Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Lionel erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ein unbestimmtes Erschrecken war das erste, was er empfand, dann kam blitzschnell die Erinnerung an das geschehene Unglück und ließ sein Herz schneller schlagen. Onkel Charles, der gute, freundliche – nun war er dahin auf immer.
Lionel drückte das Gesicht ins Kopfkissen und weinte bitterlich.
Von draußen öffnete eine Hand die Thür und Philipp kam an seiner Krücke in das Zimmer gehinkt. Er setzte sich auf den Bettrand, mit leiser, liebevoller Stimme tröstete er den Freund, das bleiche, durchgeistigte Gesicht mit den schönen, milden Augen trug einen Ausdruck lebendiger Freundschaft und Treue. »Mein armer Lionel,« sagte er, »du mußt aufstehen und hinabgehen in das Empfangszimmer. Man verlangt dein Zeugnis.«
Lionel sah auf. »Über welchen Punkt?« fragte er.
»Mehrere von den Schwarzen haben behauptet, daß ihr Entlassungsschein ausgeschrieben sei und daß du von der Sache wissest, – so Ralph und die alte Cassy.«
Lionel hatte sich rasch erhoben, jetzt nickte er, während das kalte Wasser sein Gesicht angenehm erfrischend überflutete. »Es ist ein Testament vorhanden, Philipp, ich weiß es. Die Neger sind samt und sonders freie Leute, sie können über ihre Personen verfügen, wie du und ich.«
Philipps Gesicht glänzte vor Freude. »Alle?« rief er. »Alle?«
»Ohne Ausnahme, ja!«
»O, der gute Onkel Charles! – Und wo ist das Testament, Lionel?«
»Jedenfalls im Schreibtisch des Verstorbenen. Ich werde gleich nachsuchen.«
Sie gingen zusammen in den Parlor, wo schon mehrere Amtspersonen den Knaben erwarteten. Auch Mr. Manfred Trevor war zugegen; sein Gesicht zeigte eine tödliche Blässe, sonst aber keinerlei Aufregung oder Unruhe.
Im Schaukelstuhl saß der Friedensrichter und ließ seine Daumen einander umkreisen. Er war ein wohlbeleibter, älterer Herr mit einem spöttischen Gesicht und fuchsrotem Haar, das wie ein Kranz die riesige Platte umgab. Aus seiner Farm blühte die Sklavenzucht in üppiger Ausdehnung, er versorgte alljährlich den Markt in der Stadt mit schwarzer Ware und galt als sehr strenger Gebieter. Ein leidenschaftlicher Anhänger der Konföderierten, hatte er drei seiner Söhne freiwillig gestellt und würde selbst mit ins Feld gezogen sein, wenn ihn nicht die leidige Korpulenz im Verein mit der Gicht daran erfolgreich verhindert hätte. Jetzt winkte er unserm Freunde.
»Komm einmal her, junger Herr. Du bist ein Neffe des verstorbenen Mr. Trevor, nicht wahr, mein Sohn?«
»Ja, Sir!«
»Ein Schwestersohn wahrscheinlich?«
Lionels Herz klopfte schneller, eine seltsame Unruhe hatte ihn plötzlich überfallen. »Ich weiß es nicht, Sir,« versetzte er, »aber – – aber, für so nahe halte ich die Verwandtschaft nicht.«
Hier mischte sich Manfred Trevor in das Gespräch. »Erlauben Sie, mein Herr, ich kenne die Art der vorhandenen Beziehungen. Dieser junge Mensch war meinem teuren verstorbenen Freunde ein ganz Fremder, es liegt keinerlei Blutsverwandtschaft vor.«
»Onkel Manfred!« rief Lionel. »Um Gottes Willen, was sagst du da? Wer bin ich denn? Wer war mein Vater?«
»Das wirst du in allernächster Zeit erfahren. Jetzt handelt sich's einzig und allein darum, dem Herrn Friedensrichter möglichst genaue und immer ganz wahre Auskunft zu geben.«
Lionels hübsches Gesicht wurde bald rot, bald blaß. »Ich stehe zu Diensten,« stammelte er.
Der Beamte spielte mit einem Messer, dessen Klinge er auf die Tischkante fallen ließ und dann wieder durch die Luft wirbelte. »Nun, mein Sohn, wer du bist und wie es um deine Verhältnisse steht,« sagte er, »das kümmert uns hier heute noch nicht, du sollst nur eine Frage beantworten. Mehrere Neger, die zum Eigentum des Verstorbenen gehören, behaupten, von ihrem Gebieter freigelassen zu sein und stützen sich dabei auf dein Zeugnis. Was weißt du von der Sache? Es ist alles Schwindel, nicht wahr? Die Kerle werden ausgepeitscht und damit basta!«
Lionel schüttelte entschieden den Kopf, seine Augen blitzten, seine ganze stattliche Gestalt hatte sich höher aufgerichtet. »Nein, Sir,« rief er, »o nein, Sie irren vollständig! Gepeitscht wurde hier erstens nie ein Neger, nie! – Dann aber haben auch die Leute nur gesagt, was wahr ist. Onkel Charles, mein armer, unsäglich betrauerter Wohlthäter hat in seinem Testamente mich zum Erben von Seven-Oaks eingesetzt und seinen sämtlichen Sklaven die Freiheit geschenkt, nicht allein einigen unter ihnen, sondern allen ohne Ausnahme.«
Hätte plötzlich der Blitz zu den Füßen des Friedensrichters die Erde gespalten, so würde das jähe Erschrecken des alten Herrn schwerlich größer gewesen sein, als es sich jetzt zeigte. Er saß im ersten Augenblick mit offenem Munde, unfähig zu denken, zu sprechen.
Dann schlug eine rote Lohe über sein Gesicht, er ließ die Hand mit dem Messer schwer auf den Tifch fallen. »Über zweihundert Sklaven sollten freie Leute geworden sein?« rief er mit heiserem, zornigem Tone. »Hunderttausende hätte Mr. Trevor auf die Straße geworfen und das in einem Augenblick, wo das Vaterland leidet und darbt!? – Bis ich diese Verfügung schwarz auf weiß sehe, mag ich zu Ehren des Toten nicht daran glauben.«
Ein Gemurmel des Beifalls ging durch die Reihen der übrigen Gerichtspersonen, auch Manfred Trevor schüttelte den Kopf. »Und dieser junge Mensch sollte Seven-Oaks erhalten?« sagte er halb spöttisch, halb ungläubig. »Das klingt fabelhaft!«
»Weiß Gott, Sir!« bestätigte der Friedensrichter. Dann, sich wieder zu unserm unerschrockenen Freunde wendend, fuhr er fort: »Du hast vermutlich das Testament in Besitz mein Sohn?«
Lionel sah ihn ruhig an. »Nein, Sir,« versetzte er, »aber ich weiß, daß es vorhanden ist. Erlauben Sie mir, die Dokumente des Verstorbenen zu durchsuchen!«
Er wollte das Zimmer verlassen, aber Manfred Trevor hielt ihn auf. »Soll der junge Mensch allein gehen, Sir?« fragte er den Friedensrichter.
