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IX.

Eine lange, drückende Pause folgte der früher vorausgegangenen fieberhaften Thätigkeit. Es war ein ziemlich weiter Weg, den Mölling zu machen hatte, gekrümmt noch dazu, man konnte nicht mit ihm sprechen, kein Signal tauschen, sondern mußte geduldig warten, bis die Thatsachen redeten.

Hermann hielt den Kopf in beide Hände gestützt, er war blaß. »Hörtet ihr nichts?« flüsterte er. »Ich glaube, Mölling ist bei der Arbeit.«

»Ich auch!« bestätigte Lionel. »Er schabt!«

»Aha!« rief Herr Behrens, »da kommt das Wasser!«

Ein schwarzer trüber Strom begann aus dem engen Gange hervorzurieseln, erst schwach, dann stärker und stärker, bis die Füße der Wartenden vollständig unter Wasser standen, während riesige Schauer von Tropfen emporsprangen und ihre Kleider gänzlich durchnäßten. Der Abzugskanal war geöffnet und that seine Schuldigkeit.

»Welche Ausdünstungen!« rief schaudernd Herr Behrens. »Es ist förmlicher Verwesungsgeruch, der hervordringt!«

»Und darin hat mein armer Vater stundenlang atmen müssen!«

»Jetzt wird er ja erlöst, Hermann, beruhige dich doch!«

»Wie Mölling die Geschichte nur aushält?« meinte Behrens. »Das Wasser muß ihm ja geraden Weges auf den Kopf fallen.«

»Wenigstens dicht daneben. Er hat natürlich nicht alle Gänge der Roste geöffnet.«

»Jetzt wird der Zufluß stärker,« meinte Lionel. »Vielleicht ist die ganze Verschlußkette gehoben!«

»Ratten!« rief Behrens. »Seht doch, Ratten!«

In wilder Flucht kam die schwarze Gesellschaft dahergesprengt, pfeifend, von einer Seite zur andern stürzend, unwiderstehlich fortgerissen von der Flut, die sich hervorwälzte aus dem engen Gange. Jetzt hatten wirklich die drei Wartenden keinen trockenen Faden mehr am Körper, sie stützten sich, um dem rasenden Anprall zu widerstehen, fest auf die eisenbeschlagenen Stöcke und hatten meistens keine Hand frei, um die dreisten Ratten von Kopf und Schultern zu verscheuchen. In gebückter Stellung einen derartigen Doppelangriff zu ertragen, war sehr schwer; allen dreien brach der Schweiß aus den Poren hervor, während die Atemzüge schmerzten und vor den Blicken wirre Farbenspiele entstanden.

»Das dauert eine Ewigkeit!« flüsterte Hermann.

»Aber die Sache vollzieht sich ohne Aufenthalt. Das Wasser läuft ab und wenn der Keller leer geworden ist, kann Mölling die Luke öffnen.«

Wieder verging eine Pause der Erwartung. Wie lange, das vermochte niemand zu sagen, – vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht deren zweie, dann ließ die Heftigkeit des Zuflusses nach und bald sickerte nur noch als letzter Rest ein zäher schwarzer Schlamm hervor. In diesem Augenblick ertönte aus dem Inneren des Ganges ein kurzes, scharfes Pfeifen.

»Mölling ruft uns!«

»Das glaube ich auch. Vorwärts!«

Hermann kroch auf Händen und Füßen in den Gang hinein, ihm folgte Lionel und den Beschluß machte Behrens. Von fern schimmerte ein Licht den drei unerschrockenen Gefährten entgegen, binnen Sekunden hatten sie die Strecke durchmessen und sich einer nach dem andern durch die geöffnete Luke in den Keller hinaufgeschwungen. Eine hochgehaltene Laterne beleuchtete die Gruppe des wackeren Schlossermeisters, der auf seinen Knieen lag und Neuberts Kopf mit den Händen stützte. Der Kaufmann war offenbar außer stande, sich aufzurichten.

»Um Gottes willen!« flüsterte Hermann. »Ist er tot?«

»Nein, mein Junge, nein, dein Vater lebt; er ist nur ermattet und wird sich schnell erholen, wenn wir ihn erst einmal draußen in der frischen Luft haben. Faßt an, Kinder!«

Neubert schlug die Augen auf. »Andreas!« flüsterte er. »Mein alter Andreas! – Du hast mich aus der Hölle gerettet!«

»Pst! Würdest du wohl für den deutschen Landsmann weniger gethan haben? Sieh, hier ist dein Sohn! Begrüße ihn schnell und dann wollen wir machen, daß wir fortkommen!«

Hermann warf sich neben seinem Vater auf die Kniee, er küßte innig das magere, eingefallene Gesicht desselben. »Vater! Vater!« schluchzte er nur.

Auch Lionel fühlte, daß es ihm heiß in die Augen emporstieg; er und Behrens gaben dem ganz erschöpften Manne die Hand und dieser begrüßte sie freundlich, mehr mit Blicken als mit Worten, dann sprang Hermann in den Gang hinein und die übrigen reichten mit vereinten Kräften den Halbohnmächtigen ihm in die Arme. Sie mußten ihn tragen, er war fast erstarrt und außer stande, sich aufzurichten oder gar zu gehen.

Selbst auf allen Vieren kriechend, brachten die Verbündeten den Körper ihres Freundes in dem engen, luftlosen Gange nur mit größter Mühe vorwärts und eben wollte Mölling als der letzte im Zuge ihnen folgen, da tönte aus dem Hintergrunde ein erstickter Schrei. »All' ihr guten Geister! – hier geschieht Hexerei!«

Wie der Blitz wandte Mölling den Kopf, gedankenschnell hatte er die Lage erfaßt. Da hinten neben den riesigen, mit Schimmel und Moder überzogenen Fässern stand der Aufseher mit der Laterne in der Hand, augenscheinlich eben in Begriff, eine kleine metallene Pfeife an die Lippen zu bringen und sich Hilfe herbeizuholen. Er hob bereits den Arm, als sich Andreas Mölling auf ihn warf und mit unwiderstehlicher Gewalt den jählings Überrumpelten zu Boden schleuderte. Ein Tuch, ihm in den Mund gestopft, hinderte den Schrei, der sich Bahn brechen wollte, ein lederner Riemen, ihm selbst von den Hüften genommen, fesselte seine Füße, während die nervigen Fäuste des Schlossermeisters die Arme gefangen hielten und zugleich den ganzen Mann wie einen Bündel Lumpen die Treppen hinauf bis ins Erdgeschoß spedierten. Da würden ihn am nächsten Tage die Gefangenen schon entdecken.

siehe Bildunterschrift

Neuberts Befreiung.

Ein schneller Griff sperrte das Schloß der Kellerthür, der große Schlüssel flog hinter eins der Fässer und mit drei Sprüngen war Mölling seinen vorausgegangenen Gefährten nachgeeilt. Sie erwarteten ihn voll Unruhe und atmeten erst auf, als er sie vollständig beruhigte.

»Ehe irgend eine Verfolgung möglich ist, sind wir längst in Sicherheit, Kinder. Nur rasch, unser armer Freund braucht notwendig Luft!«

Die eigentliche Schwierigkeit begann erst jetzt, denn Neubert mußte getragen werden; es verging eine volle Stunde, bevor der Weg von höchstens zwanzig Minuten Länge glücklich durchmessen war. Sie trugen abwechselnd zu zweien und endlich, nach unsagbarer Anstrengung kamen sie an den Ausgangspunkt der ganzen Expedition zurück. Es war die höchste Zeit für alle.

Ein verabredetes Signal rief die Wächter herbei, das Eisen wurde gehoben und einer nach dem anderen stieg hinauf in die freie, regennasse Nachtluft.

Wie sich die Lungen dehnten, mit welcher Wonne der leise Wind begrüßt wurde! –

Alle Kräfte schienen plötzlich zurückgekehrt, selbst Neubert versuchte, gestützt auf die Schulter seines Sohnes, ohne Hilfe zu gehen, – das Gefühl der Freiheit bannte unwiderstehlich aus den Herzen die Sorge und aus den Gliedern die Schwäche.

Wie auf ein gegebenes Zeichen öffnete sich die Thür des Behrensschen Hauses und wurde schnell und geräuschlos hinter dem letzten der Eingetretenen wieder geschlossen. Ein Zimmer nach dem Hofe hinaus war noch erleuchtet und hier erwartete Frau Neubert ihren Gatten. Die Kinder lagen schlafend in sauberen Betten, ihre Kleider hingen zur Reise bereit und sämtliches Gepäck war an Bord des kleinen Schiffes gebracht, – nach der ersten Freude des Wiedersehens sollte schon der Aufbruch erfolgen.

