Hier nicht!« antwortete Bill. »Aber wir können es ja immerhin versuchen.«

Der Boden des Tannengehölzes war braun und elastisch, ein frischer, kräftiger Hauch durchzog die Luft, allein Wasser gab es auch hier nicht. Die drei Kundschafter sahen sich am entgegengesetzten Ende des Wäldchens, ohne auch nur einen Graben oder Tümpel entdeckt zu haben. Nun lag dicht vor ihren Blicken die Bergkette, zwischen deren einzelnen Ausläufern grüne Bäume sich erhoben und viele verschiedene Vögel ab und zu flogen, – sie sahen einander ratlos an.

Kein Wasser!

»Meine arme Mutter!« seufzte Hermann. »Was soll ich thun, um ihr Linderung zu verschaffen?«

Bill horchte. »Mir kommt's vor, als höre ich ein Rauschen wie von einem Quell!« sagte er. »Bemerken Sie es nicht auch?«

Die beiden jungen Leute hielten den Atem an. »Wahrhaftig, es rauscht! Aber wo? Man sieht nicht das Mindeste.«

»Jedenfalls befindet sich die Quelle zwischen den Felsen.«

Die Worte waren kaum gesprochen, als auch schon alle dreie in beflügelter Eile der Gebirgskette zuwanderten. Bei jedem Schritt wurde das Geräusch deutlicher, aber so sehr sich auch aller Augen anstrengten, um den ersehnten Quell zu entdecken, so vollständig vergebens war diese Bemühung. Das Wasser rauschte, aber verborgen zwischen den Klippen, man sah es nicht.

Hermann wurde vor Verdruß dunkelrot. »Ich will den Quell finden,« rief er, »und sollte ich bis morgen suchen müssen.«

»Laßt uns zunächst vorsichtig dem Schalle nachgehen,« meinte Lionel. »Etwas links, wie mich deucht! – Noch weiter! Noch weiter!«

»Da kommt ein Abgrund!« rief Bill.

»Dann müssen wir versuchen, hinüber zu gelangen. Wer seine Sache verloren gibt, der kommt niemals zum Ziel.«

Und Lionel sprang über die nächsten Klippen, aber doch nur, um gleich darauf inne zu halten. »O wie schade!« rief er. »Da ganz unten ist der Quell.«

Die andern folgten ihm nach und sahen an seiner Seite in eine tiefe Schlucht, zu der kein betretbarer Weg hinabführte. An beiden Ufern erhoben sich glatte, steile Wände, die viel zu hoch waren, um einen Sprung oder ein Daranhängen zu gestatten, – man hätte nur mittels langer Seile und eines tüchtigen Brettes oder Holzstuhles hinunter gelangen können, das erkannten alle und sahen sich ratlos an. Was nun?

Da unten auf dem Grunde plätscherten klare Fluten, der kühle Duft stieg herauf zu den Wanderern und reizte ihren Durst, bis er zu quälender Begier wurde, aber kein Tropfen des ersehnten Labetrunkes war zu erreichen. Auf halber Höhe sprang der Quell aus dem Stein hervor und unten verschwand das Wasser in den Boden hinein, ohne eine Spur seiner Gegenwart zu hinterlassen. Rauschend und murmelnd stürzten immer neue Fluten nach, weißschäumend fielen sie auf die Felsen des Grundes und verschwanden.

Bill schüttelte den Kopf. »Irgendwo muß ein Abzug sein,« sagte er.

»So laßt uns ihn suchen!« riet Lionel.

»Nein, nein, wir dürfen keine Zeit verlieren!« bat Hermann. »Meine Mutter kann nicht länger auf die Erquickung warten. Ich will zum Lager laufen und alle vorhandenen Seile holen, – ihr laßt mich hinab, damit ich wenigstens eine Flasche fülle.«

Bill schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, junger Herr, wir haben kein Brett, auf dem Sie stehen könnten.«

»Einerlei, Bill, einerlei, ich hänge an den Seilen, das muß gehen, und wenn es mir auch einige Schmerzen verursachen sollte.«

Er begann eilends hinabzusteigen. »Bleibt hier oben,« bat er, »ich kann euch dann von weitem sehen und brauche nicht erst Umwege zu machen. Bitte, bitte, bleibt hier!«

»Weißt du denn aber auch den Weg?« fragte Lionel. »Soll ich nicht mit dir gehen?«

»Nein, nein, – ich laufe allein am schnellsten.«

Dann war er auf dem kürzesten Wege hinab geklettert und eilte in gerader Linie dem Tannengehölze entgegen, plötzlich aber sahen die beiden andern, daß er mitten im Laufe innehielt und sich bückte. Eine halbe Minute später warf er beide Arme in die Luft und vollführte eine kräftige Bewegung wie jemand, dessen Füße mit Gewalt losgerissen werden müssen. Die Wucht dieser Anstrengung war so groß, daß Hermann taumelte und erst nach Sekunden die freie Bewegung seiner Glieder zurückgewann. »Wasser!« rief er. »Wasser!«

Und ohne sich mehr Zeit zu lassen, begann er, auf den Knieen liegend, mit beiden Händen den Sand aufzuwühlen.

Bill und Lionel sahen einander an. So weit der Blick reichte, war nichts als nur eine weite, graue Sandfläche zu entdecken, – und Hermann sprach von Wasser?

Aber sie kletterten doch ohne Zeitverlust hinab und sahen nun das Wunder mit eignen Augen. Der Gebirgsquell war nicht kräftig genug, um sich in der tiefen Sandschicht ein eigenes Bette zu wühlen, er sickerte nur hindurch, ohne äußerlich bemerkbar zu werden. Wenn aber der Fuß des ahnungslosen Wanderers den trügerischen Boden betrat, dann hielt das Wasser ihn fest und nur eine schnelle, kräftige Anstrengung rettete vor dem Versinken in den gefährlichen Sand.

»Ich brauche notwendig ein zweites Gefäß!« rief Hermann. »Ach, wenn es hier so etwas wie einen hölzernen Kochlöffel gäbe!«

Bill holte aus seiner Tasche ein Fläschchen hervor. »Nehmen Sie das, junger Herr! Ich will ein größeres Loch ausgraben.«

Hermann tauchte die Flasche in das den künstlich gezogenen Graben ausfüllende klare Wasser und konnte nun bald sein Blechgefäß überlaufen sehen, während Bills und Lionels kräftige Arme einen Teich schafften und soviel Wasser gewannen, als die Kochtöpfe nur fassen wollten.

Sobald der Sand auf den Boden gesunken war, glänzte die Flüssigkeit wie Kristall, – man konnte jetzt nach Herzenslust trinken und sich dann auf den Heimweg begeben, um auch den anderen Durstigen die ersehnte Labung zu bringen, die ihnen neues Leben einflößen sollte.