»Natürlich nicht!« klang es zurück. »Ich hoffe übrigens von ganzer Seele, daß ein Testament mit so wahnsinnigem Inhalte nimmer gefunden werden möge.«
»Welcher Notar hat es denn aufgesetzt, Bürschchen?« fragte er, sich schwer aus dem Schaukelstuhl erhebend, »weißt du es?«
»Ja, Sir, der Advokat Mr. Mason!«
»Gilt bei der Armee als verschollen. Und die Zeugen?«
»Zwei Männer, die sich bei der Fahne befinden.«
Der Friedensrichter lächelte. »Nun,« sagte er, »wir werden ja sehen, wie die Sache steht. Bei der Behörde ist keine letztwillige Verfügung niedergelegt.«
Die beiden von dem verstorbenen Gutsherrn bewohnten Räume wurden gründlich, aber selbstredend ohne allen Erfolg durchsucht, es fand sich kein Dokument, das Aufschluß gegeben hätte, kein Blatt Papier von Mr. Masons Hand. Der Friedensrichter hatte seine gute Laune wieder erhalten, er scheuchte einen der Neger, welcher in das Zimmer zu blicken wagte, mit einer einzigen Bewegung davon.
»Alles Lügen,« sagte er, »ein albernes Märchen, das die schwarzen Schufte über Nacht ausgeheckt haben, und bei dem dieser hoffnungsvolle Bursche ohne viel Anstrengung ein hübsches Landgut zu erwischen gedachte. Aber die Sache wird doch wohl etwas anders enden.«
Sein Gefolge lachte, aber Lionel ballte zornig die Faust, sein Gesicht war blaß vor Aufregung. »Herr!« rief er, »wie dürfen Sie es wagen, mich als Lügner zu bezeichnen?«
»Weil du wirklich ein solcher bist, mein Junge, aber ein ungefährlicher, denn du hast die Geschichte dumm genug angefangen. Hättest nicht gleich so tief in den Glückstopf hineingreifen müssen.«
Und ohne sich weiter um den beleidigten Knaben zu kümmern, ging er davon. Philipp Trevor war der Erbe, dessen Vater als Vormund seines minderjährigen Sohnes einstweilen Herr und Gebieter, – damit basta!
Zu andern Zeiten hätte sich die Sache möglicherweise nicht so leicht gemacht, aber wo gab es in der augenblicklichen, alles beherrschenden Verwirrung der Dinge einen Gerichtshof, der für die Befreiung einer Anzahl von Negern eingetreten wäre? Draußen auf blutiger Wahlstatt focht man für die Erhaltung der Sklaverei und hier zu Hause sollte man das Gegenteil unternehmen?
Lächerlich!
»Hören Sie mich an, Sir!« rief Lionel, außer sich vor Zorn.
Der Friedensrichter drehte sich um. »Vergiß nicht, daß sich im Hause eine Leiche befindet, mein Junge! Und daß ich dich für jedes unverschämte Wort ins Gefängnis werfen lassen kann!«
Lionel schwieg. Ja, der Tote! Er hatte vergessen, daß man in einem Trauerhause überhaupt nicht mit lauter Stimme streitet.
Die armen Schwarzen, nun war ihr Schicksal besiegelt. Mr. Trevor würde keinen einzigen freilassen, so viel stand fest.
Und dann entsann er sich der seltsamen Worte, welche dieser Herr über ihn selbst geäußert hatte. Er war ein ganz Fremder, war mit der Familie Trevor in keiner Weise verwandt!
Ein schmerzliches Gefühl der Vereinsamung kam über seine Seele. Zu niemand sollte er durch die Bande des Blutes gehören, – so viele Menschen die weite Welt beherbergte, ihm waren alle fremd, alle ohne Verpflichtungen, ohne die natürliche Liebe, welche Familienglieder mit einander verbindet.
Philipp hatte sich ihm nähern wollen, aber sein Vater rief ihn mit barschem Tone zurück, – wie ein kalter Wind wehte es durch Lionels Seele, er schlich ungehört in den Saal, wo die Leiche aufgebahrt lag, und trat an den Katafalk, um wenigstens mit dem Neger einige freundliche Worte zu wechseln.
Traurigen Blickes sah er in das schwarze Gesicht. »Ralph, ich glaube, es kommen jetzt böse Tage für uns alle. Das Testament meines armen Onkels ist nicht zu finden!«
Der Schwarze bewegte immer treulich den Federwedel über dem Totenantlitz seines Gebieters. »Wir müssen es eben ertragen, Sir!« raunte er. »Armer Massa Lionel, für Sie ist es ein schwerer Schlag, – ach, armer Knabe, armer Knabe!« –
Er wiegte in der Weise seines Volkes den Kopf und seufzte tief. »Die Aussichten waren so gut, so gut, alles ging glatt, – und nun kommt das Unglück!«
Ein Schauer rieselte durch Lionels Adern. »Du glaubst, daß mich Mr. Trevor jetzt aus Seven-Oaks verbannen wird, Ralph?«
Der Neger antwortete nicht, große Thränen rannen über sein ehrliches Gesicht herab. »Armer Knabe,« flüsterte er wieder. »Armer Knabe!«
»Auch für mich wird es ja irgend eine Beschäftigung, ein Unterkommen geben, Ralph, sorge dich nicht so sehr um mich, ich kann arbeiten und will es.«
»Aber du!« setzte er leise seufzend hinzu, »du, mein alter Ralph? Wenn dich nun Mr. Trevor verkaufen würde?«
Der Neger nickte. »Das geschieht sicherlich, Herr!«
»O mein armer Ralph, und ich besitze keinen Cent, um dich zu retten! Mein ehrliches Zeugnis ist verworfen worden!«
Der Neger liebkoste mit der Linken das Gesicht des Knaben, den er schon als kleines Kind auf dem Arm getragen hatte. »Wir wollen das alles Gott überlassen, Massa Lionel, – er hat für die jungen Vögel im Nest das Futter bereitet, er wird auch Sie nicht vergessen und es Ihnen geben, wenn die Zeit gekommen ist, – vollauf!«
»Ach,« warf Lionel ein, »ich denke nicht an mich, Ralph. Aber du und die anderen, euer Schicksal geht mir sehr zu Herzen!«
Eine Pause folgte diesen Worten, dann wandte sich der Knabe wieder zu seinem schwarzen Gefährten. »Ralph, ich will dir etwas erzählen! Mr. Trevor sagte vorhin, daß ich der Familie meines Pflegevaters gegenüber ein ganz Fremder sei, – ist das wahr? Du hast meine Eltern gekannt, und mußt es am besten wissen.«
Der Neger seufzte, er schüttelte leicht den Kopf. »Ich mag darüber jetzt nicht sprechen,« versetzte er. »Mr. Trevor ist ein harter Herr, – wer weiß, wie viele Peitschenhiebe wir beide bekämen.«
Dunkle Glut färbte das Gesicht des Knaben. »Peitschenhiebe?« wiederholte er. »Ich? Ralph, wie wäre das möglich?«
Der Schwarze seufzte. »Es sind noch ganz andere Dinge möglich, Massa Lionel. Sie müssen von der Zukunft nicht viel Gutes erwarten, Sir.«
Eine beklemmende Ahnung legte sich wie ein Druck auf Lionels Herz. »Eins sage mir, Ralph,« bat er, »du kannst es, ohne jemandes Gebote zu übertreten. War mein Vater ein schlechter Mann? Ist mit seinem Andenken irgend eine Schande verknüpft?«
Die Augen des Negers schienen plötzlich heller aufzuleuchten. »Schande?« wiederholte er. »O nein, Sir, nein, Ihr Vater war ein Ehrenmann, es hat ihm niemals jemand etwas Böses nachgesagt, Sie brauchen sich seiner in keiner Weise zu schämen.«
Lionel atmete leichter, in seinen Zügen löste sich eine unerträgliche Spannung. »Dann ist alles gut,« nickte er. »Ich danke dir, Ralph.«
»Sie sollten nun ein wenig hinausgehen in den Wald, Sir! Bis nach der Beerdigung wird Mr. Trevor sich um Sie nicht bekümmern.«
»Und nachher mir die Thür zeigen, – ich weiß es wohl, Ralph!«
Er drückte die Hand des Schwarzen und ging hinaus in das leuchtende Sommergrün der Umgebung, so unruhig und traurig wie nie vorher. Jetzt mußte er, der bisher ein Sekundaner der Hochschule gewesen war, schon in allernächster Zeit als Knecht auf einer Farm arbeiten, Mr. Trevor würde ihm kein Stück Brot mehr geben wollen.