Neubert öffnete stumm vor Bewegung die Arme und schluchzend flog ihm seine Frau entgegen. Welch eine Zeit voll Qual und Weh, seit sie einander nicht mehr gesehen.

Das Haar des verhältnismäßig jungen Mannes war während seiner entsetzlichen Gefangenschaft schneeweiß geworden, – erst jetzt erfuhr er es.

Tief erschüttert beugte sich der Vater über die rosigen Gesichter seiner Kinder, um sie im Schlafe zu küssen, er dankte mit bewegten Worten Behrens und dessen liebenswürdiger Frau für die Treue, mit der sie den Seinigen beigestanden, auch Lionel erhielt eine väterliche Umarmung und Andreas Mölling den warmen innigen Dank, welchen er so sehr verdiente. Was der tapfere Mann da allein unter dem halbverstopften Sielroste inmitten herabstürzender Wassermassen durchlitten hatte, das wußte im Grunde nur er selbst, aber die übrigen ahnten es doch und jede Hand drückte die seinige als die, welche das Unternehmen gesichert und ausgeführt hatte.

Die Spuren des unterirdischen Weges wurden entfernt, Frau Neubert weckte die Kinder, die voll Jubel den Vater wiedersahen, und mitten im Regen ging es dann nach herzlichem Abschied an Bord des kleinen Schiffes.

Zwei erfahrene Leute hatten die Bedienung desselben übernommen, alle irdische Habe unsrer Freunde war sicher verwahrt und so konnte denn die Fahrt stromabwärts beginnen.

Es regnete auf die grünen Blätter, unter deren Schutz das Fahrzeug dahinglitt; Deck und Segel waren durchnäßt, eine frische Kühle füllte die Luft, aber dennoch suchten nur Frau Neubert und die Kleinen den Schutz der Kajüte auf, während sich die Männer dem Regen mit wahrem Hochgenuß aussetzten. Was schadete es, wenn man ein wenig naß wurde? Wer gefangen war, der hat das höchste aller Lebensgüter entbehrt, er berauscht sich in dem Glücksgefühl der Freiheit und kennt kein andres Verlangen als das, sich dem wehenden Winde auszusetzen, möglichst keine Mauern und Thüren zwischen sich selbst und der Außenwelt zu sehen.

Lionel mußte seine Erlebnisse erzählen, als er aber von den fünfzig Dollar sprach und dieselben seinem augenblicklichen Beschützer überliefern wollte, da schüttelte dieser den Kopf. »Das Geld brauchst du für deine Ausrüstung, mein Junge, behalte es ruhig. Die ›Argo‹ ist auf vier Monate hinaus mit Proviant versehen, wir brauchen nur gelegentlich etwas Wasser einzunehmen, sonst haben wir von allen Vorräten in Hülle und Fülle, ich bin daher in der glücklichen Lage, dich ganz als meinen Gast betrachten zu können, – ohne alle Vergütung. Wenn wir das Gebiet der Nordstaaten erreicht haben, so willst du, denke ich, in die Armee eintreten?«

»Wenn es möglich ist, ganz gewiß.«

»Hermann beabsichtigt das gleiche und so brauchen wir denn voraussichtlich viel bares Geld! – Aber davon brauchen wir heute noch nicht zu sprechen,« setzte er dann hinzu. »Nach so schweren Leidenstagen bedarf es vor allem der Erholung.«

Eine Flasche Wein und ein tüchtiges Stück Fleisch bildeten die außergewöhnliche, mitten in der Nacht gehaltene Mahlzeit; gegen Morgen hörte der Regen auf, ein warmer Wind trocknete die durchnäßten Kleider und über den Waldwipfeln des Ufers erschienen die ersten Sonnenstrahlen. Es war ein Sonntagsmorgen, weislich gewählt, um mit größerer Sicherheit aus dem Bereiche der angebauten Umgebung herauszukommen, ohne von den Feldern und Gärten aus gesehen zu werden. Kein noch so habsüchtiger oder grausamer Gebieter läßt in Amerika seine Sklaven am Sonntag draußen arbeiten, in den Baumwollenfeldern war daher alles still und nur die freilebenden Tiere der Schöpfung flogen oder glitten zwischen den Pflanzungen dahin.

Auf jedem Blatte lag silberglänzend in den ersten Sonnenstrahlen das Tautröpfchen, welches es während der Nacht eingesogen und an dem nun zahlreiche Insekten ihr Frühstück hielten, die Biene mit dem ehrbar braunen, großmütterlichen Gewande, die blaue Libelle, der Schmetterlinge ganzes buntgestaltiges Heer. Ein »Tschirp! Tschirp!«, ein Rollen und Pfeifen, Schlagen und Locken klang aus verborgenen Nestern hervor, hurtige Vogelmütter kamen plötzlich in das Gewimmel der Insekten hineingeschossen und trugen die Zappelnden, Wehrlosen als gute Beute davon, ganze Scharen räuberischer Sperlinge oder Schwarzamseln stritten sich mit lautem Gezänk um den Busch voll reifer Beeren, deren keine sie ihrem Genossen gutwillig überlassen wollten; große Schwimmvögel strichen über das Wasser dahin und tauchten plötzlich, um mit dem gefangenen Fisch im Schnabel die höchsten Kronen der Bäume aufzusuchen, oder im dichten Schilf zu verschwinden.

Langsam vor dem frischen Morgenwinde glitt die »Argo« dahin. Für die nächste Zukunft, bis der Ring der Blockade überschritten war, sollte ein förmlicher Dienst mit Tag- und Nachtwache eingerichtet werden, heute dagegen versahen Bill und Martin, die beiden Schiffer, noch alle notwendigen Arbeiten allein, so daß die Familie Neubert und ihr Gast ungestört an diesem ersten Tage der Wiedervereinigung sich selbst und den frohen Gefühlen des überstandenen Leides leben konnten. Als die Kinder in ihren besten Kleidern aus der Kajütte hervorkamen, wurde Kaffee getrunken und dann unter freiem Himmel ein Gottesdienst gehalten, bei dem sich Bitte und Dank innig mit einander verflochten. Gestern noch Gefangener in den öden Mauern eines entsetzlichen Hauses, heute frei wie der Vogel in der Luft, das war ein Umschwung, den das Herz nur mit dem Gefühl einer grenzenlosen Dankbarkeit dem himmlischen Vater lohnen konnte. Neubert sprach, wie die Worte ungekünstelt aus seinem Innern hervorquollen, dann wurde ein Choral gesungen, in den auch die beiden Schiffer mit einstimmten.

Vogelgesang und das Schwirren der Insekten bildeten dazu die Musik. Es war ein Gottesdienst ohne äußere Feier, diese Andacht an Bord des kleinen Fischerbootes, aber innig empfunden als ein Bedürfnis, dem dankerfüllte Herzen Rechnung trugen, indem sie ihre Gebete zum Himmel emporsandten und den Schutz des Allmächtigen für die gefahrvolle Reise erflehten.

Zu Wasser und zu Lande streiften ja die Horden der Parteigänger in zügelloser Frechheit umher, für ihren Unterhalt als vorgebliche Vaterlandsverteidiger alles erpressend, was ihnen in den Weg kam, alles raubend und stehlend, was friedlichen Bürgern gehörte. Vor einer Begegnung mit dem Feinde hüteten sich diese Gesellen gar weislich, aber desto besser verstanden sie es, ahnungslose Wandrer zu überfallen, es galt also, den Schiffen der Plünderer auszuweichen, so gut es anging und für diesen Zweck immer eine Wache im Mittelmast zu haben. In jeder Nacht sollte überdies die »Argo« unter den Gebüschen des Ufers versteckt werden, so daß etwaige Feinde vorübersegelten, ohne das kleine Fahrzeug zu bemerken.

Viele Meilen lagen jetzt schon zwischen der Stadt und dem tanzenden Kiel des Bootes, zuweilen erschienen noch einzelne Ansiedlungen oder Blockhütten mit mächtigen Stapeln gespaltenen Holzes, das am Ufer vergeblich des Käufers harrte, dann hörte die Umgebung auf, Spuren der Zivilisation zu zeigen, hohe Gebirgszüge mit wundervollem Walde begleiteten den Lauf des Stromes, einsame blühende Ufer, Wald und Wiesen mit grasenden Hirschen, Klippen voll von den verschiedensten Arten großer Wasservögel.

Nach diesen Bildern des Friedens kamen andre, schreckliche, Szenen, bei deren Anblick das Herz sich krampfhaft zusammenzog. Hier war gekämpft worden, auf dem Blachfelde lagen die Gerippe von Menschen und Pferden, Trümmer aller Art, Waffen, Uniformstücke und zerschossene Bagagewagen. Wölfe und Raubvögel hatten ihre schrecklichen Mahlzeiten bereits gehalten, hie und da auf zerstampftem Boden sproßten neben den Überresten unbestatteter Menschen wieder Blumen und Ranken, die ihre grünen Fäden über die Greuel der Vernichtung ausspannten, hie und da in den geknickten Zweigen bauten wieder die Singvögel ihre Nester und schmetterten lustige Weisen, wo noch vor kurzem die Sterbeseufzer gequälter Menschen verhallt waren.