»Beinahe wäre ich versunken,« sagte Hermann. »Der Sand schien mir naß und als ich die Sache genauer besehen wollte, hielt der Schlamm meine Füße bereits fest.«

Lionel säuberte seine Hände an den Blättern einer Weide. »Da hätten wir wie kleine Kinder mit Sand gespielt,« sagte er, »Teiche angelegt und Wälle gezogen. Morgen wird wohl dieselbe Geschichte wieder vor sich gehen.«

»Aber dann nehmen wir irgend etwas zum Schaufeln mit; Küchenlöffel oder eine Bratpfanne. Mein Gott, erst in der Wildnis merkt man, welchen Wert die einfachsten Lebensbedürfnisse haben. Ein Glas Wasser wird verschmäht, wenn es nur eine Stunde gestanden hat – und hier genießt man es, mit Sand vermischt wie einen Leckerbissen!«

»Still!« gebot Lionel, »laßt uns lieber singen, als allerlei trübe Betrachtungen anstellen. Es könnte noch schlimmer sein, als es ist.«

Und die jungen frischen Stimmen erklangen im Takte, während die Füße mit Sturmschritten dem Lagerplatze zueilten. Martin hatte ein tüchtiges Feuer entzündet, große Haufen von Tannenzweigen knisterten in der Glut, während das letzte Stück Fleisch im Topfe zischte und prasselte. Kaffee oder Zucker gab es nicht mehr, auch keine Früchte, – morgen mußte man doch unter allen Umständen wieder neues Wild schießen und Beeren oder Pilze erbeuten.

Als die jungen Leute den Verwundeten suchten, fanden sie, daß er aufgestanden war und sich bemühte, allein zu gehen. Seine Haltung verriet große Schwäche, aber er bezwang sich tapfer und gelangte ohne Hilfe wieder zu der Bahre, die ihm als Lager diente. Für den dargebotenen Trunk dankte er sehr höflich und fügte hinzu, daß er die Mühe anständig bezahlen würde, wenn nicht bei dem Sturze in das Wasser sein ganzer Geldvorrat verloren gegangen sei.

Bill machte ihm heimlich eine Faust. »Der Schurke ist wahrhaftig in guter Laune,« murmelte er. »Seine Phantasie spiegelt ihm schon den Tag vor, wo wir alle in den Händen der Konföderierten sind und wo er uns abschlachten lassen kann.«

Neubert seufzte. »Möchte Gott uns beschützen!« sagte er sehr ernst.

Die Nacht verging ohne Störung, am Morgen wurde der Rest des gestern gebratenen Fleisches verzehrt und dann die neue Wanderung angetreten. Was jetzt noch an Lebensmitteln vorhanden war, das reichte kaum hin, um die Forderungen der Kinder zu befriedigen.

Wasser hatten Bill und Lionel aus dem versteckten Quell hervorgegraben, aber es fehlte an Fleisch, weshalb die Männer fortwährend nach irgend einem Wild ausspähten, ohne indessen das mindeste zu entdecken. Auf den üppig grünen Wiesen hatte es gestern Hasen und Hühner in Fülle gegeben, – hier fand sich nicht ein Tier.

Gegen Mittag begann wieder der schöne Laubwald mit seinen Vogelstimmen und seinem Blütenschmuck. Schmetterlinge wiegten sich in der warmen, sonnigen Luft, rote Früchte glänzten an den Büschen, weicher Moosboden lud zur Rast.

»Jetzt wollen wir essen!« rief die kleine Toni.

Frau Neubert wandte sich ab, um das Zucken ihrer Lippen zu verbergen. »Pflückt Beeren, Kinder!« sagte sie mit matter Stimme.

»Wir wollen aber lieber Fleisch haben!«

Der Kaufmann seufzte. »Es wäre klüger gewesen, gestern schon einige Hasen zu schießen,« sagte er. »Aber die Munition! die Munition.« – –

Ohne Verabredung hatten alle an einer freien Stelle unter uralten dichtbelaubten Walnußbäumen Halt gemacht, die Bahre mit dem Kranken war niedergesetzt worden und der letzte Topf voll Wasser kam zur Teilung. »Hier gibt es ohne Zweifel in der Nähe einen Quell oder Fluß,« sagte Bill. »Ich habe vorhin Störche gesehen.«

Das klang ermutigend, aber bot keine Aussicht auf Sättigung. Was da fehlte, war ein tüchtiges Stück Fleisch.

Neubert hatte eine Zeitlang unter vier Augen mit seiner Frau gesprochen, jetzt wandte er sich zu den beiden Fischern. »Es geht so nicht länger, Leute,« sagte er. »Wir haben bei der gestrigen Wanderung doppelt soviel Fleisch verzehrt, als sonst, – es muß Rat geschafft werden, um die Kinder zu sättigen. Wollen Sie beide bei meiner Familie als Schutz zurückbleiben, so teilen wir die Munition und mit der Hälfte versuchen die Knaben und ich, irgend ein Stück Wild zu erlegen.«

Bill nickte. »Das ist auch meine Ansicht, Sir. Wir schlagen das Zelt auf und sammeln Brennholz. Hier zwischen den dichten Gebüschen ist ein guter Lagerplatz.«

»Seit dem Morgen sind wir kaum eine halbe Meile gegangen!« sagte Neubert trübe. »Gott allein weiß, wie diese Reise enden wird! Aber ich kann nicht ruhig ansehen, daß die Kinder hungern.«

Er teilte sorgfältig Pulver und Blei in zwei Hälften, dann nahm er die eine und versorgte mit diesem geringen Vorrat die Gewehre der beiden Knaben und sein eigenes. »Wir müssen nun unser Heil versuchen,« sagte er. »Vielleicht bleiben wir während der Nacht aus, um gegen Morgen ein Wild zu beschleichen, – das braucht euch keine Sorge einzuflößen.«

In gedrückter Stimmung erfolgte dann der Abschied. »Was sollte es helfen, mit leerer Hand wieder hierher zu kommen?« sagte leise Herr Neubert. »Ich kann es nicht ertragen, euch Mangel leiden zu sehen.«

Die arme Frau bezwang tapfer ihre Thränen. »Gott beschütze dich, Papa!« flüsterte sie.

»Das wird er sicherlich! Und nun lebt wohl! Ich lasse euch in sicherer Hut, Bill und Martin sind erprobte, zuverlässige Leute.«

Auch die beiden Knaben nahmen Abschied und dann wanderten alle dreie in den Wald hinein. »Gerade an dieser Stelle müssen damals die Schüsse gefallen sein!« meinte der Kaufmann. »Das ist es, was mir so große Unruhe einflößt. Wenn wir einer Abteilung konföderierter Truppen in die Hände fielen!«

»Papa!« fragte Hermann, »bist du heute zum erstenmale mutlos? Hältst du unsere Lage für so sehr bedenklich?«

Der Kaufmann nickte ernst. »Sehr!« gestand er. »In jeder Sekunde können Uniformen durch die Gebüsche schimmern. Wir befinden uns in unmittelbarer Nähe des Kriegsschauplatzes. Mein ganzes Vermögen gäbe ich mit Freuden hin, wenn wir zu dieser Stunde wieder sicher an Bord der Argo säßen.«

Lionel nickte. »Das ist dahin, Sir, unwiederbringlich dahin. Wir müssen jetzt sehen, Frau Neubert und den Kindern irgend etwas Genießbares zu bringen, und wäre es ein Eichhörnchen- oder Kaninchenbraten.«

»Die übrigens auch noch fehlen! Du hast recht, mein guter Junge, laß uns versuchen, was beharrlicher Wille vermag. Mich freut nur, daß wenigstens Beerenfrüchte vorhanden sind, um doch den Durst zu löschen. Vielleicht schießt auch Bill irgend einen Vogel.«

»Oder er fängt Fische. Gleich hinter dem Lager schimmerte ja ein See, – mich deucht, ich sehe das Wasser noch von hier aus.«

Sie suchten sich gegenseitig, so gut als es anging, zu trösten, aber doch war allen das Herz sehr schwer, – sie erkannten ihre mißliche Lage nur zu wohl und wußten, daß die Gefahr am seidenen Faden über ihren Häuptern hing. Eine merkwürdige Stille lag auf diesem Teil des Waldes, kein Hase oder auch nur Eichhörnchen ließ sich blicken, es schien, als sei das Tierleben der Wildnis verscheucht und durch eine stärkere Gewalt in seine Schlupfwinkel zurückgedrängt; selbst Vögel waren wenig vorhanden.