Eine Regung von Stolz durchflutete sein Inneres. Er hätte auch aus der Hand dieses Mannes keine Wohlthat annehmen mögen. Mr. Trevor haßte ihn, das erfuhr er nicht erst heute, – es konnte zwischen ihnen beiden nie ein gutes Einvernehmen eintreten.
Er wanderte planlos umher und suchte dann wieder sein Zimmer auf, um zu schlafen. Mr. Trevor und sein Sohn speisten heute allein, ihm selbst wurde das Mittagsessen in einem anderen Raume serviert, – man begann ihn zu verleugnen.
Philipp nicht, so viel stand fest. Er fand am Nachmittag eine Gelegenheit, dem Freunde flüchtig ein paar Worte zuzuraunen, ihn herzlich zu umarmen. »Halte aus, Lionel,« sagte er, »sieh in jedem Augenblick auf den Tag, wo ich mündig werde, – dann hindert mich niemand, so zu handeln, wie es als fester Entschluß vor meiner Seele steht. Seven-Oaks wird wieder dein Eigentum.«
Lionel lehnte sein kaltes blasses Gesicht an die Stirn des anderen. »Behalte mich lieb,« sagte er tief erschüttert, »behalte mich lieb, Philipp! Ich habe auf der weiten Welt keinen Menschen außer dir! – Ralph hat recht, es war ein schrecklicher Sturz, – schrecklich!«
Auf Philipps Lippen schien eine bange Frage zu schweben, sein mageres kränkliches Gesicht hatte alle Farbe verloren, die heißen Hände bebten wie im Fieber. »Lionel,« sagte er mit gepreßtem Tone, »ich bitte dich, sprich jetzt die Wahrheit, als ständest du vor Gott! – Hat dir der verstorbene Onkel Charles sein Testament selbst gezeigt?«
»Nein, Philipp, aber er hat mir den Inhalt Wort für Wort gesagt. Dir waren sechzigtausend Dollar bestimmt, mir die Farm und allen Sklaven die vollständige Freiheit.«
»Das weißt du ganz gewiß? Es ist kein Irrtum möglich?«
»Keiner!«
Philipp brauchte offenbar einige Zeit sich zu sammeln. »Weshalb hat er dir aber in diesem Falle nicht gesagt, wo das Testament liegt, mein guter Lionel? Kannst du mir das erklären?«
Der Knabe nickte. »Onkel Charles war im Begriff, mir den Ort zu nennen,« antwortete er. »Es ist gut versteckt, so lauteten seine Worte, und es ist von größter Wichtigkeit, daß kein Mensch außer dir es finde.«
Philipp hustete fortwährend leise vor sich hin, bei ihm ein Zeichen heftiger innerer Erregung. »Weiter!« bat er, »weshalb erfuhrst du gerade das Hauptsächlichste nicht?«
Lionel wandte sich ab. »Ich bitte dich, diese Frage unbeantwortet lassen zu dürfen, Philipp,« sagte er in unsicherem Tone.
»Weil es mich schmerzen müßte, den Zusammenhang der Dinge kennen zu lernen?«
»Ich fürchte, – ja!«
»Dann war es in der Nacht vor seinem Tode, als Onkel Charles mit dir sprach? – Im Zelte? Als er alle übrigen schlafend glaubte?«
»Philipp, – du wolltest mir die Antwort erlassen!«
»Ich habe sie bekommen!« sagte mit bebender Stimme der Krüppel. »Vier Prüfungsjahre liegen vor dir, Lionel, dann bin ich mündig! – O bete, bete, daß Gott mir das Leben erhalte bis dahin!«
Lionels hübsches Gesicht hatte die alte Frische, den alten Ausdruck leiblicher und seelischer Gesundheit wiedergefunden, er lächelte beinahe heiter, während Philipp die Zähne zusammenbiß und mehr einer Leiche als einem lebendigen Menschen glich. »Wollen wir nie wieder über die ganze Sache miteinander sprechen, Lionel?« fragte dieser kaum verständlich. »Kannst du mir auch schweigend vertrauen?«
»Wir wollen an das Gewesene nicht einmal mehr denken!« versetzte Lionel. »Was mich so sehr zu Boden drückte, war übrigens nicht die Furcht vor dem Verluste des mir bestimmten Wertes, sondern nur die Einsamkeit des Herzens. Onkel Charles hatte mich wahrhaft lieb!«
»Ich auch, Lionel, ich auch!«
»Das weiß ich ja! Mag geschehen was da wolle, es wird mich standhaft finden. Vielleicht gehe ich sofort zur Armee, das heißt, zu derjenigen des Nordens!«
Philipp wandte sich ab. »Laß noch alle Pläne,« sagte er dumpf. »Wer kann über die nächste Stunde verfügen? – Denke immer an den Tag meiner Mündigkeit und freue dich jeden Abend, daß es bis dahin wieder einer weniger geworden ist.«
Lionel lachte. »Da müßte ich ja ein wahrer Geizhals sein!« rief er. »Es ist nun alles gut, ich finde wohl Arbeit, – wer wird sich denn um das liebe Brot so große Sorgen machen?«
Philipp reichte ihm die Hand. »Wir sprechen uns wieder!« sagte er. »Meines Vaters Gebot wird dich und mich niemals trennen können.«
Dann ging er fort und Lionel begann in seinem Zimmer die Bücher zu ordnen. Latein, Griechisch, Mathematik, Litteraturgeschichte, – das war nun alles dahin. Vielleicht würde ihm Mr. Trevor nicht einmal gestatten, sein Eigentum mitzunehmen. Und dann dachte er an den Ajax, an das schöne schwarze Pferd, welches ihm Onkel Charles nach Richmond mitgeben wollte, – beinahe übermannte ihn doch das bittere Weh. Wie ein Prinz hatte er bis dahin gelebt und über Nacht war er ein Bettler geworden.
Stunden vergingen, während er mit gestütztem Kopfe dasaß, eine schlaflose Nacht folgte dem Tage voll Aufregung und dann kam die Zeit, in welcher das Begräbnis stattfinden sollte. Wagen nach Wagen brachte aus der Stadt das Trauergeleite, die Räume füllten sich mit der vornehmsten Gesellschaft der Umgebung, Offiziere, Gutsbesitzer und Beamte brachten ihre Gaben an Blumen und Kränzen, der ganze Saal schien in einen Garten verwandelt. Am offenen Sarge hielt der Geistliche eine Rede, in der er die Verdienste, namentlich die Menschenliebe des Verstorbenen pries. Dann setzte sich am späten Nachmittag der Zug zu dem mehrere Meilen entfernten Gottesacker in Bewegung.