Hier herum wimmelte es von Truppen; zuweilen waren die Feldlager der verschiedenen Heerführer kaum zehn oder zwanzig Meilen von einander entfernt, dazwischen lag ein breiter Arm des Stromes, vielleicht eine Brücke oder eine Farm, um deren Besitz gekämpft wurde, dann kam wieder ein Gebirgszug, still und einsam, wie am ersten Schöpfungsmorgen, nur von friedlichen Tieren bewohnt, zur Ruhe und zum Genusse einladend, als gäbe es auf Erden keinen jener tiefgehenden Schäden, die nur durch Krieg und Waffengeklirr geheilt werden können.

Zwei Tage und Nächte schwamm nun die Argo schon auf den blauen Fluten dahin, ohne bis jetzt einem Feinde begegnet zu sein. Lionel hatte gleich am ersten Morgen eine sehr angenehme Überraschung erfahren, als ihm Hermann die Bücher und Kleider, welche in Seven-Oaks sein Eigentum gewesen waren, mit freudestrahlendem Gesicht überreichte, ebenso die Uhr, ein Geschenk des verstorbenen Onkels. Mr. Manfred Trevor hatte diese Sachen mit aller sonstigen beweglichen Habe versteigern lassen und Hermann sie gekauft, um Lionels Rechte so gut wie möglich zu schützen.

Jetzt konnte er den verhaßten Kattunanzug des Sklaven von sich werfen und wieder, wenn es an Bord der Argo für ihn keine Arbeit gab, seine Studien fortsetzen. An Deck auf dem Rücken liegend, verbrachte er Stunden und Tage einer Erholung, die alle Schatten des erlittenen Unglücks aus seiner Seele tilgte. Liebe vertraute Menschen umgaben ihn, es drohte kein Schicksalsschlag, keine Trennung von denen, die ihn beschützten, das Wort »Sklave« hatte seine schreckliche Bedeutung für ihn verloren.

Ganz ähnlich empfand Herr Neubert. Etwa zwölftausend Dollar, die er aus dem Schiffbruch seines Vermögens gerettet hatte, steckten in sicheren Papieren im Futter des Rockes, den er niemals von sich ließ, eine hübsche Handvoll baren Geldes war auch vorhanden und – als das hauptsächlichste – Leben und Gesundheit der ganzen kleinen Familie hatten keinerlei Schaden gelitten. Erst jetzt, nun alles überstanden war, erzählte der ehemalige Gefangene den Seinen, welche Leiden er ertragen. Als Speise hatte es gerösteten oder in Wasser erweichten rohen Mais gegeben, als Getränk Wasser und auch dies nur, wenn der träge Aufseher es für gut fand, einige Eimer voll seinen Opfern ohne Glas oder Krug vorzusetzen, damit sie sich, auf den Knieen liegend, wie Tiere über den Rand des Gefäßes beugen konnten, um zu trinken.

Jetzt lag das alles hinter ihm und vor der ganzen kleinen Schar der Flüchtigen die Hoffnung, eins der Blockadeschiffe zu treffen und an Bord genommen zu werden. Vor dem Gebiete der feindlichen Kriegsflotte kreuzten freilich die Fahrzeuge der Konföderierten und würden, wenn sie es verhindern konnten, sicherlich die Argo nicht hindurchlassen, aber das mußte man vorläufig Gott anheimstellen. Er, der bis dahin geholfen hatte, würde ja auch im letzten entscheidenden Augenblick die Sache der Flüchtlinge nicht verloren gehen lassen.

Sie genossen das Ausruhen, die Pause zwischen Kampf und Kampf, sie fingen Fische und pflückten am Ufer die reifen Früchte von den Bäumen, während immer einer im Mastkorb Umschau hielt und so für die übrigen wachte. Auf vier Monate war die Argo verproviantiert, da eilte es nicht, so rasch wie möglich ans Ziel zu gelangen. Wer sich glücklich fühlt, der sucht den Augenblick und seine Gunst festzuhalten.

Zweimal waren schon Dampfschiffe in einiger Entfernung an der Argo vorübergekommen, französische Blockadebrecher, wie die Fischer versicherten, Fahrzeuge, welche den Belagerten Waffen und Lebensmittel gegen zehnfache Bezahlung zuführten. Ihre Lenker bekümmerten sich um das Fischerboot in keiner Weise, sie dankten vielleicht dem Himmel selbst, glücklich den Feuerschlünden der Regierungsdampfer entronnen zu sein und auf diese Weise ein glänzendes Geschäft gemacht zu haben.

Eines Tages lag vor den Blicken der Flüchtlinge eine stille, rings von Klippen umsäumte Bucht; ein schmales grünes Vorland lief wie ein Kranz am Wasser hin, dann folgten Hügelketten mit kahlem Geklüft, hohe Berge, deren Ausläufer sich in weiter Ferne verloren. Bis in den Strom hinein ragten die Klippen, deren wildzerrissene Formen einen großartigen Anblick gewährten. Wie gewaltige Felsenthore schienen sie den Eingang zur Bucht versperren zu wollen, drohend und finster, von weißem Gischt am Fuße umspült, während hoch oben auf vielgespaltenen Kronen die Wasservögel Wache hielten und krächzend nach Beute ausspähten.

Auf dem üppigen Grase am Schilfrand lag eine Herde großer grauer Hirschkühe, deren Leitbock etwas abseits auf einem Felsblock stand und als er von weitem das Boot erblickte, schleunigst seiner Herde das Signal zur Flucht erteilte. Die Mütter nahmen ihre Jungen zwischen sich und binnen wenigen Sekunden hatten alle Tiere den Platz ihres gemächlichen Frühstücks in voller Eile verlassen.

Lionel wandte sich zu Herrn Neubert. »Möchten Sie nicht gern eins von den feisten Kälbern erlegen?« fragte er blitzenden Auges. »Wie herrlich müßte ein frischer Braten schmecken!«

Frau Neubert klatschte in die Hände. »Das meine ich auch!« rief sie. »Das viele gesalzene Fleisch ist zuletzt eine unangenehme Speise.«

»Papa!« baten die Kinder, »liebster Papa, laß uns doch ein wenig an Land gehen! Wir wollen Blumen pflücken und Beeren suchen. Es wäre gar zu schön, einmal tüchtig umherzulaufen.«

Neubert fragte mit den Augen die Eigentümer des Bootes. »Können wir die Sache wagen, Bill und Martin? Was meint ihr?«

Die Leute nickten. »Ein paar Stunden mehr oder weniger, das macht ja nichts aus, Sir! Sie müssen sich nur nicht so weit vom Ufer entfernen, daß Ihnen der Rückweg verloren geht!«

»Hat keine Not!« rief Lionel. »Wir zeichnen die Bäume.«

»Nun, in Gottes Namen denn! Aber ihr beide bleibt an Bord, meine Jungen; und ihr versprecht mir, gut Wache zu halten!«

»Ganz gewiß, Sir! Es ist ein heißer Tag, möglicherweise gibt es noch ein Gewitter.«

»Dann suchen wir Schutz in den Felsen. Vorwärts also!«

»Das ist leicht gesagt,« rief Frau Neubert, – »wie kommen wir aber an Land?«

»Etwas weiter hin liegen große Steine im Wasser, da wird es schon gehen.«

Langsam trieb in der windstillen Luft die Argo bis zu der den Schiffern bekannten Stelle, wo die Anker ausgeworfen wurden. Neubert und die beiden jungen Leute halfen der Mutter mit den Kindern über eine Anzahl großer, vom Wasser platt geschliffener Steine, zwischen denen die blaue bewegliche Flut ihre vielverschlungenen Pfade zog. Schnecken und Muscheln klebten an den Blöcken, buntfarbige Kiesel bedeckten den Boden, Fische und Krebse schwammen durch alle diese kleinen Kanäle, große Aale, die wie Schlangen durch das Wasser glitten, Käfer, Spinnen und zahllose andere Geschöpfe, deren ein einziger, zwischen den Klippen hervorragender Schilfhalm oft Hunderte beherbergte.

Über alle diese Wunder hinweg flog in weißen Flocken der Schaum des Flusses, wie ein Netz aus Silberfäden lag er auf den Steinen und sandte Tropfenschauer empor zu den lachenden Gesichtern der Kinder, die jedes einzelne Tier fangen wollten und vor Vergnügen bald hierhin, bald dorthin sprangen.