Es fand sich indessen kein zertretenes Blümchen, kein geknickter Zweig. Unmöglich hatten Soldaten diese Stelle passiert.

»Vielleicht waren in der Umgebung unseres früheren Lagers so viele Hirsche, weil sie hier verdrängt wurden!« meinte Lionel.

Der Kaufmann nickte. »Derselbe Gedanke ist auch mir schon gekommen,« versetzte er, »aber gerade dies Zeichen bedeutet die Gefahr. Es sind Truppenansammlungen in der Nähe.«

Wieder wurde der Marsch fortgesetzt und immer von Zeit zu Zeit ein Baum am Wege mit einem Merkzeichen versehen. Jetzt trennten zwei starke Stunden die Männer von der Stelle, wo sie ihre Lieben ohne Lebensmittel, ohne ein schützendes Dach im Walde zurückgelassen hatten.

Neubert blieb stehen. »Wir müssen darauf rechnen, die Nacht hier zuzubringen,« sagte er. »Unsere einzige Hoffnung ist auf irgend ein Nachttier, das zur Tränke geht, – laßt uns also einen Wildpfad suchen und dann ein wenig ausruhen.«

»Da vor uns schimmert Wasser,« sagte Hermann.

»Nun gut, dann wird sich auch eine Stelle finden, wohin die durstigen Tiere gehen. Wir wollen einstweilen nachsehen, ob sich nicht etwa einige Enten erbeuten lassen.«

Aber auch diese Hoffnung erwies sich als trügerisch; das Wasser war ein kleiner, klarer Gebirgsbach, in dem es von Gründlingen wimmelte, aber an seinem Rande nistete kein Vogel, es war auch hier weit und breit kein lebendes Wesen zu entdecken.

Wie ein Bann, eine Verzauberung lastete es auf der schönen, blühenden Gegend.

»Hier ist ein Wildpfad!« meldete Hermann.

Der Kaufmann untersuchte sogleich die Spur. »Seit mehreren Tagen ist die Fährte nicht mehr begangen,« erklärte er. »Das wird uns keinen Erfolg bringen.«

Und sich in das Moos werfend, stützte er den Kopf in die Rechte. Kein Ausweg, kein Trost, wohin auch das Auge blickte. Sollte er mit leerer Hand zurückkommen und die Seinigen verhungern sehen? – Er schauderte bei diesem schrecklichen Gedanken.

»Hätten wir doch neulich Hasen geschossen!« sagte Hermann.

»Ich wollte die Kugel für ein größeres Wild sparen! Ich wagte nicht, sie zu verschwenden, aus Furcht, für eure Verteidigung keine Mittel zu behalten.«

Hermann schlang beide Arme um den Hals seines Vaters. »Das wissen wir ja, Papa!« rief er. »Du solltest nicht so ganz den Mut verlieren, dich der Sorge nicht so widerstandslos hingeben! Bedenke doch nur, wie viel Schwereres du in dem schrecklichen Gefängnis schon durchlitten hast!«

Neubert schüttelte den Kopf. »Nichts!« rief er energisch. »Nichts gegen den Jammer, euch hungern zu sehen. Die Füße deiner armen Mutter bluteten gestern schon, – heute hat sie nicht einmal einen Bissen Fleisch, ja ich kann nicht an ihrer Seite sein, um sie zu trösten.«

»Lassen Sie uns umkehren, Sir!« rief Lionel. »Wenigstens tragen wir dann, was da geschehen mag, mit einander.«

Ein mattes Lächeln antwortete ihm. »Noch nicht, mein Junge! Zuerst wollen wir abwarten, ob möglicherweise in der Nacht ein Tier zur Tränke kommt.«

Auch Lionel und Hermann streckten sich in das Gras. »Glücklicherweise haben wir Vollmond,« meinte ersterer. »Der Rückweg kann uns also nicht fehlen.«

Niemand antwortete ihm, es entstand eine Stille, die längere Zeit hindurch nicht mehr unterbrochen wurde. Wer sechs Stunden marschiert ist, ohne einen Bissen zu genießen, der ist todmüde, er sehnt sich nur nach einem: – ungestört ausruhen zu dürfen.

Langsam erschien über den Baumwipfeln das runde, lächelnde Mondgesicht. Der alte Geselle blinzelte. »Paßt auf!« sagte sein behagliches Schmunzeln, »gleich gibt es eine Überraschung.«

Und dann schob er einen seiner Strahlen so durch die Zweige, daß Lionels Nase getroffen wurde, der schelmische alte Mond – dann weckte er richtig den schlummernden Knaben, als dieser just eben im Traume einen braunen, saftigen Rinderbraten verzehrte. Ein eigentümliches Geräusch schien gerade jetzt zu verklingen, – war es nicht Hahnenkrähen?

Lionel setzte sich aufrecht und horchte. Unmöglich! Die wilden Hähne krähen nicht wie die, welche auf den bäuerlichen Düngerhaufen mit erhobenem Fuße stehen und ihren Gesang hinausschmettern in die benachbarte Welt.

Aber das Herz des Knaben schlug doch schneller, er hielt den Atem an, um keinen Ton zu verlieren. Und richtig! da war es wieder. Kikerikih! Kikerikih! – Ein Haushahn, wie er im Buche steht.

»Herr Neubert!« rief Lionel, »Hermann! Hermann! – hört ihr nicht?«

Der Kaufmann fuhr auf, seine Hand suchte sogleich die Kugelbüchse. »Wo?« flüsterte er. »Sind Soldaten da?«

»Es kräht ein Hahn, Sir! Wahrscheinlich befinden wir uns in der Nähe einer Farm.«

Auch Hermann war jetzt erwacht. Sie horchten alle drei, bebend vor Aufregung.

»Kikerikih! – Kük! Kük!«

»Zwei verschiedene Hähne!« rief Lionel.

Neubert stand auf. »Wir wollen dem Schalle nachgehen!« sagte er. »Ich bin überzeugt, die Tiere befinden sich keine zweihundert Schritte von hier.«

»Und du willst auf der Farm um Lebensmittel bitten, Papa?«

»Jedenfalls, mein Junge, was auch für mich daraus entstehen möge. Deine Mutter und die Kleinen dürfen nicht länger leiden.«

Moos und Halme wurden von den Kleidern geklopft, die Gewehre in die Hand genommen und dann machten sich alle auf den Weg. »Ich kann mir nicht denken, daß eine Farm so völlig wilde Umgebungen haben sollte,« flüsterte der Kaufmann. »Da ist keine Fenz, kein Brunnen, keine Spur eines gebahnten Weges. Sonderbar!«

»Aber da krähen wieder die Hähne. Es sind ganz junge Tiere, glaube ich.«

»Fast noch Küken. Nun, wir werden ja gleich sehen.«

Sie drangen vorsichtig schleichend, einer hinter dem anderen in die Gebüsche, aus denen der Schall hervorkam. Weiße Mondstrahlen schimmerten hindurch, der blaue, sternenbesäete Himmel wölbte sich über einer Waldblöße, die ziemlich weit ausgedehnt schien, aber es zeigte sich nirgends ein Gebäude, nirgends eine Hindeutung auf einen bewohnten Ort.