Die Bestattung sollte bei Fackelschein vor sich gehen, es warteten am Grabe mehrere Gesangvereine und eine Kapelle; der Leichenzug war vielleicht der stattlichste, den die Gegend jemals gesehen. Zunächst hinter dem Sarge fuhren Mr. Trevor und sein Sohn, dann folgte eine unübersehbare Reihe von Kutschen, denen als letzte in der Reihe die Schwarzen von Seven-Oaks nachgingen. Unter ihnen an Ralphs Seite befand sich Lionel. Mr. Trevor hatte ihn nicht aufgefordert, sich mit in den Wagen zu setzen, es blieb ihm daher, wenn er überhaupt der Leiche seines Wohlthäters folgen wollte, nur übrig, mit den Negern zu Fuß zu gehen. Späterhin würde er dann Gelegenheit finden, doch noch die Handvoll Erde auf den Sarg des geliebten Toten zu werfen.
Nur der langsame Schritt der Pferde machte es möglich, den weiten Weg durch Staub und Sonnenbrand ohne Ruhepause oder Erquickung zurückzulegen. Es war fast völlig dunkel, als das Thor des Gottesackers offen vor den Blicken der Ankommenden dalag; schwarze Gestalten huschten hin und her, Fackeln blitzten auf und wurden an das Gefolge verteilt; ein imposanter Zug bewegte sich gegen das geöffnete Grab.
Leise, immer höher und höher anschwellende Klänge eines Chorales empfingen auf dem geweihten Boden den Sarg; zum Himmel empor stieg in schwarzen Wolken der Rauch der Fackeln, eine dichtgedrängte Menschenmenge ließ den Zug vorüberpassieren. Zuweilen klang verhaltenes Schluchzen, – arme alte Frauen weinten, Bettlerinnen, denen der Verstorbene aus der reichen Fülle seines Besitzes und seiner Nächstenliebe Wohlthat über Wohlthat gespendet; eine bescheidene Blume, im halbdunkeln Zimmer der Armut gezogen, ein beschriebenes Blatt mit einem frommen Spruch fielen auf den Sarg, stumme Gebete für das Seelenheil des Ermordeten flogen empor zum Throne der ewigen Gnade.
Auch Lionel weinte. Es ist etwas furchtbar Ernstes um den Anblick der offenen Gruft, es ist ein bitterer, zerreißender Schmerz, das, was man liebte, der kalten dunklen Erde in den Schoß zu legen.
Jetzt sangen die Mitglieder der Gesangvereine, zu denen auch Charles Trevor gehört hatte. Die Träger setzten den kostbaren Metallsarg zu Boden, alles umstand das offene Grab, wunderbar ergreifend brausten die Töne dahin über das stille, nächtliche Totenfeld. Dann trat der zweite Präsident eines Klubs ein wenig vor, um noch ein letztes Abschiedswort dem plötzlich dahingeschiedenen ersten Vorsitzenden desselben nachzurufen. »Möchte der ruchlose Mörder entdeckt werden,« schloß er, »möchten alle, die heute den treuen und hochgeachteten Mitbürger beweinen, auch Zeugen werden der Strafe, die den Frevler ereilt! Aber selbst, wenn das Dunkel jener Todesstunde niemals gelichtet wird, wenn der Verbrecher auf Erden seiner Strafe entrinnt, so ist ihm dieselbe damit doch keineswegs erlassen. Das Gewissen spricht, ob auch alle anderen Stimmen schweigen, zu ihm mit dem Posaunenschall des letzten Gerichts, um so lauter, je stiller und unangefochtener äußerlich sein Leben dahingeht. Er ist bestraft, er ist verurteilt schon in dieser Stunde, das muß uns, die wir den teuren Toten beklagen, wenigstens einigermaßen trösten.«
Der Redner hatte geendet, und unter den Klängen eines neuen Chorals wurde der Sarg hinabgelassen in die Gruft. Einer nach dem andern traten die Herren des Gefolges vor, um eine Handvoll Erde auf die Blumen da unten hinabfallen zu lassen, auch Manfred Trevor bückte sich und nahm etwas Staub vom Boden.
Der Mann war so blaß wie eine Leiche, seine Augen blickten starr, der feine Sand rieselte zwischen seinen Fingern auf die Erde, ohne daß er es bemerkte. Er stand wie jemand, der nicht weiß, was nun der nächste Augenblick ihm bringen werde.
Dann schob eine Hand mit sanftem Zwange den gänzlich Fassungslosen vorwärts. »Ermannen Sie sich, Mr. Trevor! Bei Gott, die ganze Stadt trauert mit Ihnen!«
Er hörte kaum die Worte, er fühlte nur, daß jetzt die letzte Pflicht gegen den Verstorbenen nicht länger hinausgeschoben werden könne. Schwankenden Schrittes, tastend wie ein Blinder, erkletterte er den von der aufgeworfenen Erde gebildeten Hügel mit den Brettern der Arbeiter, dann streckte er die Hand aus, ohne zu bemerken, daß sie leer war.
»Papa!« flüsterte Philipp. »Willst du nicht etwas Erde aufnehmen?«
»Ja! Ach ja!«
Mr. Trevor bückte sich hart am Rande der offenen Grube, er verlor das Gleichgewicht und stürzte ausgleitend, mit den Füßen voran, hinab auf den Sarg. Eine Wolke von Sand flog nach, mehrere Kränze wurden gewaltsam zerrissen, – ehe eine Minute verging, hatte der Knecht des Totengräbers eine Leiter herbeigeholt und in die Gruft gestellt, vier oder sechs Hände streckten sich aus und halfen dem halbbetäubten Manne an die Oberfläche der Erde. Man klopfte ihm den Staub von den Kleidern und führte ihn, der vor Schreck nicht zu sprechen vermochte, aus der Nähe des Grabes; dann, als die Herren des Gefolges ihrer Pflicht genügt hatten, kam die ganze Schar der Neger an die Reihe. Wie sie alle weinten und schluchzten, die armen Schwarzen, wie sie die Blumen auf dem Sargdeckel begruben unter der Erde, die als letztes Liebeszeichen hinabfiel in das düstere Haus des Todes!
Zusammengeworfen auf einen Haufen, verglühten die Fackeln und bedeckten mit purpurnem Schimmer rings im weiten Kreise den Himmel. Einer nach dem andern verabschiedeten sich die Gäste bei Manfred Trevor, der zusammengesunken in den Kissen des Wagens kauerte. Er mußte jedem ein Dankeswort sagen, mußte lächeln, obgleich seine Lippen zuckten, – wie ein Schleier lag es über dem Bewußtsein des aufgeregten Mannes.
Ein böses Zeichen, der Sturz in das offene Grab. Ob er bald dem Vorausgegangenen folgen mußte? Jetzt, nun er über Hunderttausende verfügte?
Ein Schauer durchrieselte seine Glieder. »Nicht sterben! Nein, nicht sterben!«
Der Wagen hatte sich in Bewegung gesetzt, die Pferde griffen tüchtig aus; zuweilen fiel durch das Gezweig der Bäume ein Mondstrahl in das Innere der Equipage, bläuliches Licht traf die Gesichter des Vaters und des Sohnes, wie sie so stumm einander gegenübersaßen, beide blaß und ernst, ohne ein einziges Wort zu sprechen.
Selbst jetzt nicht. Manfred Trevor fühlte, daß ihm sein Sohn mißtraue, daß er ihn vielleicht gar verachte, – und das erste Wort zur Wiederaussöhnung wollte er nicht geben.
Zu Hause auf Seven-Oaks warf sich Mr. Trevor tödlich erschöpft in den Schaukelstuhl, er trocknete die heiße Stirn und trank ein Glas Wasser nach dem andern. Ob es eine Bedeutung hatte, daß er in das Grab hineinfiel?
Pah! Die Erde lag lose gehäuft, das war das Ganze.
Und doch, er hatte das Murmeln ringsumher wohl bemerkt. Sie dachten alle an ein schlimmes Vorzeichen.