Ein tüchtiger Korb voll Lebensmittel war mitgenommen worden, Gewehre und Munition, Messer und sonstiges Gerät, dann ein paar Decken und eine Kanne voll Kaffee. So ausgerüstet zog die kleine Gesellschaft nach dem beschwerlichen Marsch über die Steine fröhlich in das unbekannte Land hinein, um zunächst für Frau Neubert und die Kinder einen Lagerplatz zu finden.

»Euch können wir bei der Jagd nicht gebrauchen,« meinte Papa. »Das geht wie ein Mühlrad, immer klipp! klapp! – alle Hirsche würden gewarnt werden!«

»Wir wollen auch nur mitessen!« erklärte die kleine Toni, »aber nicht sehen, wenn du den armen Hirsch totschießt!«

»O, da sind Himbeeren!« rief in diesem Augenblick der jüngere Knabe, »sieh nur, Mama, sieh nur, alle Büsche sind voll reifer Früchte!«

»Und hier Johannisbeeren, hier Trauben! O, wie gut ist der liebe Gott!«

»Weil er so viele Näschereien wachsen läßt?« lachte Neubert. »Aber wahrhaftig, kleine Toni, du hast recht, vor allem anderen zu sagen: Wie gut ist Gott! Wer hätte gedacht, daß auf das tiefe Leid noch solche Feierstunden folgen sollten!«

Die beiden jungen Leute hatten unterdessen in der nächsten Umgebung des Ufers einen Punkt entdeckt, den sie sogleich zum Lagerplatz bestimmten. Eine geräumige Höhle, vorn offen und hoch überwölbt, bot nicht allein Schutz vor den glühenden Sonnenstrahlen, sondern konnte ebensowohl bei etwa eintretendem Regen als Zufluchtsstätte dienen. Weiches, langhaariges Moos wuchs wie ein lebender Teppich auf dem Boden und an den Wänden, während neben dem Eingange ein Baumstamm lag, zugleich als Tisch und als Stuhl dienend, uralt, vielleicht vom Blitz gefällt, mit einer Menge dürrer Zweige, die wie Zunder brennen würden und daher eingesammelt werden sollten, um den zur Neige gehenden Vorrat für die Küche der Argo zu ergänzen.

Frau Neubert tanzte mit ihrem Töchterchen über das Moos. »Lauter ländliche Beschäftigungen!« rief sie im Tone echter Herzensfreude, »lauter Hamstervergnügungen! Gegen Abend gehen wir dann mit Beute beladen wieder an Bord!«

»Hoffentlich!« nickte ihr Mann. »Versprichst du mir nun, dich nicht außer Rufweite von den beiden Matrosen zu entfernen, meine gute Anna?«

»Gewiß und sicher, Papa! Ich will ja Brennholz sammeln. Was macht ihr denn da?« rief sie den beiden jungen Leuten zu.

»Wir suchen nach Schlangen. Zuweilen sind sie in hohlen Bäumen versteckt!«

Neubert beteiligte sich an dieser Vorsichtsmaßregel, aber es wurde nichts gefunden. Nachdem auch das Moos in der Höhle noch mit frischen Zweigen gefegt und mehr als nur eine Käferfamilie aus ihrem Heim vertrieben worden war, nahmen die Jäger Abschied, um die Fährte der Hirsche aufzusuchen und womöglich das scheue Wild zu beschleichen.

Gleich in der Nähe des Lagerplatzes kennzeichneten geknickte Zweige den Weg, welchen die Herde genommen haben mußte. Unbarmherzig waren die Himbeergesträuche mit den goldenen und purpurnen Früchten zu Boden getreten, über eine grüne Niederung führte der schmale Wildpfad tiefer hinein in die halbdunklen zerstreuten Klippen, zwischen denen grüne, lachende Thäler und Abhänge wie Bänder mit bunten Blumen sich aufrollten. Hier schien selten der Mensch den Frieden des Waldes und seiner Bewohner gestört zu haben, der felsige Boden widerstand den Versuchen, ihn zur Ertragsfähigkeit zu zwingen, die vielen Sümpfe und seichten, mit Schilf durchwachsenen Teiche hinderten den Verkehr und so blieben weite Strecken unbenutzt den Tieren der Wildnis überlassen.

Eine kleine Eichhörnchenart schien zu Hunderten vertreten; hinter allen Zweigen sahen die hübschen, klugen Köpfe hervor, zuweilen schossen die Tierchen dicht vor den Füßen der Jäger quer über den Weg, um an einem Stamme hinaufzulaufen und vom sicheren Versteck aus genau zu beobachten, was unten vorging. Lionel hatte einmal die Büchse schon erhoben und würde im nächsten Augenblick seine Beute erlegt haben, aber Herr Neubert verhinderte noch rechtzeitig das Abdrücken des Hahnes.

»Keinen unnötigen Schuß, mein Junge! Man kann doch nie mit Sicherheit wissen, wer etwa hinter dem Busche sitzt; vielleicht marschieren Soldaten oder Horden von Parteigängern kaum eine Meile von uns in den Wald hinein, und da ist es denn besser, unsere Gegenwart nicht zu verraten. Wenn wir den Hirsch erlegt haben, geht es mit Siebenmeilenschritten zum Schiffe zurück.«

»Papa,« meinte Hermann, »dann laß' uns aber vorher noch ein wenig herumstreifen. An Bord der Argo gibt es ja eigentlich nur Stehplätze!«

Die übrigen lachten und je länger sie so im Grünen dahingingen, desto freier und wohler wurde es den Herzen. »Seht doch!« rief Lionel, »welche Riesenameisen! Eine schwarze Armee.«

»Da unter der Baumwurzel ist ihre Höhle!«

»Und hier,« fügte Neubert hinzu, »hier ist der Kuhstall!«

»Was sagst du, Papa?«

»Daß die Kolonie aus stallfütternden Ameisen besteht. Seht ihr da den Strauch mit den saftigen Stengeln und dicken, fleischigen Blättern?«

»Eine Asklepia!« nickte Lionel, »Aber was bedeuten die schwarzen Halbkugeln, mit denen alle Zweige besetzt sind?«

»Brich einmal eine mit dem Stengel ab, mein Junge. Aber vorsichtig.«

Lionel zerschnitt sorgsam einen Zweig und reichte ihn mit dem sonderbaren Gehäuse dem Vater seines Freundes. »Ob irgend ein Vorrat darin aufgespeichert ist?« fragte er ungläubig lächelnd.

»Seht her, Kinder!«

Neubert nahm behutsam die aus Harz und Fäserchen zusammengeklebte Kugel ab und nun gewahrten alle drei, was darunter steckte. Ein ganzes Volk von großen, glänzend schwarzen Blattläusen, neben denen einige flinke Ameisen wie verzweifelt auf dem Stengel hin- und her liefen. »Die waren gerade dabei, ihre Kühe auszumelken,« erklärte der Kaufmann. »Laßt uns einmal, ohne den Stengel zu zerschneiden, ein solches Gehäuse entfernen, dann sehen wir vielleicht die Räuber in voller Arbeit.«

Diesem Wunsche wurde Genüge geleistet und wirklich ließen sich die Ameisen überraschen. Während die trägen, unbeweglichen Blattläuse fest an einem bestimmten Punkte saßen, hatten die Ameisen ihre vorderen Zangen den kleinen Geschöpfen um den Körper gelegt und strichen nun von oben nach unten leise an demselben hin, um den Honigsaft, welchen die schwarzen Vielfresser absonderten, begierig aufzulecken.

»Papa!« fragte Hermann, »ist es möglich, daß die Ameisen diese Gehäuse angefertigt hätten, um die Blattläuse festzuhalten?«

»Natürlich, mein Junge! Deshalb heißt die Gattung ›stallfütternde Ameisen‹. Diese Halbkugeln findest du zu Hunderten.«

Wirklich waren rings umher alle Asklepiabüsche mit den schwarzen Nestern bedeckt, Lionel wurde ganz wehmütig, als er diesen Reichtum sah. »Wenn ich ein einziges wohlbehalten nach Richmond schaffen könnte,« dachte er seufzend, »wie würde sich Philipp freuen!«

Aber eine Ausführung des Gedankens unterblieb doch. Die Nester zerbrachen, sobald man sie vom Stengel löste, es war unmöglich, die sonderbaren Bauten zu transportieren, unsere Freunde zerstörten daher auch keine weiter, besonders da ihre Aufmerksamkeit schon wieder anderweitig gefesselt wurde. Ein Volk Fasanen belebte am Ufer einer Schilfinsel die dichten Gebüsche feinblätteriger Weiden, überall sah das prachtvolle Gefieder aus dem Grün hervor; die Tiere waren so wenig an Verfolgung gewöhnt, daß sie die Menschen ganz nahe herankommen ließen und erst fortflogen, wenn jemand die Hand erhob oder sonst eine schnellere Bewegung vollführte.