»Begreifen Sie das, Sir?« flüsterte Lionel.

»Ich sehe einzelne dunkle Gegenstände, – was mag das sein?«

»Ich auch!« flüsterte Hermann. »Fünf! – Nein, sieben verschlossene Wagen!«

»Was? – Wagen?«

»Mein Gott, wenn hinter den Bäumen Soldaten lagerten!«

»Vorsichtig! Vorsichtig!«

Neubert schüttelte den Kopf. »Ihr denkt an einen Train, eine Proviantkolonne? Aber das ist unmöglich, sonst müßten hier Wachtposten stehen.«

»Nun,« meinte Lionel, »eine Farm ist es auf keinen Fall.«

Die Hähne krähten jetzt mit einander um die Wette, ganz in unmittelbarer Nähe sogar. Lionel deutete mit dem Finger auf einen der Wagen. »Dort hängt jedenfalls der Korb, in dem sich die Tiere befinden.«

»Sie schreien nach Futter!«

»Ich gehe hin,« sagte entschlossen der Knabe.

Neubert hielt ihn zurück. »Laß' mich den Anfang machen, hörst du! Vielleicht mußte hier eine Stellung, die schon behauptet war, vor dem Andrängen des Feindes wieder aufgegeben werden; Menschen und Pferde konnten flüchten, aber die Wagen ließ man im Stiche!«

»Sind es Munitionswagen?« flüsterte Hermann.

»Ich will nachsehen, Kinder! Bleibt hier, bis ich ench rufe.«

Und Neubert schlüpfte durch das Gebüsch auf die freie Waldblöße hinaus. Vom hellen Mondlicht umflutet sahen ihn die Knaben schnellen Schrittes dem nächsten Wagen entgegen gehen, beide hielten in atemloser Spannung die Gewehre schußgerecht, um den ersten Feind, der sich etwa zeigen würde, sofort niederzustrecken.

Aber es kam niemand. Als Neubert den Wagen erreicht hatte, brach über seine Lippen ein halberstickter Freudenruf. »Ein Train der Regierungstruppen!« rief er.

»Proviant?« fragte Hermann.

»Ja! ja! – O Gott, ich danke dir, hier sind Lebensmittel!«

Jetzt folgten auch die beiden Knaben; ihren vereinten Bemühungen gelang es sehr bald, die Schlösser zu sprengen, und nun lagen vor den entzückten Blicken Schätze, die genügend reichlich gewesen wären, um zwanzig und noch mehr Menschen wochenlang zu ernähren.

»Wein!« rief Lionel. »Likör! – Zahllose Flaschen!«

»Eingemachte Früchte, Konserven, Zwieback, Zucker, Thee, Kaffee, – Halloh! und hier ein paar Schinken, hier geräucherte Wurst!«

»Fleisch in Büchsen! Kerzen, Pfeffer und hier Salz! Gott sei gepriesen, ein ganzer Sack voll!«

»Mein Fund ist der beste!« rief Neubert. »Eine Feldapotheke!«

»Aber wie schaffen wir alle diese guten Dinge fort?« fragte Lionel. »Man kann nur so wenig davon wegtragen.«

Und sein Taschenmesser fuhr in den Schinken hinein, der Kork einer Flasche wurde schleunigst herausgegraben und dann das Getränk an die Lippen gesetzt. Auch die beiden anderen schmausten und tranken nach Herzenslust, ehe sie weiter berieten.

Aber das dauerte doch nur, bis der erste, alles beherrschende Hunger gestillt war. Schon nach zehn Minuten schob Neubert das Messer wieder in die Tasche. »Wißt ihr, Kinder,« sagte er, »wir wollen zunächst im Walde einen gehörigen Vorrat von Lebensmitteln verstecken und dann uns selbst mit dem Nötigsten beladen. Es wäre doch immerhin möglich, daß Sieger oder Besiegte hierher zurückkämen, um die Sachen zu holen.«

Dieser Vorschlag fand den lebhaftesten Beifall. »Wenigstens zehn Pferdedecken liegen hier herum,« fuhr der Kaufmann fort, »die nehmen wir, füllen hinein, was uns gut scheint und tragen das Ganze in den Wald. Da hier keine wilden Tiere leben, so wird auch von den Vorräten, die wir mit Moos bedecken, voraussichtlich nichts geraubt werden.«

»Weißt du was, Papa?« rief Hermann. »Die kostbarsten Sachen verwahren wir im Hühnerkorb. So Thee, Zucker, Schokolade, Kaffee!«

»Und die Hühner selbst schlachten wir! Das gibt eine herrliche Suppe für Mama und die Kleinen.«

»Besonders, da doch kein Futter vorhanden ist! Die armen Tiere hungern.«

Neubert schnitt weniger kunstgerecht als barmherzig schnell den Küken die Köpfe ab, dann wurde der große Korb gereinigt und mit einer Pferdedecke belegt. Hermann trug ihn eine Strecke weit in den hell vom Mondlicht übergossenen Wald hinaus, tief in das dichte Gebüsch, wo niemand ihn suchen würde und dann brachten alle drei Männer in dies Versteck, was ihnen besonders wertvoll schien und was bei einem etwaigen Regen Schaden erlitten hätte. Eine zweite Wolldecke hüllte das Ganze ein, darauf folgte eine starke Schicht dürren Laubes und nun konnten die Flüchtlinge sicher sein, daß ihr Schatz wohl behütet, vor Nässe und Insekten bewahrt, ruhig verborgen lag, ohne in andere Hände zu fallen. Sie verwischten noch die Spuren ihres Weges, dann kehrten alle zu den halbgeplünderten Wagen zurück und nun begann eine fieberhafte Thätigkeit.

»Alle Pferdegeschirre sind zerschnitten,« sagte Neubert, »jedenfalls um der eiligen Flucht willen. Wir haben also Riemen genug.«

Drei große Pferdedecken wurden am Boden ausgebreitet und gefüllt. Wein und Likör fand am wenigsten Nachfrage; fast alle Flaschen wurden unter Baumwurzeln versteckt, aber nur einige wenige mitgenommen, dagegen Fleisch, Biskuit, Kaffee, Thee, Butter und Zucker, so viel sich nur verpacken ließ. Auch die Feldapotheke fand in einem der Bündel ihren Platz, ein Fäßchen mit Sardinen, Eingemachtes und Gewürz, besonders das Salz.

Dreifache Riemen umschnürten die großen, jedem Träger auf den Rücken geschnallten Pakete; Neubert hatte tüchtige Stöcke geschnitten, die Gewehre wurden in die linke Hand genommen, noch eine Flasche Wein in jede Tasche gesteckt und dann ging es vorwärts durch den stillen, dämmernden Wald, so schnell die schwere Last den Marsch gestatten wollte.