Er schauderte, es fiel ihm wieder ein, was der Redner am Schlusse seines Vortrages gesagt hatte. ›Der Schuldige ist verurteilt, schon in dieser Stunde.‹
Er fuhr mit der Hand durch das Haar. Mußte denn unbedingt geschehen, was gerade dieser Mann behauptete? Weshalb? Es war ein Zufall, daß die Erde nachgab; wer gerade an der gefährdeten Stelle stand, mußte notwendig hinabstürzen.
Wieder trank er kaltes Wasser; die unsicher tastende Hand fuhr in die Brusttasche, um das dort versteckte Dokument zu befühlen, aber wie von einer Schlange gebissen, zog sie sich zurück. Die Tasche war leer.
Der kaum getrocknete Schweiß stand schon wieder in großen Tropfen auf des erschreckten Mannes Stirn. Sollte er das Paketchen im Hausrock vergessen haben?
Ein einziger Sprung brachte ihn zur Wand, er ließ sich nicht so viel Zeit, um die Taschen zu untersuchen, sondern drückte und fühlte von außen, – alles leer!
Jedes Haar auf seinem Haupte begann sich zu sträuben. Wo war das Testament?
Er suchte nochmals, er kehrte jede Tasche um, er stürzte in den Schuppen und befühlte alle Polster der Equipage – umsonst, das Dokument war nicht zu finden.
Zum Tode ermattet kam er wieder in sein Zimmer. Es drehte sich alles mit ihm im Kreise, seine Gedanken arbeiteten nicht mehr, er war wie vernichtet.
Das Papier, an dessen Vorhandensein sich die Entscheidung knüpfte, das Papier, welches Tod und Leben in seinem Schoße barg, – es war fort.
Vielleicht in das Grab gefallen?
Ein neues Grauen rieselte durch Mr. Trevors Adern. In das Grab des Mannes, dessen letzten Willen er durchkreuzt hatte? – Streckte der Tote so gleichsam die Hand aus, um ihn auf seinem Wege anzuhalten?
Vielleicht lag ja auch das kleine Paket auf dem Wege, irgendwo zwischen Gras und Gebüsch, – vielleicht hatte es der Totengräber gefunden.
Bei diesem Gedanken richtete sich Manfred Trevor plötzlich auf. Er mußte hinaus, ganz allein, und ohne Säumen, kein fremder Blick durfte das Dokument sehen.
Freilich, das Ganze war in Wachstuch eingeschlagen und versiegelt, es trug seine, Manfred Trevors Adresse, aber konnte nicht auch ein unredlicher Mensch es finden und öffnen? – Er hätte diesen Unbekannten, diese nur geahnte Persvu zwischen seinen Fäusten erdrosseln mögen.
Ralph bekam die Weisung, sogleich den leichten Wagen zu bespannen und fünf Minuten später war Mr. Trevor wieder auf dem Wege zum Kirchhof. Nur dort konnte das Paket aus der Tasche gefallen sein, – nur dort. Aber wie viele Hunderte von Personen hatten sich zugleich mit ihm in der Nähe des Grabes befunden! Bettler in Scharen, Kinder, Neger, das Gesindel, welches den vornehmen Beerdigungen nachläuft.
Jede dieser Persönlichkeiten konnte das kleine längliche Paketchen entdeckt und aufgehoben haben. Vielleicht lasen gerade jetzt begierige Blicke den Inhalt und ein spekulativer Kopf überschlug, wie viel Vorteil für ihn selbst bei der Sache herausspringen werde.
»Schneller! schneller!« gebot aus dem Innern des Wagens die heisere, ärgerliche Stimme.
»Sir, – es ist unmöglich. Das Pferd läuft rascher, als ich jemals gefahren habe.«
Mr. Trevor antwortete nicht, er zählte die Minuten. In einiger Entfernung von der Kirchhofspforte ließ er halten und ging zu Fuß den Weg bis an die grüne Hecke, welche das Gebiet des Todes umgab. Das Eisengitter war geschlossen, hier konnte er nicht hinein, aber irgendwo würden sich ja die Gebüsche teilen lassen, irgendwo mußte, es mochte kosten was es wolle, ein Durchgang gefunden werden.
Die weißen Leichensteine schimmerten im Mondglanz, verwelkte Kränze rauschten leise, hie und da stand mit großen Lettern ein Spruch, der sich den Blicken des einsamen Mannes so recht dreist aufzudrängen schien. »Selig sind die Gerechten, denn sie werden Gott schauen.« »Es ist dem Menschen gesetzt, zu sterben, und nach dem Tode das Gericht.«
Endlos dehnte sich das Gräberfeld, zuweilen rückten die Leichensteine ganz nahe heran an die Umfriedigung, sie schienen den Zutritt versperren zu wollen, dann wehte über eine leere Fläche der Nachtwind, irgend ein Vogel flog lautlosen Fluges vorüber – –
Die Stelle, an welcher sich die Hecke auseinanderbiegen ließ, war gefunden, wahrscheinlich ein Schlupfloch für Blumendiebe, für solche, die nächtlicher Weile fremde Gräber ausplündern. Manfred Trevor zwängte sich hindurch und flog zwischen den Leichensteinen dahin bis zur Eingangspforte; von hier aus verfolgte er den noch ganz mit Blumen bestreuten Weg zum Grabe seines Vetters. Unruhig spähten nach rechts und links die Blicke, unruhig schlug in der Brust das Herz. Wie unzählig viele Füße hatten in dem losen Sande ihre Spuren zurückgelassen!
Dort lag das Grab, – Manfred fühlte, wie ihm kalte Schauer durch alle Adern rieselten. Er wagte es, hinzusehen, die Grube war bereits ganz mit Erde gefüllt, Bretter und Seile hatten die Knechte schon hinweggeräumt.
Jedes Steinchen am Wege schob sein Fuß bei Seite, jeden Zweig der umgebenden Gebüsche. Er suchte und suchte, bis ein Schwindel seine Sinne ergriff, – vergebens.
Jetzt gab es nur noch eine einzige Hoffnung, und auch diese schien sehr zweifelhaft. Man mußte bei dem Totengräber Erkundigungen einziehen.
Wieder ging Mr. Trevor an der Außenseite der Hecke den ganzen Weg zurück bis zum Häuschen am vorderen Eisengitter; hier klopfte er, um Einlaß zu erhalten.
Nach einer längeren Weile öffnete sich ein Parterrefenster, eine Hand, mit dem Revolver bewaffnet, kam zum Vorschein, und eine Männerstimme fragte: »Wer ist da?«
Mr. Trevor trat näher. »Machen Sie einen Augenblick auf, Sir, ich wünsche mit Ihnen zu sprechen und verlange nichts umsonst.«
Der Totengräber beugte sich aus dem Fenster. »Ah!« rief er, »der Gentleman, welcher in das Grab stürzte!«
Mr. Trevor nickte erbleichend. »Derselbe, Sir! Sie werden mir hoffentlich Gehör geben!«
»Gewiß, sogleich!«
Die Hausthür wurde geöffnet und Manfred konnte eintreten, er stand jetzt bei dem Scheine der Lampe dem Bewohner des Häuschens Auge in Auge gegenüber, er legte die Hand schwer auf dessen Schulter. »Wollen Sie mir eine Frage beantworten, Sir? Aber der Wahrheit gemäß!«
Ein erstaunter Blick begegnete dem seinigen. »Sprechen Sie, Sir,« war die Antwort. »Ich werde sagen, was ich weiß!«
»Gut denn! Ist Ihnen ein kleines, in Wachstuch eingeschlagenes Paket eingeliefert worden? Ich glaube, es hier verloren zu haben.«
»Wo? Bei dem unglücklichen Zufall am –«
»Nein, dort auf keinen Fall, ich hatte es später noch in der Hand. Aber bei dem Einsteigen in den Wagen, – es ist mir, als sei mein Rock an der Thür hängen geblieben. Sollten Sie wirklich nichts gefunden haben?«
»Nichts, Euer Ehren, ich schwöre es!«
Manfred fuhr mit der Rechten über seine Stirn. »Das ist mir sehr fatal,« sagte er halblaut, heiser und klanglos sprechend, – »es waren Briefe in dem Paket, Dinge, die nur für mich selbst einen Wert besitzen, aber doch – –«
Und er schüttelte den Kopf, wie es schien, unfähig, noch ein Wort hervorzubringen.