»Sollen wir auch diese nicht schießen, Papa? Das wäre doch schade!«

»Nein, nein, – wir würden wahrscheinlich nur die Hirsche verscheuchen und außerdem Mama sehr erschrecken. Hier gibt es aber andere Beute, die in der Küche der Argo äußerst willkommen sein würde, – Vogeleier in Menge. Steigt auf die Bäume und sammelt, Kinder! Aber aus jedem Nest nehmt ihr nur einige.«

Das ließen sich die beiden Knaben nicht zum zweitenmale sagen. Lionels Strohhut war bald bis zum Rande gefüllt, so daß im Moos ein Versteck angelegt werden mußte, um nur alle diese gehäuften Schätze bis zur Rückkehr zu bergen. »Das gibt einen Eierkuchen!« meinte er. »Die arme alte Cassy verstand es so herrlich, sie zu backen!«

»Nun, du sollst sehen, daß auch Mama es kann. Die Kinder pflücken unterdessen das Kompott zusammen!«

»Und wir schießen den Braten. Hier ist wieder die Fährte der Hirsche!«

Alle Eier waren sorgfältig im Moos versteckt und der Ort genügend gekennzeichnet, um mit leichter Mühe wieder aufgefunden werden zu können, dann wanderte die kleine Gesellschaft weiter, immer der Fährte nach, bis zuletzt einer hinter dem anderen herschlich, ohne auf dem weichen Moosboden das geringste Geräusch zu verursachen. Auf grüner Anhöhe unter hohen, alten Bäumen lagerte halbverborgen die Herde, graugelb schimmerte das weiche Fell in der blumendurchzogenen Umgebung, stolz und schlank ragte das Geweih des Leitbockes. Wie ein Gemälde erschien die Bergwiese mit ihren hübschen, ahnungslosen Bewohnern.

»Jetzt müssen wir es wagen,« flüsterte Neubert. »Aber ich gestehe, daß mir das Herz stark dabei klopft.«

»Der Bock sichert!« flüsterte Lionel, bei dem die Jagdlust den Gedanken an Vorsicht völlig verdrängte. »Ob er uns bereits bemerkt hat?«

»Das ist nicht wohl möglich, da uns ja der Wind entgegenkommt! – Sollen wir wirklich in dieser Einsamkeit den Donner eines Schusses wagen?«

»Weshalb nicht?«

»Weil Vorposten ganz in der Nähe ausgestellt sein können! Man bringt uns möglicherweise nach Richmond und du bist wieder Sklave, während ich getötet werde.«

»Oder eine Streifpartie der Regierungstruppen begegnet uns und wir sind gerettet!«

Neubert gab nach. »Wir kamen, um den Hirsch zu schießen,« meinte er. »So laßt uns denn nun ans Werk gehen, aber doch, denke ich, nur ein Tier töten. Bis ein solches Quantum Fleisch verzehrt ist, würde das übrige in Fäulnis geraten.«

»Dann nehmen wir das größere Kalb aufs Korn, nicht wahr? Das, welches den Hals ausreckt, um die jungen Buchenblätter zu fressen.«

Neubert nickte. »In Gottes Namen denn!«

Die Schüsse krachten und das friedliche Bild da oben auf der Bergwiese veränderte sich wie durch einen Zauberschlag. Der Leitbock sprang plötzlich hoch in die Luft empor und ließ sich dann auf drei Läufe nieder, lauschend, fluchtbereit, ein Bild der äußersten Bestürzung, während die sämtlichen Kühe davonliefen und ihre Kälber durch einen leisen, meckernden Laut aufforderten, ihnen zu folgen. Nur eine blieb stehen! – Sie leckte ihr Junges, das sich in Todeszuckungen am Boden wand, sie trat von einer Stelle zur anderen, oder hob den Kopf verzweiflungsvoll zum Himmel, als wolle sie die Mörder des hübschen, bunten Kälbchens bei Gott verklagen. Erst als sich die Jäger näherten, verließ sie mit dem Leitbock zugleich die Wiese.

Das Kalb war tot. Die Kugeln hatten alle drei getroffen und dadurch den letzten Kampf des Tieres bedeutend verkürzt; als die jungen Leute hinzusprangen, regte es kein Glied mehr.

»Ein herrlicher Braten, Papa!« rief Hermann. »Wollen wir das Kalb hier ausweiden, oder es Mama, so wie es ist, als Jagdbeute mitbringen?«

Neubert horchte. »Wir müssen es ausweiden, um weniger schwer zu tragen, Kinder. Aber laßt uns doch erst einmal überzeugt sein, daß kein Verräter hinter den Gebüschen steckt.«

Eine Pause der angestrengtesten Beobachtung folgte diesen Worten. Noch lag die drückende Schwüle des Vormittags in der Luft, ja, sie war seitdem stärker geworden, es regte sich kaum ein Hauch und am Himmel zogen langsam die Haufwolken zu einer schwarzen, gelblich hellumrandeten Wand zusammen. Nichts verriet die Nähe lebender Wesen, kein Laut, kein Geräusch klang herüber, so daß endlich selbst der für seine Familie besorgte Vater sich vollständig beruhigte.

»Es liegt mir schon, seit wir heute morgen ausgingen, wie eine Art unheimlichen Vorgefühles auf der Seele,« sagte er, »ich kann den Gedanken an eine Katastrophe nicht abschütteln. Aber vielleicht ist das eine unnötige Sorge, – hier scheint wirklich alles still und menschenleer.«

»Dann könnten wir wohl auch erst eine Mahlzeit halten, Papa! Es sind drei starke Stunden, seit wir die Argo verließen.«

Diesem Vorschlage wurde zugestimmt und die Flaschen mit kaltem Kaffee, Brot und Fleisch hervorgeholt. Es wuchsen hier Beeren in Fülle und so war ein reichliches Mahl binnen wenigen Minuten aufgetischt.

Herr Neubert sah zum Himmel. »Das Gewitter kommt!« sagte er. »Ehe es kommt, sollten wir eigentlich bei Mama und den Kindern sein.«

»Das ist auch wahrscheinlich ganz gut möglich, Sir! O Himmel, welch eine Hitze!«

Das Hirschkalb wurde ausgeweidet und mit Bändern umschnürt, dann schnitten die jungen Leute ein paar tüchtige Tragestangen und nachdem die Last aufgeladen war, ging es zum Heimweg, immer dem Wildpfade nach, vorüber an den eben erst gesehenen Punkten, aber viel, viel langsamer, als vorhin. Das Kalb war schwer und sein Gewicht drückte bei der Hitze ganz entsetzlich; in jeder Viertelstunde wurde einer der Knaben ausgespannt, während Neubert beständig trug.

Lionel schüttelte sich. »Ein Braten, der Schweißtropfen kostet!« sagte er.

»Und doch ist die Sonne fast gänzlich hinter den Wolken verschwunden. Ich fürchte, daß es ein sehr schlimmes Wetter gibt.«

»Alle Vögel sind verstummt! Eichhörnchen und Hasen sieht man nicht mehr.«

Herr Neubert zog die Uhr hervor. »Es ist schon über vier,« sagte er. »Und wir haben jedenfalls noch zwei Stunden zu marschieren.«

»Bis dahin kommt der Regen,« meinte Lionel.

Wie auf Verabredung gingen alle schneller. Jetzt schien die vorherige Schwüle einem frischeren Luftzuge zu weichen, hoch oben in den Baumwipfeln tönte ein Rauschen und Krachen, die Zweige schlugen heftig gegeneinander und in weiter Ferne zog grollend und rollend der Donner herauf. Zuweilen, in langen Zwischenräumen fielen einzelne schwere Regentropfen.

Auch die letzte Libelle, die letzte Hummel war verschwunden; dafür erhoben im feuchten Grunde unzählige Frösche ihre Stimmen, schwarze Schnecken krochen über den Weg, hie und da schlüpfte eine buntgeringelte Schlange.

Es wurde jetzt zwischen den Wanderern wenig oder gar nichts gesprochen, auch ihre Gedanken waren ziemlich unangenehmer Natur. Frau Neubert hatte sich höchst wahrscheinlich mit den Kindern an Bord der Argo begeben und saß nun in heimlicher Angst, fortwährend nach den Ihrigen ausspähend, vor dem kleinen Kajüttenfenster, – die fröhliche Stimmung des Morgens war dahin, das fühlten alle, besonders Herr Neubert, der immer schneller und schneller vorwärts eilte. Ob daheim den Seinigen irgend etwas Böses zugestoßen war?

Die frühere Unruhe hatte ihn mit doppelter Stärke ergriffen, er atmete auf, als die Stelle erreicht war, wo sich im Moos das Versteck der Eier befand. Lionels großer Strohhut nahm die kostbare Beute wieder auf und im Sturmschritt ging es weiter.