»Es ist gut, daß wir vorhin geschlafen haben,« meinte Hermann. »Nun wird dafür das Lager um so eher erreicht.«

»Wären wir nur erst dort! – Diese Freude für die armen Kinder!«

»Aber doppelte Vorsicht ist jetzt dem Herrn Nathanael Forster gegenüber geboten,« erinnerte Lionel. »Er sollte eigentlich nichts erfahren.«

»Man muß ihn aber doch mitessen lassen, das geht nicht anders.«

»Nun,« setzte Hermann hinzu, »vorläufig gibt es niemand, an den er uns verraten könnte. Das ist wohl die Hauptsache.«

»Und ich werde ihm gehörig auf die Finger passen,« nickte Lionel.

Neubert sah nach der Uhr. »Noch nicht die Hälfte des Weges!« seufzte er.

»Wie sich die kleine Toni freuen wird, Papa! Ihr gebe ich gleich die Zwiebäcke und Alfred bekommt eine Wurst. Aber was soll Baby haben?«

»Hühnersuppe!« entschied Lionel. »Ich denke, wir machen morgen den ersten Rasttag und essen alle ein gutes warmes Gericht, wenn auch die Kartoffeln fehlen. Irgendwo muß ein Glas mit eingekochten Suppenkräutern gewesen sein.«

»Du hast es selbst in deinem Bündel, außerdem Puddingpulver und Fleischextrakt.«

»Also ein ganzes Diner. Welche Augen die Fischer machen werden!«

»Diese guten, braven Leute! Was sollten wir wohl beginnen ohne sie?«

Neubert nickte. »Läßt uns der Himmel die Grenze des feindlichen Gebietes ohne Unfall erreichen, so will ich alles redlich bezahlen,« sagte er, »sogar die Kriegsbeute, welche wir hier im Schweiße unseres Angesichtes fortschleppen. Aber im Augenblick mußten wir sie nehmen, um das Leben zu erhalten.«

»Es wird sich auch schwerlich ein Gläubiger finden, Papa. Jeder andere hätte an deiner Stelle gehandelt wie du.«

Es wurde einen Augenblick Rast gemacht, um die beinahe erlahmten Arme ein wenig auszustrecken, dann ging es weiter, obgleich die Füße schmerzten und die Brust keuchte. Der Gedanke an den Jubel, welcher sie erwartete, hielt alle drei Wanderer aufrecht.

Es war gegen vier Uhr nachts, als sie das Zelt erreichten. Bill und Martin kamen ihnen schon eine Strecke weit entgegen, um zu berichten, daß seit gestern mittag nichts Störendes oder gar Böses geschehen sei, freilich aber auch, daß man keinen Bissen genossen. Wasser war vorhanden gewesen, sonst nichts.

Und dann kam die Erzählung der heimkehrenden Abgesandten. Welch' eine Freude! Welch' eine Erlösung vom Leiden!

Bill nahm Lionels Bündel, Martin dasjenige Hermanns. Neubert lief beinahe trotz der schweren Last, er konnte es nicht erwarten, seiner Frau und den Kindern des Himmels unerwartetes Geschenk in den Schoß zu schütten.

Frau Anna wachte noch, sie beschwichtigte so gut als möglich die weinenden Kinder und hatte jetzt, ehe noch der Vater erschien, aufatmend gesagt: »Papa kommt!« – Der kleine Alfred stürmte zum Ausgange des Zeltes, begierig, halb weinend, halb erwartungsvoll rief er in die Dunkelheit hinein: »Papa, hast du Fleisch mitgebracht? Uns hungert so sehr!«

Ein nicht zu beschreibendes Dankesgefühl durchflutete die Seele des glücklichen Vaters. »Gewiß!« rief er. »Gewiß, mein Söhnchen, du sollst haben, was dein Herz begehrt!«

Und dann legte er das Bündel in die Mitte des Zeltes. Einige Kerzen waren auch dabei, Neubert steckte sie in die Hälse leerer Flaschen und entzündete so ein paar flackernde Flämmchen, die ihr ungewisses Licht über alle diese plötzlich vom Himmel gefallenen Schätze dahinsandten. Endlich konnten die halb Verschmachteten essen, endlich konnten die wunden Füße verbunden werden; es gab kölnisches Wasser und Kampferspiritus, – Frau Neubert lehnte sich, nun erst der Erschöpfung nachgebend, zurück auf ihre Decken und weinte still vor sich hin, während die Kinder schmausten und der Vater alle zugleich versorgte, indem er neue Polster auf die Stirn seiner Frau legte und den Kleinen das Fleisch zerschnitt oder die Biskuits aus der Büchse hervorholte. Draußen tafelten unterdessen die beiden Fischer auf flachem Boden, ohne Beleuchtung oder Teller. Sie hielten sich an Wurst und Schinken; neben ihnen dampfte über schnell angefachtem Feuer der Kessel, ein Zuckerhut zersprang zwischen zwei flachen Steinen in tausend Stücke, eine Rumflasche verlor jählings den Hals und liebliche Düfte zogen wallend den aufgehenden ersten Strahlen des jungen Tagesgestirnes entgegen.

Bill prüfte mit Kennerblicken das Gemisch. »Junger Herr!« sagte er, »fand sich da in den Proviantkasten keine Zitrone?«

»Dutzendweise!« rief Lionel. »Hier, – ich vergaß nur!«

Er reichte ihm einige der gelben, aromatischen Früchte und fügte außerdem noch einen länglichen, flachen Kasten hinzu. »Famose Habana! – lassen Sie sich das Kraut wohlschmecken.«

Bill nickte. »Das sind Liebesgaben aus einer größeren Stadt,« sagte er. »Gesammelte Geschenke für die Offiziere irgend eines vor dem Feinde stehenden Regimentes. Nun, es kann nicht schaden, wenn auch einmal andere Leute einen guten Tag erleben. Ihr Wohlsein, junger Herr!«

Lionel und Hermann thaten Bescheid. Gläser gab es bei diesem, zu so ungewöhnlicher Stunde gehaltenen Schmause allerdings nicht, aber auch die Blechbecher klangen lustig aneinander und Bill und Martin gerieten in eine Stimmung, die sie veranlaßte, einträchtig um das verglimmende Feuer herum einen Walzer zu tanzen. Martin war dabei die Dame, er that sehr jüngferlich und wehte sich mit einem eingebildeten Fächer fortwährend Kühlung zu, indes Bills gewaltige Kratzfüße an die Bewegungen zorniger Pferde erinnerten und beiden vortrefflichen Leuten der Schweiß von der Nasenspitze rann.

Als sie endlich wieder im Gras lagen, nickte Martin zufrieden vor sich hin. »Ein paar Stunden Schlaf müssen wir haben,« sagte er, »dann geht's los!«

»In das gelobte Land natürlich, dahin, wo die sieben Proviantwagen stehen?«

» Yes, Sir, dahin!«

»Ich dachte es mir und ich gehe mit.«

Lionel lachte. »Wir haben Proviant für fünf Tage,« sagte er. »In dieser Zeit ist doch wahrhaftig der Weg von drei starken Stunden auch für Mama und die Kleinen bequem zurückzulegen, weshalb sollte man also mehr Vorräte hierherschleppen?«

Martin blinzelte behaglich. »Das ist auch keineswegs unsere Absicht, junger Herr, aber wir wollen den ganzen Rest verstecken und besonders den noch ungeöffneten Wagen auf den Grund sehen. Vielleicht ist etwas Wäsche darin.«

Und er blickte seufzend auf seine zerrissenen Kleider herab. »Man läuft einher wie eine Vogelscheuche! – Sie sehen auch nicht viel besser aus, junger Herr.«

»Dann bringen Sie nur gleich für uns ein paar Anzüge mit!«

Ein leises Husten ließ in diesem Augenblick alle vier jungen Männer plötzlich aufsehen und wohl auch erschrecken. Mr. Forster hatte von der ganzen reichen Ausbeute dieser Nacht noch nicht einen Bissen erhalten, obwohl ihn der Hunger doch ohne Zweifel eben so sehr peinigte wie irgend ein anderes Mitglied der kleinen Gesellschaft.