Der Totengräber sah ihn an. »Wissen Sie auch ganz gewiß, daß das Päckchen nicht in die Grube gefallen ist, Euer Ehren? Ich könnte sonst –«
»Nein, nein, das ist unnötig, Sir!«
»So lassen Sie uns doch die Sache untersuchen, Mr. Trevor! Morgen mache ich dem Geistlichen eine Meldung, erwirke die Erlaubnis, das Grab wieder zu öffnen und den Sarg herauszunehmen, dann kann –«
Manfred unterbrach zum zweitenmale den dienstfertigen Mann. »Ich sage Ihnen ja, daß ich das Päckchen noch auf dem Wege zur Equipage in der Hand hielt, Sir! – Guten Abend jetzt, hier ist eine Kleinigkeit für Ihre Mühe.«
»Bitte, Euer Ehren, bitte! – Darf ich Ihnen einen Tropfen Wein anbieten, Sie sehen wirklich sehr schlecht aus!?«
Eine Handbewegung wies den Vorschlag zurück. Mit den schweren, müden Schritten eines Kranken ging Mr. Trevor zum Wagen, während ihm der Totengräber kopfschüttelnd nachsah. Da gab es noch Einzelheiten, die ihm verschwiegen wurden, so viel stand fest.
Manfred ließ sich ächzend in die Polster der Equipage fallen. Ihm graute vor dem Gedanken an eine nochmalige Eröffnung des Grabes, – die alte Furcht, die alten Zweifel umgarnten schon jetzt wieder seine Seele. Er sah allerlei Amtspersonen die Gruft umstehen und sah, wie die Spitzhacke des Totengräbers in das Paket hineinfuhr, um es gänzlich zu zerreißen. Die Papiere quollen heraus, die Namenliste der Schwarzen, Mr. Masons, des Notars Amtssiegel! –
Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Nein, nein, um keinen Preis durfte das Grab nochmals wieder geöffnet werden.
Er wollte schon morgen den schwersten, kostbarsten Stein kaufen und hinausbringen lassen, so eine Granitplatte, die den ganzen Raum überdeckt, – sie wiegt ihre tausend Pfund, sie ist von unberufener Hand nicht so leicht zu entfernen. –
Etwas beruhigt durch diesen Entschluß kam er gegen Morgen nach Hause. Wie kalt wehte ihm die eingeschlossene Luft entgegen, er schauderte fröstelnd zusammen. Hatte niemand nach ihm gefragt?
Toby riß seine großen, runden Augen vor Erstaunen noch weiter auf. »Jetzt, Sir?« fragte er. »Mitten in der Nacht?«
Mr. Trevor besann sich. Waren wirklich nur Stunden verflossen, seit er das kleine Paket vermißte? Ihm schien es eine Ewigkeit.
»Kommt jemand, um mit mir zu sprechen,« herrschte er, »so will ich augenblicklich geweckt werden.«
Dann begab er sich in sein Zimmer. Jetzt gehörte ihm jeder Raum des Hauses, er konnte überall kommen und gehen, wie er wollte, sämtliche Schlüssel befanden sich in seinen Händen. Langsam das Schlafgemach des Verstorbenen durchschreitend, suchte er das Arbeitskabinett und setzte sich an den Schreibtisch. Da drinnen lagen Banknoten und Goldmünzen, Obligationen im Werte von Hunderttausenden; Manfred schloß auf und ließ das alles durch die Finger gleiten. Wenn nun das unselige Testament noch ruhig in der Rocktasche gesteckt hätte, – wie glücklich wäre er gewesen!
Wenn! Wenn! – Aber irgendwo fehlt es ja immer; das unrechte Gut wird nicht zum Segen, mag es der Mensch auch anstellen, wie er will.
Manfred Trevor dachte wieder an den Redner und an die Worte, welche dieser über das offene Grab hingerufen: »Der Schuldige ist bereits verurteilt!«
Er ballte die Faust. »Es ist nicht wahr!« stammelten mit heiserem Tone die Lippen. »Es ist nicht wahr!«
Und dann sank er schwer in den Sessel zurück, eine Ohnmacht hatte seine Sinne umgarnt.
*
Zwei Tage waren dahingegangen, ohne irgend eine Änderung der Verhältnisse zu bringen. Eine Menge Personen aus der Stadt kamen zu Pferd und zu Wagen, um ihre Beileidsbezeugungen auszusprechen, aber Mr. Trevor empfing keinen Menschen, so daß sich auf dem Tische des Besuchszimmers die schwarzgeränderten Visitenkarten zu ganzen Stapeln häuften. Mr. Trevor war krank vor Aufregung; er horchte und horchte, er dachte nur immer an das verlorene, unersetzliche Dokument.
Als aber zwei Tage vergangen waren, wurde er ruhiger. Der etwaige Finder müßte sich jetzt schon gemeldet haben, jedenfalls aber ging es über eines Menschen Kräfte, noch länger hinter verhüllten Fenstern im Krankenzimmer zu sitzen und die Hände in den Schoß zu legen, – wenn es nur erst möglich war, die Farm zu verlassen und zur Stadt zurückzukehren, so kam manches in Vergessenheit, das jetzt fortwährend reizte und aufregte.
Mr. Trevor beobachtete heimlich seinen Sohn und Lionel. Die beiden Knaben verkehrten freundlich miteinander, wie immer; alle Versuche, sie zu trennen, waren erfolglos geblieben, es galt daher, jetzt den letzten Trumpf auszuspielen und diesen unsicheren Verhältnissen ein Ziel zu setzen. Lionel ritt den Ajax, er studierte und schoß nach der Scheibe; all' diesem wollte er ein Ende bereiten.
Jack Peppers, der Trapper, hatte sich verabschiedet und Lionel begleitete ihn eine Strecke Weges über die Farm hinaus, er seufzte, als er dem ehrlichen Burschen zum Lebewohl die Hand reichte. »Könnte ich mit Ihnen in die Wälder ziehen, Peppers,« sagte er. »Hätte ich irgend einen bestimmten Beruf! – So, wie ich jetzt lebe, kann es unmöglich länger bleiben.«
Der Trapper wandte sich ab. »Das wird es auch schwerlich, Sir! – Ich habe mit Bezug auf den Tod des ermordeten Mr. Trevor meine Aussagen vor dem Richter gemacht, das war alles, was ich für Sie thun konnte, – so viel wie nichts, fürchte ich. Sie müssen eben die Prüfung ertragen und hoffen, daß Ihr Recht doch eines Tages zur Geltung kommen werde.«
Lionel nickte. »Ich will mich bemühen, Peppers,« antwortete er. »Wer ein gutes Gewissen hat, der braucht ja nicht zu zagen.«
»Sicherlich nicht, Sir! Adieu! Adieu!«
»Leben Sie wohl, Peppers! Auf Wiedersehen!«
»Das hoffe ich. Gott sei mit Ihnen, junger Herr!«
Sie trennten sich mit freundschaftlichem Händedruck und Lionel ritt langsam zur Farm zurück. Ob es heute zum letztenmale geschah? – Mr. Trevor stand am Fenster und sah ihm entgegen, dann wandte er sich plötzlich ab, gewiß, um zu befehlen, daß der Ajax für seinen bisherigen Besitzer nie wieder gesattelt werden dürfe.