»Jetzt nur noch eine gute halbe Stunde!«

»Aber eine mühsame, gefährliche! Ich glaube, es kommt ein Wirbelsturm.«

»Wie dunkel es wird! – Ah, da ist der Blitz!«

Und nun brach das Unwetter los. Heulend fuhr die Windsbraut durch das Geäst, der Donner rollte mit furchtbarer Gewalt, Blitz um Blitz zuckte aus dem schwarzen Gewölk hervor.

»Gebe doch der Himmel, daß Mama und die Kinder am sichern Lande geblieben sind!« seufzte der Kaufmann. »Die Argo könnte vom Sturme losgerissen werden!«

»Beruhigen Sie sich doch, Sir! Bill und Martin sind ja bei ihr.«

In diesem Augenblick fuhr ein neuer Blitz vom Himmel herab, gerade vor den Augen der drei Jäger in einen hohen alten Eichenstamm, den er bis zum Grunde spaltete. Klaffend schlugen die beiden Seiten auseinander, als sei ein gewaltiger Keil hineingetrieben worden, – züngelnd, rötlich-gelb leckte die Flamme aus der zersprengten Mitte hervor.

Wie erfaßt von einer stärkeren Hand hatten die Wanderer plötzlich Halt gemacht. Das Schauspiel dicht vor ihren Blicken war von großartiger Schönheit, aber es erschreckte doch auch sehr. Herr Neubert sah aus, als habe der Tod sein sonst so männlich braunes Antlitz jählings gestreift. »Derselbe Blitz hätte auch den Mast der Argo treffen können!« sagte er schaudernd.

Und dann eilten alle an dem brennenden Baume vorüber, so schnell sie konnten, laufend, nur an das Schiff und die darauf Befindlichen denkend. Das Gewicht des Hirschkalbes drückte nicht mehr, die Ermüdung der beiden letzten Stunden hatte aufgehört, – sie dachten nur eins, ein einziges: Sind unsere Lieben geborgen?

Hinter ihnen und vor ihnen brüllte der Sturm. Zuweilen, an freieren Stellen, bedurfte es der ganzen Kraft der Wanderer, um überhaupt dem gewaltigen Toben in den Lüften Trotz zu bieten, sie konnten nicht mit einander sprechen, sich keine noch so kurze Pause verstatten, es galt nur, den Kopf und die Schultern dem Andrängen der Luftwoge energisch entgegen zu stemmen und durchzudringen, wo sich der Wind einer festen Mauer gleich erhob.

Nun war aber auch das Ziel fast erreicht. Eine starke Dämmerung lag zwischen den Stämmen und im Geklüft der Felszacken, man konnte zuweilen fast gar nichts sehen, doch gab es auch Augenblicke größerer Helligkeit und in diesen erkannten alle die Umgebung. Da hinter dem hohen, gerade aufsteigenden Felskegel lag die Höhle, in der am Morgen Frau Neubert und ihre Kinder zurückgeblieben waren. Jetzt verriet kein Geräusch, kein Zeichen die Nähe irgend eines menschlichen Wesens.

»Soll ich einmal laut rufen, Sir?« fragte Lionel.

Neubert schüttelte den Kopf. »Nein! Nein! – O diese schreckliche Ungewißheit! – Wir wollen uns leise heranschleichen.«

Im selben Augenblick tauchte aus dem Schatten des Felsgeklüftes eine hohe, dunkle Gestalt hervor – Bill, der Fischer. Er legte mit warnender Gebärde den Finger auf die Lippen. »Pst, Gentlemen, ganz still.«

Neubert ergriff hastig seinen Arm. »Bill,« raunte er, »ist ein Unglück geschehen? Ist jemand von den Meinigen tot?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Feinde!« flüsterte er. »Ein fremdes Schiff!«

»Parteigänger der Konföderierten?«

»Natürlich! das ist jetzt für alle Räuber und Gauner die Flagge, unter der sie wie anständige Leute erscheinen.«

Der Kaufmann schien etwas ruhiger. »Sage mir, Bill,« bat er, »sind die Meinigen an Bord der Argo?«

»Nein, Sir, nein, beileibe nicht! Die Lady ist mit den Kleinen in einer verborgenen, ganz sicheren Höhle, wo niemand sie finden wird, aber das Boot! das Boot! wenn die Feinde es entdecken, so sind wir arme Leute.«

»Die Argo ist ganz zwischen die Klippen bugsiert!« fuhr er tief atmend fort, »vom Bord des Kapers können sie nichts entdecken, aber vielleicht wird ein Boot an Land geschickt und dann ist alles verloren.«

Neubert erkannte den Ernst der Lage, aber er fühlte dennoch sein Herz leichter. Frau und Kinder waren geborgen, – das übrige würde sich schon finden.

»Bist du uns entgegen gegangen, mein guter Bill?« fragte er. »Wahrscheinlich, damit wir nicht rufen sollten!«

Der Fischer bejahte und führte dann die Zurückgekehrten auf Schlupfwegen in ein Versteck, welches er nicht erst heute entdeckt hatte. Durch seine und Martins Fürsorge war die kleine Familie vor jedem Angriff vollständig geschützt.

Hier zwischen den Gebirgskuppen schwieg der Sturm. Von fern aus dem Geklüft drang ein schwacher Lichtschimmer den Kommenden entgegen, dann wurde der Glanz heller und heller, bis endlich eine enge, aber hochgewölbte Felsenhöhle sich den Blicken offen darbot. Frau Neubert saß auf einem mit Wolldecken verhüllten Stein und hielt ihr kleinstes Kind fest an die Brust gepreßt, während Toni und Alfred mit ängstlichen Gesichtern neben ihr standen und sich an die Mutter klammerten. In einem Winkel lagen ganze Haufen von Hausstandsgerät, welche Bill und Martin vom Bord der Argo hierhergebracht hatten, damit ihren Schutzbefohlenen wenigstens die allernötigste Bequemlichkeit nicht fehlen möge. Auch Betten fanden sich, der Kochofen und einige Bänke. Es schien, als hätten flinke Hände die Kajütte so schnell wie möglich ausgeplündert und ihren Inhalt in die Felshöhle getragen.

Herr Neubert näherte sich mit ausgebreiteten Armen den Seinigen. »Meine arme Anna,« sagte er, »und ihr Kleinen, habt ihr euch sehr geängstigt? – Na, weint nicht mehr, wir sind wieder angelangt und werden euch gegen jeden Feind verteidigen!«

»Und sieh nur, Mama, welch' ein schönes Hirschkalb wir mitbringen!«

»Und eine Menge großer Eier!«

Frau Neubert bemühte sich, zu lächeln. »Nun ist alles gut!« flüsterte sie. »Aber wir haben uns entsetzlich geängstigt, seit die Fischer so plötzlich in Aufregung gerieten und alle Kräfte anspannten, um ihr Fahrzeug mit Stangen und Seilen ganz zwischen die Klippen zu ziehen. Den Mast haben sie niedergelegt.«

»Wann geschah denn das?« fragte der Kaufmann.

»Vor etwa drei Stunden, als der Himmel anfing, sich zu verdunkeln. Die Kinder pflückten Blumen und Früchte, während ich einen Kranz band, um für eure Rückkehr die Kajütte zu schmücken, da kam Bill plötzlich in voller Eile herbeigelaufen und rief: ›Feinde! Feinde! Um Gotteswillen schnell in die Höhle und alle Spuren verwischt!‹«

»Während er das sagte, nahm er auch schon die Kleine auf den Arm, ergriff Körbe und Flaschen und bat mich, ihm mit Toni und Alfred zu folgen. Wie ein Wirbelwind brach der Schreck über uns herein! Ich sah noch von weitem, wie Bill auf dem Spielplatz der Kinder alle Spuren verwischte, sämtliche Blumen und Kränze in das Dickicht warf und die letzten Stücke Gerät zusammensammelte, dann eilte er an Bord der Argo und brachte mit Martins Hilfe das Boot in ein sicheres Versteck. Er sagt, vom Deck des Kaperschiffes können dessen Insassen nicht hinübersehen, in die Bucht gelangen aber noch viel weniger, falls sie nicht etwa ein kleines Boot mit sich führen.«

»Das wird allerdings wohl der Fall sein,« meinte Herr Neubert, »aber desto weniger glaube ich, daß sich die Feinde hier aufhalten. Wenn das Gewitter ausgetobt hat, setzen sie ihre Fahrt sogleich fort.«

»Stromaufwärts!« mischte sich der kleine Alfred in das Gespräch. »Martin hat es mir gesagt, als ich fragte, wohin die bösen Räuber fahren wollen.«

Herr Neubert und die übrigen lachten. »Das ist eine sehr wertvolle Nachricht, mein Söhnchen!« antwortete der Kaufmann. »Unsere und die Wege der Feinde gehen also schnurstracks auseinander.«

»Na, und nun sieh dir den Braten an, Mama,« fügte er dann hinzu. »Morgen, so Gott will, wird er uns allen trefflich munden. Die Geschichte mit dem fremden Schiffe ist nicht so schlimm, nur ein kleiner Aufenthalt, hoffe ich, weiter nichts.«

Lionel und Hermann trugen das Hirschkalb herbei, die Kinder vergaßen ihre Furcht, um es von allen Seiten zu bewundern und im ganzen kleinen Familienkreise war die Stimmung eine andere, bessere geworden. Draußen tobten Sturm und Donner ununterbrochen fort, der Strom warf hohe Schaumwellen gegen das Ufer, es ächzte und krachte überall im Walde, hie und da erhob sich die mißtönende Stimme eines Nachtvogels oder der heisere Schrei des Raben, dessen Nest zugleich mit dem herabgeschlagenen Aste auf den Boden geworfen und zerstört worden war.