Bill stand sogleich auf und füllte einen Becher mit dem heißen Punsch, dann raffte er eine Portion Speisen zusammen und trug alles dem Verwundeten hin. »So, Mr. Forster,« sagte er, »jetzt können Sie essen und trinken.«

In den eingesunkenen Augen des blassen Mannes glühte ein verstecktes Feuer, er hütete sich weislich, irgend welche Empfindlichkeit durchblicken zu lassen. »Punsch?« sagte er, das Gefäß an die Lippen setzend und zwischen Schluck und Schluck sprechend, »Punsch? Woher kommt die Gottesgabe, mein guter Mann? Ist noch ein Tröpfchen vorhanden?«

Bill nahm grüßend die Mütze vom Kopf. »Alle Achtung vor solchem Zuge, Sir! Das war etwa eine halbe Flasche! Und dabei recht ›nördlich‹ gebraut, der Stoff! – Na, her damit, wenn Sie es vertragen können, will ich Ihnen noch einen Mund voll zukommen lassen!«

Eine zweite Portion folgte der ersten, auch sie glitt durch Mr. Forsters abgehärtete Kehle wie bloßes Wasser, dann erst kamen einige Bissen Fleisch, während die Süßigkeiten verächtlich bei Seite geschoben wurden. »Woher stammt das alles, Bill, he?«

»Mr. Neubert und die jungen Herren haben es gebracht, Sir!«

»So! So! Aber wer gab es ihnen?«

»Das wird wohl ein Engel gewesen sein, denke ich! Der liebe Herrgott sah, daß hier Hungersnot sei und packte schnell einige gute Dinge zusammen.«

Ein böser Blick streifte den Fischer; Mr. Forster sagte nichts weiter, aber eine Viertelstunde später übte er sich wieder im Gehen. Die anderen sahen ihn zwischen einer Reihe von Baumstämmen vorsichtig dahinwandern und wenn er sehr erschöpft war, einen Augenblick rasten, um dann unverdrossen die Arbeit wieder aufzunehmen.

»Er will die Sache ergründen,« lachte Bill, »er will sich selbständig machen, der alte Knabe. Sehen Sie nur, wie eine angeschossene Krähe hinkt er da herum!«

Sie lachten heimlich, ohne den wehrlosen Mann zu kränken. Auch hier wurden alle Vorräte sorgfältig verborgen und dann legte sich männiglich zum Schlafen. Das Gefühl einer augenblicklichen Sicherheit macht müde, – wer gesättigt ist, der möchte ruhen.

Es war gegen Mittag, als sich Bill und Martin auf den Weg begaben, während die beiden jungen Leute ein großes Feuer entzündeten und nun das Diner bereitet wurde. Hühnersuppe, geräucherte Ochsenzunge, Pudding mit Gelee, Eingemachtes, – das ließ sich schon ertragen.

»Und dies hier?« fragte Frau Neubert, indem sie eine Blechbüchse emporhielt. »Sollten es eingelegte Austern sein?«

Der Deckel wurde geöffnet und die Seetiere probiert. Diese Schüssel fand keinen Beifall, – weg damit! Pickels und junge Erbsen schmeckten besser.

Lionel rührte den Pudding, Neubert bereitete eine Limonade und Mama stand in Dampfwolken eingehüllt neben dem brennenden Reisig, um die Suppe und das Gemüse zu überwachen. Hermann machte mit den Kindern Sitze aus abgestochenem Grasboden und alle zusammen freuten sich von Herzen der guten Stunde, nur Mr. Forster nicht, er hielt sich immer abgesondert und sprach kein Wort, wenn er nicht gefragt wurde.

Der Anteil der beiden Fischer wurde beim Mittagsessen sorgfältig aufgehoben und das Geschirr gereinigt, dann gingen die Knaben ein wenig in den Wald, um diesen auch nach anderer Richtung hin kennen zu lernen.

Ein ziemlich großer See mit breiten Schilfmassen lag im Thale, wilde Schwäne ruderten in großer Zahl am entgegengesetzten Ufer umher, einige Reiher und andere Wasservögel standen auf einem Beine und fuhren plötzlich, wenn sich eine Beute zeigte, mit dem langen Schnabel in den Sumpf, um die ahnungslosen kleinen Kerfe zu erhaschen und zu verschlucken. Es gab hier keine Enten und besonders keinen zum Fischfang geeigneten Punkt, – ohne die Entdeckung der verlassenen Proviantwagen hätten sämtliche Flüchtlinge Hungers sterben müssen.

Blaue Trauben hingen an den Ufern des Sees von den Bäumen herab, aber sie waren beinahe unzugänglich, der starken, den Stamm umschlingenden Blättermassen wegen. Die Reben spannen ihre grünen Ranken von Ast zu Ast, sie hingen gleich einem bunten Teppich in der Luft, übersäet von Insekten und Schmetterlingen, sie stützten wieder andere, leichtere Fäden verschiedenster Art und so sah es aus, als wüchsen rote, weiße und goldige Blumen an einem und demselben Stiel. Die kleineren Singvögel feierten hier ihre Feste, sie zwitscherten und sangen zu Hunderten in den grünen Verstecken, sie pickten an jede Beere und schmausten nur den süßesten Saft, rücksichtslos das minder Gute bei Seite werfend.

Lionel und Hermann hatten sich in das Gras gelegt, sie beobachteten das bunte vielgestaltige Leben der Tierwelt und ergötzten sich besonders an den immer streitenden kleinen und allerkleinsten Singvögelchen. Einer flog kreischend hinter dem andern her, zehn oder zwanzig Genossen kamen lärmend und flügelschlagend hinzu, alles wirbelte durcheinander und schoß mit schrillem Geschrei durch die Luft, um irgendwo am Boden sekundenlang einen Knäuel zu bilden und dann nach allen Richtungen auseinander zu fahren.

Unwillkürlich kehrten Lionels Gedanken zu der Stätte seiner glücklichen Kindheit zurück. Liebes altes Seven-Oaks, – wer mochte jetzt in seinen Mauern leben?

Philipp Trevor vielleicht?

Gerade diesem treuen und geliebten Freunde hätte er neidlos das Gut überlassen können. Er selbst wollte Soldat werden, je eher, desto lieber, er wollte das Leben freudig einsetzen für die Sache der Unterdrückten und was man ihm Schweres, Schreckliches zugefügt, nach Kräften anderen Unglücklichen fern halten.

Hermann berührte leise seinen Arm. »Siehst du den kleinen, bunten Vogel?« flüsterte er. »Das Geschöpf ist nicht viel größer als ein Taubenei und kämpft lustig mit zehn Gegnern. Sieh! Sieh! Der Schnabel fährt wie eine Klinge durch die Luft.«

Lionel lachte. »Sollen wir einmal die ganze Gesellschaft aufschrecken?« flüsterte er.