Lionel unterdrückte einen Seufzer. Ein Reitpferd zu haben war ja sicherlich keine Notwendigkeit, er konnte es ohne Kummer entbehren.
Als er dem nächsten besten Schwarzen das Tier überliefert hatte, kam einer der Hausdiener und brachte ihm den Befehl, sogleich in Mr. Trevors Arbeitszimmer zu erscheinen. Auch Ralph wurde herbeigerufen.
Des Pferdes wegen, dachte Lionel.
Als Ralph ihm auf der Treppe begegnete, sah er das verstörte Aussehen des Alten. »Sir,« flüsterte der Schwarze, indem er die Hand des Knaben ergriff und fast krampfhaft drückte, »mein armer Massa Lionel, jetzt kommt das Unglück, jetzt bricht es herein. Gott, der Allmächtige stehe Ihnen bei!«
Lionel schüttelte voll Erstaunen den Kopf. »Weil mir der Ajax entzogen wird, Ralph?«
»Ach, Sir, Sir, – denken Sie doch nicht an das Pferd! Beten Sie! Beten Sie! daß Ihnen die Verzweiflung nichts anhaben möge.«
Jetzt war die Thür des Arbeitszimmers erreicht und dadurch jede fernere Auseinandersetzung abgeschnitten. »Möchte mich Mr. Trevor doch noch heute abend gehen heißen,« dachte Lionel, »ich werde schon Arbeit finden. Dieser Zustand des Hangens und Bangens ist unerträglich.«
Er klopfte und Mr. Trevors Stimme rief mit herrischem Tone: »Herein!« – Dann öffnete sich die Thür, um den Knaben und den Neger eintreten zu lassen. Am Fenster des Zimmers stand Philipp, wie es schien, einem erhaltenen Befehle gehorchend, blaß und unruhig, mit nervös zuckenden Händen; er begrüßte Lionel nur durch einen schnellen Blick, dann sah er vor sich hin wie jemand, der eine böse Botschaft erwartet.
Mr. Trevor saß am Schreibtisch, er hielt in der Hand einen Bleistift, mit dem er allerlei Figuren auf ein Blatt Papier kritzelte, sein Gesicht war fahl wie eine graue verwitterte Wand, in den Augen glühte ein spöttisches, schadenfrohes Leuchten.
Jetzt sah er auf. »Da bist du ja, Lionel,« sagte die harte, unfreundlich klingende Stimme. »Ich habe dir eine Mitteilung zu machen.«
Unser Freund blieb vollkommen kalt. »Ich höre, Sir!«
Mr. Trevor sandte ihm einen stechenden Blick. »Es wird bald ein anderer, minder unverschämter Ton zum Vorschein kommen, denke ich! Du wolltest ja gern erfahren, wer deine Eltern gewesen sind, nicht wahr, Bursche?«
Lionel fühlte die Schläge seines Herzens bis in den Hals hinauf. Daß jetzt eine unliebsame Mitteilung erfolgen mußte, hätte auch der befangenste Blick erkennen können. »Ich bitte um Auskunft, Sir!« sagte er ruhig.
»Die soll dir werden. Dein Vater – –«
Ralph hob die gefalteten Hände zu seinem Gebieter empor. »O, Sir!« bat er, »Sir! seien Sie barmherzig! – Es könnte ihn töten!«
»Ralph, Ralph, – o, um Gotteswillen, was sagst du da? Welcher Schimpf knüpft sich an den Namen meines Vaters?«
Und Lionel ging raschen Schrittes bis an den Schreibtisch. »Mr. Trevor, sagen Sie mir in dieser Stunde alles! Ich bin erwachsen, ich habe ein Recht, die Angelegenheiten meiner Eltern kennen zu lernen. Was ist es, das mir Ralph aus Schonung vorenthalten möchte?«
»Ralph hat zu schweigen, bis er gefragt wird, oder ich lasse ihn auspeitschen! – Und du, mein Bursche, nimm die Botschaft, nach der sich deine Seele so sehr sehnt! – Dein Vater war Malcolm Forster, der Sklave eines Farmers in Kentucky, deine Mutter das Kammermädchen Jane, die Sklavin der verstorbenen Mrs. Charles Trevor; – so, nun kennst du das Geheimnis deiner Geburt.«
Ein Schrei durchdrang die Stille des Zimmers, Philipp hatte ihn ausgestoßen. »Vater! – O, um Gotteswillen, Vater!«
»Du schweigst!« befahl Mr. Trevor.
Lionel hatte keinen Laut hervorgebracht; so sehr er sich auch bemühte, seine Fassung äußerlich zu bewahren, so wenig gelang ihm das in diesem verhängnisvollen Augenblick. Als er endlich sprach, bebte seine Stimme vor Erschütterung.
»Meine Eltern waren Quarterons, Sir?«
»Beide, ja!«
»Und nicht frei, nicht –«
»Beide das Eigentum weißer Herren!«
Lionel strich über seine Stirn, als werde es ihm plötzlich zu heiß. »Demnach bin ich ein Sklave, Sir? – Ihr Sklave?«
»Der meines Sohnes, ja!«
»O Lionel,« rief Philipp, »Lionel, du wirst immer nur mein Bruder sein!«
Mr. Trevor ließ den Einwurf unbeachtet. »Der Neger Ralph ist aus Kentucky mit meinem verstorbenen Verwandten, Mr. Charles Trevor hierhergekommen,« fuhr er fort, »ihm sind alle diese Verhältnisse aus der Erinnerung bekannt, er kann dir daher das Gesagte bestätigen und mir zugleich bezeugen, daß du, wie alle Farbigen auf Seven-Oaks, meines Sohnes Eigentum bist.«
Lionel nickte. »Machen wir es kurz, Sir,« sagte er, alle seine Kräfte zusammenraffend, todesblaß, aber ruhig. »Sie wollen mich verkaufen?«
Philipp fuhr plötzlich auf. »Nein!« rief er, »nein, das soll nie geschehen! Vater, Vater, du kannst unmöglich in meinem Namen ein empörendes Verbrechen begehen wollen!«
Mr. Trevor lächelte kalt. »Ich bin dein Vormund,« versetzte er, »und als solcher dem unmündigen Knaben keine Rechenschaft schuldig. Der ganze Bestand an Farbigen wird morgen in der Stadt zur Auktion gebracht, – also natürlich auch der Sklave Lionel. Ich ziehe es vor, in Richmond weiße Dienerschaft zu halten.«
Philipp trat an der Krücke seinem Vater näher. »Du wirst diesen Entschluß nicht ausführen!« rief er mit funkelnden Blicken.