Undurchdringliche Regenfluten überschwemmten alles. Sturmgepeitscht flogen ganze Schauer von Tropfen durch die Luft, Tausende von Blumen und halbreifen Früchten zerschlagend, Tausende von kleinen und allerkleinsten Leben vernichtend. Einem Schlachtfelde glich die friedliche Landschaft dieses Morgens, übersäet mit zerrissenen Blättern und Knospen war jeder Fleck Erde.

Drinnen in der Höhle hatte sogar eine gewisse Gemütlichkeit Platz gegriffen. Vor den Eingang war des Sturmes wegen eine dichte Decke gehängt worden, im Kochofen brannten die Spiritusflammen und darüber zischte und dampfte der Kessel, in welchem Mama die Eier zum Abendessen kochte. Bill, der Umsichtige, hatte ja Wasser, Brot, Tischgerät und außerdem noch verschiedene Lebensmittel im Fluge mit hierher gebracht, man konnte also essen und wenigstens den Kindern für die erlittene Angst eine Entschädigung bereiten.

Frau Neubert ließ sich überreden, daß am folgenden Morgen die Reise ohne Hindernis fortgesetzt werden könne, es schien, als sei das seelische Gleichgewicht überall wieder hergestellt, da plötzlich teilte sich der Thürvorhang und Martins Gesicht sah in die Höhle hinein. »Auf ein Wort, Sir!« bat er.

»Kommen Sie hierher, Martin!«

»Nein, bitte, Sir, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Herr Neubert ging hinaus, gefolgt von den beiden jungen Leuten. Vor dem Felsgeklüft stand Martin, dessen Gesicht innere Unruhe zeigte, er deutete hinaus auf den Strom. »Die Geschichte wird immer bunter, Sir!«

»Was ist denn jetzt wieder geschehen, Martin?«

»Von der Stadt her kam ein Fischerboot, Sir, ganz ein solches wie die Argo, ich weiß auch, wie es heißt und wem es gehört, – die Feinde haben es angehalten.«

Herr Neubert erschrak. »Du meinst, daß es zum Kampfe kommen wird, Martin?«

»Der Kampf ist im vollsten Gange, Sir. Die ›Lizzi‹ wurde mit Enterhaken herangeholt und dann gingen die Räuber trotz Sturm und Gewitter an Bord, – wer weiß, ob von der Besatzung noch jemand lebt!«

»Das ist ja aber schrecklich!« rief Lionel. »Sollen wir solche Verbrechen ruhig ansehen, ohne sie zu hindern?«

Martin zuckte die Achseln. »Es ist nichts zu machen,« sagte er. »Die Schurken lassen alles über die Klinge springen, dadurch sichern sie sich am besten gegen Verrat oder Rache. Was ich wissen wollte, war nur eins! Wenn von den Insassen der ›Lizzi‹ einer mit dem Leben davonkommen sollte, nehmen wir ihn dann an Bord der ›Argo‹?«

»Natürlich, Martin! Denkst du denn, daß man die unglücklichen Menschen einfach über Bord wirft?«

Der Fischer nickte. »Einfach über Bord, Sir, ja, mit dem Messerstich durch die Brust. Das geht jetzt doppelt so flott als früher, seitdem die Räuber Uniformen tragen und alle ihre Schandthaten für das Vaterland ausführen.«

»Laßt uns einmal zum Wasser hinabgehen,« schlug Lionel vor. »Vielleicht ist irgend etwas zu entdecken, womit man den Bedrängten beistehen könnte. Habt Ihr übrigens gar kein Lebenszeichen gegeben, Martin?«

»Behüte, junger Herr! Dem Wolfe läuft niemand freiwillig in den Rachen, überdies habe ich aber auch mit Bezug auf die ›Lizzi‹ so meine eigenen Gedanken. Weshalb sollte das Boot wohl ausgelaufen sein? Um zu fischen, wagt sich in diesen unsicheren Zeiten kein Mensch so weit hinaus.«

Neubert sah auf. »Martin, du denkst doch nicht, daß die Insassen jenes Bootes gekommen sind, um die Argo zu jagen?«

Der Fischer nickte. »Gerade das denke ich, Sir! Der Aufseher des Gefängnisses hat Lärm geschlagen, die Geschichte ist an den Tag gekommen und was man noch nicht wußte, das hat man geschlossen. Der Weg zum Meere ist in unseren Tagen der einzig offene, man verfolgt also auf ihm die Flüchtigen.«

Neubert und Lionel sahen einander an. Eine neue, ungeahnte Gefahr, die plötzlich heraufzog und wie ein schwarzer Schatten über den Weg fiel! – –

»Laßt uns selbst nachsehen!« wiederholte Lionel.

Sie schlichen im Schutze der Felsen und unter hohen Bäumen hinab an den Strand. Jetzt war die Finsternis nicht mehr so dicht, das Gewitter hatte ausgetobt und der Sturm einigermaßen nachgelassen. Weißschäumend ergoß sich die Flut über das Ufer, knarrend und krachend stießen die Bordwände der beiden eng an einander gedrängten Schiffe zusammen. Licht brannte hüben und drüben, Pistolenschüsse erklangen, laute Stimmen und das Fallen schwerer Gegenstände.

»Sie ringen noch mit einander!« flüsterte Neubert.

»Mich deucht, das Boot sinkt!«

Martin nickte. »Was Wert besaß, das haben die Räuber an sich genommen, nun versenken sie das Schiff, da es keine Möglichkeit gibt, durch den Verkauf desselben noch einen Vorteil zu erlangen. So machen sie es immer.«

Mehrere dunkle Gestalten schwangen sich jetzt an Seilen hinauf zum Deck des viel höheren Räuberschiffes. Einer der Strauchdiebe trug eine nicht ganz geschlossene Laterne und im Lichte derselben sahen unsere Freunde, wie plötzlich kräftige Arme einen menschlichen Körper emporhoben und mit einem schnellen Ruck über Bord stürzten. Ein Schrei klang gellend durch die Nacht, das Wasser spritzte hoch auf, dann wurde alles still.

Lionel schauderte. »Der Unglückliche lebte noch!« flüsterte er.

»Vielleicht könnten wir ihn retten!« meinte Hermann.

Herr Neubert nickte. »Das ist Menschenpflicht,« bestätigte er. »Mag darauf folgen, was Gott beschließt, aber dem Mißhandelten müssen wir beistehen.«

Sie schlichen bis zum äußersten Rande des festen Bodens. Im Kreise ihrer brennenden Laternen waren die Räuber außer stande, mit den Blicken die Dunkelheit zu durchdringen, desto besser aber wurden sie selbst gesehen, wüste, verwilderte Erscheinungen, sämtlich in der Uniform der Konföderierten, aber durch diesen Umstand als Strauchdiebe am sichersten gekennzeichnet. Hier die Raupen des Stabsoffiziers, dort der Rock des gemeinen Infanteristen und dann wieder der des Reiters, – so waren diese Helden von der Landstraße beschaffen. Auf den blutigen Schlachtfeldern an den Ufern des Potomak und Rappahannock war das, was sie trugen, den Toten und Verwundeten geraubt; ein Kauffahrteischiff, von einem Binnenhafen zum anderen bestimmt, fiel ihnen als gute Beute in die Hände und nun wurde vom Plündern und Morden frisch darauf los gelebt.