Ehe noch seine Worte verklungen waren, schien irgend ein nicht wahrnehmbares Ereignis diese Wirkung schon hervorgebracht zu haben. Sämtliche Vögel stoben schwirrend auseinander, nur der kleine Friedensstörer blieb schreiend und flügelschlagend auf seinem Aste sitzen, indem er den Schnabel weit aufsperrte und klägliche Töne hervorstieß.

»Was hat das Tier?« flüsterte Hermann.

»Sieh doch nur, es verschwindet, es wird rückwärts in die Blättermassen hineingezogen.«

Wirklich war jetzt von dem streitbaren Vögelchen nur noch der Kopf zu sehen und dann verschwand auch dieser, während das laute Geschrei in einem undeutlichen Wimmern erstarb.

»Die Geschichte will ich näher kennen lernen!« rief Lionel.

»Ich auch!«

Sie eilten beide zu der Stelle, wo das Vögelchen verschwunden war und Lionel griff mit der Rechten in das Laub, um zu sehen, ob der kleine Kämpfer überhaupt noch vorhanden sei, aber mit einem kurzen Aufschrei zog er blitzschnell die Finger zurück. »Ich bin gebissen!« rief er. »Das schmerzt heftig!«

Hermann erschrak. »Es wird doch keine Schlange sein!« rief er.

»Nein, dafür ist die Wunde zu klein. Sieh, wie es blutet!«

Er hob die Hand empor und besah den verletzten Finger, von dem das Blut in großen Tropfen herabfiel. »Das ist gekratzt,« sagte er ganz erstaunt, »nicht gebissen!«

Eine Anzahl roter Schrammen lief über den Finger herab, die Wunde brannte wie Feuer, aber Lionel ließ sich durch den Schmerz nicht abschrecken. zunächst nachzusehen, wer ihn angegriffen habe, er hielt an die Stelle, wo das Vögelchen verschwunden war, vorsichtig ein Stück Holz und bemerkte im selben Augenblick zwei schwarze Fühler oder Beine, die auch diesen Angreifer warm zu empfangen gedachten, aber an der Härte des Stoffes abglitten und sich dann äußerst geschwind ins Versteck zurückzogen. Erneute Versuche hatten keinen Erfolg mehr; das verscheuchte Tier kam nicht wieder.

Hermann zog ein Taschenmesser heraus und nun begannen beide junge Leute die geheimnisvolle Höhle des unbekannten Kämpfers bloßzulegen. Blätter und Ranken fielen, die Äste zweier hart neben einander stehender Bäume kamen zum Vorschein und nun sahen unsere Freunde in dem angefaulten, bis zur Hälfte hohlen Stamme des einen derselben eine helle, silberschimmernde Röhre von der Rundung eines mäßigen Handgelenkes und einer Länge von wenigstens zwei Fuß. Dieser seltsame Nestbau hing an Fäden im Innern der Höhlung und ging schief von oben nach unten. Am höchsten Ende zeigten leichte Zuckungen, daß der Bewohner dorthin geflüchtet sei.

»Eine Vogelspinne!« rief Lionel.

»Das dachte auch ich. Wollen wir sie herausholen?«

Lionel sah ganz traurig aus. »Hätte Philipp Trevor dies Nest für seine Sammlung!« rief er. »So sehr die Wunde auch brennt, ich ließe mir alle zehn Finger zerkratzen, um es ihm heil und unversehrt überliefern zu können.«

»Das wäre jedenfalls unausführbar! Aber ich möchte die Spinne sehen.«

»So zerschneide das Nest! Auf Seven-Oaks lebten viele dieser Tiere, deren Bauten ich aber niemals entdecken konnte.«

Hermanns Messer fuhr in die silberglänzende Röhre hinein und wieder schoß das schwarze abscheuliche Tier mit einem gewaltigen Sprunge herzu, um die Klinge anzugreifen, dann verschwand es blitzschnell zwischen den Ranken. Die beiden jungen Leute hatten nur einen schwarzen behaarten Körper von etwa fünf Zentimeter Länge gesehen, den plumpen Kopf und die langen Taster, – ehe sie sich noch einen klaren Begriff bilden konnten, war die Spinne schon geflüchtet.

»Ein widerwärtiges Tier!« rief Hermann, indem er das Nest ablöste und auseinanderriß. »Sieh das arme kleine Vögelchen!«

Den Schnabel geöffnet, die Füße an den Leib hinaufgezogen, so lag der Zaunkönig da; sein buntes Federkleid war umhüllt von einem klebrigen Schleim, mit dem die Spinne ihr Opfer erstickt hatte, seine schwarzen, perlengleichen Augen waren gebrochen, obwohl der Körper sich noch warm anfühlte.

Hermann grub mit dem Messer ein Loch und legte das Vögelchen hinein. »Haben soll die scheußliche Räuberin ihre Beute doch auf keinen Fall,« sagte er. »Das Nest will ich mitnehmen und es meinem Vater zeigen.«

Lionel hatte seine Wunde mit frischen Blättern umwickelt und dadurch die Blutung gestillt, er schlug vor, erst noch im See ein Bad zu nehmen und nachdem das mit Überwindung einiger Schwierigkeiten geschehen war, wanderten beide in weitem Bogen zum Lager zurück.

Bill und Martin hatten sich schon wieder eingefunden. Vor dem Eingange des Zeltes plauderten sie schmausend und trinkend mit Herrn Neubert, während Mr. Forster ganz in der Nähe auf- und abschlich, offenbar, um einen Teil dieser Unterhaltung aufzufangen und sich dadurch in den Besitz des nur geahnten Geheimnisses zu setzen.

Bill vereitelte aber in aller Ruhe diesen Plan, indem er nur solche Mitteilungen machte, die sich auf Speisen und Kleidungsstücke bezogen. »Hier ist etwas für Baby!« sagte er. »Kondensierte Milch! Und hier sind feine Toilettenseifen und dito Handtücher. Mr. Lionel und Mr. Hermann, hier gibt es wollene Jacken und Strümpfe, auch Taschentücher, – bedienen Sie sich!«

Erst als Mr. Forster kraftlos auf sein Bett gesunken war, erzählte er, daß sie beide, Martin und er selbst, nunmehr alles Genießbare im Walde unter Laub und Moos verborgen und besonders, daß sie bei hellem Tageslichte die nächste Umgebung der Wagen untersucht hatten.

»Eine Schlacht hat entweder nicht stattgefunden, oder Tote und Verwundete sind mitgenommen worden,« berichtete Bill. »Ich kann mir den Zusammenhang ganz gut denken. Die Konföderirten haben durch einen Spion Kenntnis erhalten, daß ein Expreßzug mit Liebesgaben ankommen werde und beschlossen demgemäß, mit einem Trupp besonders verwegener Burschen in das von dem Feinde besetzte Gebiet vorzudringen und durch einen Handstreich die gefüllten Bagagewagen zu nehmen. Der Versuch ist fehlgeschlagen.«

Neubert sah sehr ernst aus. »Führt denn von dem Orte des Überfalls ein fahrbarer Weg zur nächsten Bahnstation, mein guter Bill?« fragte er den Fischer.