Die Leute glaubten sich allein, nur von der stummen Wildnis umgeben, sie sprachen laut und ungeniert mit einander. »Wenigstens einen ganzen Tag müssen wir hier vor Anker liegen! – Damn it! es sind mehrere Planken total losgebrochen.«

Hammerschläge klangen aus dem Innern des sinkenden Fischerbootes herauf, dann schwang sich der Letzte an Bord des Piraten. »Erbärmliche Beute!« brummte er. »Kaum dreihundert Dollar und wir sind unserer zehn, um die Bettelsumme zu teilen!«

»Hast du den Dicken mit der Brille gehörig festgebunden, Jim?«

» All right, ich werde doch das hauptsächlichste nicht versäumen! Der Bursche war, so lange er lebte und andere Leute drangsalierte, der Friedensrichter meiner würdigen Vaterstadt, – da könnte viel Staub aufgewirbelt werden, wenn man etwa unvermutet seine Leiche fände. Ich habe ein paar tüchtige Nägel durch die Kleider geschlagen! Bis das auseinanderfällt, ist der verehrliche Mr. Dunkan seinen besten Freunden nicht mehr kenntlich.«

»Hat er dich wohl früher einmal in den Fängen gehabt, Jim, da du ihn doch so sehr herzlich zu lieben scheinst?«

Mehrere Stimmen lachten. »Ich frage nicht nach deinen Angelegenheiten, Harris!« brummte Jim. »Gleiches Recht für alle.«

Neubert und Lionel wechselten einen schnellen Blick, sie waren beide sehr blaß geworden. Also Martin hatte mit seiner Vermutung doch das Rechte getroffen!

»Sehen Sie dorthin!« raunte Bill. »Der über Bord Geworfene lebt!«

»Wo? Wo?«

Lionels Blicke folgten der Richtung des vorsichtig ausgestreckten Armes. Etwas vom Lande entfernt hielt sich ein Mann mit beiden Händen krampfhaft an einem Baumast, der weit hinausragte in den Strom. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, man sah nur die äußeren Umrisse der Gestalt und auch diese völlig verschwommen, aber der Unglückliche kämpfte offenbar unter Aufbietung seiner letzten Kräfte gegen die hereinbrechende Ohnmacht; zuweilen verschwand der Körper ganz unter dem Gischt, dann tauchte er wieder auf und endlich ließen die ermatteten Hände den Baumast fahren, um ihn nicht mehr zu ergreifen. Der Mann war in den Fluten versunken, ohne auch nur den leisesten Schrei ausgestoßen zu haben, – er wollte von den Räubern für tot gehalten werden, das ließ sich unschwer erkennen.

Neubert legte die Hand auf Lionels Schulter. »Jetzt wird voraussichtlich die nächste größere Welle den Körper an das Ufer werfen,« flüsterte er.

Lionel nickte. Er zog Rock und Weste aus, dann die Stiefel, – wie ein Schatten verschwand seine schlanke Gestalt zwischen den vom Gischt überspülten Steinen, während Hermann und Herr Neubert ein langes Seil, das sie ihm um den Leib gebunden hatten, mit vereinten Kräften festhielten.

Dann kam ein Windstoß und mit ihm die Flutwelle. Der Körper des Bewußtlosen wurde gegen die Steine geschleudert und hier im jähen Anprall festgehalten, Lionels kräftige Arme erfaßten ihn, auf ein Zeichen an die bereitstehenden Freunde erschien eben so lautlos, so schnell die nötige Hilfe und nun trugen vier Arme den wie tot Daliegenden schleunigst durch Schilf und Klippen davon, um ihn in der sichern Felshöhle zu bergen. Der Regen hatte jeden Fußbreit Bodens völlig durchnäßt, der Sturm alles zerrissen und zerwühlt, es ließ sich daher nicht befürchten, daß die Spuren dieses Transportes späterhin dem Auge bemerkbar werden würden, ganz besonders, weil sich der kleine Zug so viel als möglich zwischen den Klippen dahin bewegte.

Bill und Martin kannten die Gegend ganz genau, sie fanden in finstrer Nacht den Weg zu dem verborgenen Schlupfwinkel, aus dessen innerster Tiefe das Licht wie ein grüßender Stern den Kommenden halb verhüllt entgegen schimmerte. Die Decke wurde zurückgeschoben, Hermann ging voraus, und dann legten Lionel und Neubert den Geretteten auf einige schnell hergerichtete, in der Eile zusammengeraffte Bettstücke.

Nun erst sah Lionel das Gesicht mit den geschlossenen Augen, – ein Ausruf des Erstaunens, ja, der Bestürzung klang von seinen Lippen. »Mr. Nathanael Forster! –«

»Er also ist es?«

»Lionel! – Dein Todfeind?«

Der Knabe nickte, sein hübsches Gesicht war fahl geworden. » Mein Feind? – Das sagt nichts. Aber der Mann, der meine Eltern in den Tod trieb!«

»Und der nun hilflos vor deinen Füßen liegt, Lionel! Seine Brust blutet!«

»So mag er sterben! Hatte er Mitleid mit meinem unglücklichen Vater? Verkaufte er nicht den Wehrlosen in Brasiliens Fiebersümpfe?«

Herr Neubert trat dem erregten Knaben näher, er sprach in freundlichem, begütigendem Tone und legte sanft die Hand auf die Achsel des heftig Empörten. »Lionel, mein guter Junge,« sagte er, »ist das christlich gedacht und wie ein guter Mensch gesprochen?«

Lionel vermied es, ihn anzusehen. »Ich kann nicht anders,« murmelte er. »Mag dieser Mann sterben, es geschieht ihm recht.«

»Du würdest also den unglücklichen Verwundeten, wenn dir sein Name bekannt gewesen wäre, nicht aus dem Wasser gezogen haben?«

»Nein! Nein!«

Herr Neubert nickte, sein Gesicht war sehr ernst. »Nun gut,« versetzte er, »so komm denn! Wir wollen den Körper wieder in den Strom werfen.«

Eine glühende Röte schoß in Lionels Antlitz. »Sir!« stammelte er.

»Komm!« wiederholte der Kaufmann. »Es war ja bei dir, als du den Unbekannten rettetest, nicht etwa die einfache Erfüllung deiner Pflicht als Christ, sondern ein Irrtum. Du willst, daß Mr. Forster zu Grunde gehe.«

Lionel wandte sich ab. Ohne eine Silbe der Erwiderung lief er hinaus und lehnte den Kopf gegen die windumtobten Klippen; sein Gesicht war überströmt von Thränen.

»Laß ihn!« ermahnte Herr Neubert, als sein Sohn sogleich dem Freunde folgen wollte. »Laß ihn, Hermann! das Gute in ihm hat den Sieg behalten, ich wußte es wohl. Der arme Schelm, er ist von harten Schicksalsschlägen betroffen worden, das vergißt sich nicht so leicht.«

Unter dem Beistande Martins wurde nun die Brust des Verwundeten gewaschen und so gut es anging, verbunden, Frau Neubert trocknete ihm Haar und Gesicht, die nassen Kleider waren entfernt worden und durch ein paar Wolldecken ersetzt; so lag er denn mühsam atmend, mit geschlossenen Augen und ohne Bewusstsein da – der Verfolger in der Zufluchtsstätte der Verfolgten, bcschützt und gepflegt von denen, die er dem Verderben überliefern wollte.

Bill kam von draußen herein und erzählte seufzend, daß die Gefahr sehr groß sei. »Die Strauchdiebe suchen zwischen den Klippen diesen Mann hier,« berichtete er. »Einer von ihnen hat ihn im Zorne über Bord geworfen, aus welchem Grunde jetzt ein lebhafter Streit entstanden ist. Die andern wollen nicht von hier fortgehen, bis sie den Leichnam gefunden haben.«

»Besitzen denn die Schufte ein Boot, Bill?«

»Zwei sogar, Sir! Morgen bei Tagesanbruch haben wir sie hier.«

»Das verhüte Gott!« sagte ernsten Tones der Kaufmann. »Aber welche Folgen auch daraus entstehen mögen, so werde ich es doch niemals bereuen, meinem Nächsten im Augenblick der dringendsten Gefahr beigestanden zu haben. Und dasselbe denkst du auch, nicht wahr, liebe Anna?«

Seine Frau nickte, obwohl ihr die großen Thränen über das Gesicht liefen. »Meine Kinder!« sagte sie, leise schluchzend, »meine Kinder!«

»Gott wird uns beistehen, Anna! Wer weiß, vielleicht kommt ein Schiff und vertreibt das der Räuber. Du mußt den Kopf oben behalten.«

Sie legte neue Wasserpolster auf die Stirn des Verwundeten; in einem Winkel auf den letzten noch übrigen Kissen schliefen die Kinder und auch Lionel kam wieder herein, ruhig, aber sehr blaß. Er und Herr Neubert drückten einander in stummem Verständnis die Hände, dann wählte jeder seinen Platz so gut es ging, das Licht wurde ausgelöscht, die Decke am Eingang weggenommen und so erwarteten die Versteckten in heimlicher Unruhe den Beginn des neuen Tages, der die Feinde hierher führen mußte.


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