»Das glaube ich, Sir. Wir verfolgten nach rechts und links die Geleise der Wagen, ebenso sahen wir die Fußspuren ganzer marschierender Kolonnen. Während es Reiterei gewesen zu sein scheint, die den Angriff ausführte, war es Infanterie, welche ihn zurückschlug. Nach meiner Ansicht müssen wir uns ein wenig links halten und können dann vielleicht ungestört die Bahnstation erreichen, oder doch einer Abteilung Regierungstruppen begegnen.«

Neubert legte die Hand gegen seine brennende Stirn. »Die Bahnstation erreichen!« wiederholte er. »Das sagen Sie so ruhig, Bill, so ganz, als schlösse es nicht alle Fragen in sich, als wär's nicht eine Erlösung von aller Sorge und Qual! – Aber es ahnt mir, daß doch noch schwere Kämpfe bevorstehen, ehe dies Ziel errungen ist.«

»Lassen Sie nur den Horcher hier neben uns nichts erfahren, Sir! Der kriecht auf allen Vieren hin, um uns zu verraten.«

Martin schüttelte den Kopf. »Er soll uns gar nichts schaden, der Bursche! Ich habe so meinen Plan, Mr. Neubert.«

»Nun,« fragte aufhorchend der Kaufmann, »lassen Sie hören, Freund, was es ist? Hoffentlich ein guter Gedanke!«

»Das glaube ich, Sir! Sollte wohl die Mistreß und die Kleinen morgen den ganzen Weg bis zur bewußten Stelle zurücklegen können?«

Neubert schüttelte den Kopf. »Nein, Martin, das ist unmöglich.«

Der Fischer hob die Hand. »Auch gut, Sir! Wir müssen dann eben einen Tag mehr verbrauchen. Wenn aber erst einmal etwas links von den Verstecken unserer Lebensmittel das Lager aufgeschlagen ist, dann gehe ich auf Kundschaft aus und überzeuge mich, ehe Sie weiter vordringen, von dem Stande der Dinge. Mir wird niemand etwas in den Weg legen, besonders da ich die Geschichte meiner Reise der Wahrheit gemäß erzählen kann. Mein Fischerboot ist von Piraten auf Grund gesetzt und ich schlage mich mühselig quer durch den Wald, um wieder zu Menschen zu gelangen. Daß noch mehrere Personen mir folgen, brauche ich nicht dabei zu sagen.«

Bill hatte seinen Genossen ruhig ausreden lassen, jetzt nickte er lebhaft mit dem Kopfe. »Du hast recht, Martin,« rief er, »das war wirklich ein guter Gedanke! Ich bleibe bei Herrn Neuberts Familie zurück, und du machst dich auf, um zu erforschen, in wessen Händen sich gegenwärtig die Eisenbahnstation befindet.«

Auch der Kaufmann gab seine Zustimmung zu erkennen. »Wie ist die Örtlichkeit?« fragte er. »Kann man ein Versteck finden?«

»Sehr gut, Sir. Die Kasten der Wagen geben überdies vortreffliches Material zu einer Hütte. Wir haben sie bereits sämtlich im Dickicht verborgen. Auch Wasser ist da, ein schneller kleiner Bach, derselbe, den Sie sahen, – er läuft im Bogen um den Platz herum und geht bis an den See, der hier vor unseren Augen liegt. Die Soldaten haben an zwei Stellen aus unbehauenen Stämmen Notbrücken hergestellt.«

»Welch' ein Kundschafter Sie sind, Martin!« lächelte Neubert, dessen Zuversicht unwillkürlich an der des Fischers erstarkte. »Ich danke Ihnen beiden aus Herzensgrund für alle Ihre Freundschaft und Treue.«

Die gutmütigen Leute ließen ihn kaum ausreden. »Sehen Sie einmal, Sir!« rief Bill, indem er einen verhüllten Gegenstand vom Boden aufnahm, »hier ist etwas, womit man sich einen vergnügten Abend macht!«

Eine große Ziehharmonika kam zum Vorschein. An der Seite klebte ein Zettel mit den Worten: ›Für den braven Dennis!‹ und darin steckte eine Photographie, die zwei Kinder in eleganten Anzügen darstellte. Jedenfalls waren diese die Spender des Geschenkes, ihre hübschen Gesichter sahen aus, als wollten sie sagen: »Viel Vergnügen, Dennis!«

»Eine Gabe für einen Offiziersburschen!« meinte Herr Neubert. »Ob der arme Schelm überhaupt noch lebt?«

»Das mag Gott wissen, Sir! Jedenfalls ist es ausgemacht, daß wir leben und daß wir dafür sorgen müssen, uns bei gutem Mute zu halten.«

Dabei schob er seine derben, arbeitsharten Finger in die Riemen hinein und begann zu spielen, – eine fröhliche Melodie mit raschem Tempo, die sogar Frau Neubert bewog, aus dem Zelte zu kommen und ihm zuzuhören.

Die arme Frau war sehr blaß, ihre Füße schmerzten noch immer heftig; seit jenem Tage, wo die Argo versenkt wurde, war sie um Jahre gealtert, durch ihr dunkles Haar zogen sich weiße Fäden, die Augen waren von tiefen, bläulichen Schatten umgeben.

Bill sah sie und sein gutes Herz empfand ein unwillkürliches Mitleid, das Verlangen, ihr Trost und Hoffnung zuzusprechen. Er ließ die lustige Melodie langsam übergehen in eine ernstere, getragene, dann nahm das leise Spiel eine bestimmtere Form an und durch den stillen Wald zogen die Klange eines Chorals. »Wer nur den lieben Gott läßt walten!« fiel in deutschen Worten Neubert ein und bald nach ihm alle übrigen bis auf Mr. Forster, der abseits saß und Grimassen schnitt. Die Kinder der Familie Neubert hatten alle ein musikalisches Talent, auch Lionel kannte die Melodie und so sangen alle mit einander, während am Himmel die Sonne zum purpurnen Ball ward und allmählich ihr Strahlenantlitz in den klaren Fluten des Sees zu spiegeln begann.

Durch goldig roten Schimmer segelten langsam die Schwäne dahin, wie von lichter Glut umflammt glänzten die Laubkronen am Ufer. »Wer nur den lieben Gott läßt walten!« – die ganze stille, friedliche Natur schien den unruhvollen, von der Not des Lebens gejagten Menschen die ernste Mahnung so recht vernehmlich zuzurufen. Es ist umsonst mit aller unserer Sorge, umsonst, daß wir die Hände ringen in tödlicher Furcht vor dem kommenden Tage, – nur das Vertrauen auf die unbeirrbare Liebe und Gerechtigkeit des Ewigen kann unsere Herzen stille machen und ruhig auch im Sturme, im steten Kampfe des Erdendaseins.

Fernab saß Mr. Forster und bis zu seiner Seele drang kein Ton des frommen Liedes. Der Unglückliche dachte an die Flasche, welche halbgeleert zwischen den beiden Fischern im Grase lag. ›Johannisberger‹ stand darauf, er hatte es vorhin bei seinen Streifereien mühsam herausgebracht. Was sollte denn den beiden Bootsknechten der herrliche Stoff? Ein Schluck Branntwein hätte es auch gethan. Und der Besitzer von Hunderttausenden knirschte mit den Zähnen, weil es ihm unmöglich war, die Neige in jener Flasche für sich zu erlangen; als alle übrigen schliefen, kroch er auf Händen und Füßen herzu, um gierig die letzten Tropfen zu schlürfen, bis unter das Tier erniedrigt von einer Leidenschaft, der er nicht mehr zu gebieten vermochte.


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