»Ich werde einen Schlingel, der sich gestattet, mich hofmeistern zu wollen, mit Ohrfeigen bestrafen, – merke dir das, mein Bürschchen!«
Philipp nickte. »Das kannst du, Vater, – ein Verbrechen auf das andere häufen, eine Grausamkeit auf die andere, aber – die Folgen werden nicht ausbleiben. Willst du, daß ich dich fernerhin achte, so lasse mich von einem Verkaufe der Schwarzen nicht wieder hören und schreibe für Lionel noch in dieser Stunde den Freibrief.«
Mr. Trevor deutete zur Thür. »Ralph und Lionel,« sagte er, »ihr könnt jetzt gehen. Du, Ralph, sagst den Leuten, daß sie sich sämtlich in Bereitschaft halten, morgens neun Uhr den Weg zur Stadt anzutreten. Seine persönlichen Kleidungsstücke darf jeder von ihnen mitnehmen, aber weiter natürlich nichts.«
»Ja, Sir!«
Ralph zog den halb bewußtlosen Lionel mit sich fort und aus dem Hause. Während Mr. Trevor und sein Sohn Auge in Auge einander gegenüberstanden, während sie unbelauscht harte und erschütternde Worte wechselten, suchte der Neger den Knaben nach Möglichkeit zu trösten. »Es ist ja anzunehmen, daß Sie ein recht erträgliches Leben bekommen, Sir! – lassen Sie nur nicht gleich den Kopf hängen. Vielleicht kauft Sie ein Advokat oder gar ein Richter, um den teuren weißen Schreiber zu ersparen. Ein Sklave, der die Hochschule besucht hat, wird wahrhaftig nicht alle Tage gefunden, Ihr Los ist daher weit günstiger, als das Ihrer Genossen.«
Lionel seufzte, aber er hatte sich doch selbst wiedergefunden, sein Stolz war erwacht. »Ralph,« sagte er, »du sollst sehen, daß ich trotz meiner Jugend ein Mann bin. Was das schwarze Volk seit Jahrhunderten durchlitten hat, das wird auch für meine Schultern nicht zu schwer wiegen. Aber eins bitte ich dich, Alter! Erzähle mir in dieser Stunde die Geschichte meiner Eltern!«
Der Neger nickte. »Gehen Sie mit mir, Sir! Ich muß Mr. Trevors Botschaft ausrichten.«
Die wenigen Worte wirkten auf das verwundete Innere des Knaben wie eine heilkräftige Medizin. Alle diese Armen, die verheirateten Leute, welche nun von den Ihrigen getrennt werden sollten, die Väter und Mütter, deren Kinder man verkaufen wollte, – waren sie nicht viel, viel unglücklicher als er selbst, dessen Jugend wenigstens jedes körperliche Ungemach leichter ertrug, dessen höhere Bildung ihm eine bessere, angenehmere Beschäftigung verhieß?
»Komm, Ralph,« sagte er rasch, »wir wollen die Armen trösten!«
Auf dem Hofe sahen ihnen schon unruhige, angstvolle Gesichter entgegen. Die böse Botschaft hat Flügel, sie war auch hier ihrem Träger vorausgeeilt. »Nun, wie steht es?« fragte die alte Köchin. »Mich kann der Herr ja doch ganz gewiß nicht entbehren!«
Ralphs Gesichtsausdruck mochte die Unglückliche aber doch erschrecken, sie trat näher herzu und auch andere umringten von allen Seiten den Abgesandten des grausamen Herrn. »Sprich, Ralph, sprich nur! Was ist beschlossen? Wann werden wir verkauft?«
Und als er es ihnen mitgeteilt hatte, da brach der Jammer los. Die Frauen rangen ihre Hände, sie weinten laut, jede einzelne hatte einen besonderen Grund, weshalb sie glaubte, ganz unmöglich vertrieben werden zu können.
»Meine Kinder haben den Husten!« rief eine. »Die kleinen Lieblinge würden sterben, wenn man sie aus ihren Betten nehmen wollte.«
»Und ich selbst bin so krank, so krank! – Morgen kann ich gewiß nicht aufstehen!«
»Und unsere Sachen?« fragte ein Mann. »Mr. Trevor hat uns Tische und Stühle, Betten und Schränke geschenkt, in jeder Wohnung ist sogar eine Uhr. Sollen wir das alles verlieren?«
Ralph wandte sich ab. »Ich fürchte, ja, meine Freunde!«
»O, Massa Lionel, Massa Lionel, bitten Sie für uns!«
Der Knabe und Ralph sahen einander an. Niemand von den Negern ahnte, was der Vertraute des toten Gebieters von je her gewußt hatte, ja, als es nun bekannt wurde, da schien die traurige Thatsache den Armen am Geiste das eigene unselige Schicksal nur noch zu erschweren. Sie kamen und küßten die Hände des Knaben, sie weinten bitterlich. »O, Massa Lionel, Massa Lionel, das ist zu schrecklich, zu betrübend!«
Eine Verwirrung, eine Trostlosigkeit ohne gleichen hatte sich der ganzen Schar bemächtigt, einige schnürten ihre Kleidervorräte in Bündel, so gewissermaßen das Einzige umklammernd, welches sie auf Erden ihr Eigentum nannten, andere saßen schluchzend zwischen ihren schluchzenden Kindern, während die Männer meistens in dumpfem Groll beisammen standen und das Unglück widerstandslos über sich hereinbrechen ließen.
Aus einer der Hütten klangen die Töne eines Chorals. Wenn der verstorbene Mr. Trevor an einem seiner Neger ein musikalisches Talent entdeckte, so ließ er es zum Vergnügen aller ausbilden und hatte es dahin gebracht, eine ganze Hauskapelle zu besitzen, die bei ernster oder lustiger Gelegenheit ihre Klänge erschallen ließ. Jetzt spielten die Leute einen Choral und um ihre Hütte her scharten sich die weinenden Frauen, – ungeübte, von Thränen erstickte Stimmen sangen die Worte mit, trauernde Herzen fühlten sich beruhigt durch die Macht der religiösen Tröstung.
Auch Ralph und Lionel sangen. Oben am Fenster erschien ein blasses Jünglingsantlitz, magere, weiße Hände lagen krampfhaft gefaltet ineinander und große Thränen perlten in den blauen Augen.
»Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, daß meine Seele an diesem Verbrechen keinen Teil hat!« – –
Ralph zog den Knaben mit sich in seine Hütte. »Kommen Sie, Sir,« sagte er, »vielleicht ist dieser Abend der letzte, den wir miteinander verleben.«
Lionel folgte seufzend. »Auch das noch!« rang es sich aus seinem erschütterten Herzen. »O, großer Gott, sieh gnädig auf deine schwarzen Kinder herab!« –
Der Choral verhallte und im Dämmerschein des hereinbrechenden Abends saßen Ralph und Lionel nebeneinander, beide sehr ernst, aber jetzt doch ruhig, besonders der Knabe, dem es wie ein Unrecht erschien, angesichts so großen Jammers an das eigene Ich zu denken.
»Du wolltest erzählen, alter Ralph!« drängte er. »Bedenke, daß ich bis heute von meinen Eltern nicht das geringste erfuhr.«
»Ich habe sie beide gekannt,« nickte der Neger. »Meines Herrn Besitztum und das der Familie Forster stießen aneinander, – Sie wissen ja doch, daß der Sklave keinen Familiennamen führt, sondern nach dem seines Eigentümers genannt wird –, nun wohl, auf der einen Plantage lebte als eine Art von Gesellschafterin der Tochter des Hauses, ein Mittelding zwischen Dienstbotin und Vertrauten die hübsche Quarterone Jane, – Ihre Mutter, Sir! Mein Gebieter war damals ein junger Mann, der Miß Forster, die Tochter seines Grundnachbarn, zu heiraten wünschte und daher auf der Farm ihres Vaters viel verkehrte. So kam es, daß auch Malcolm, sein Oberaufseher, manches Mal hinüberritt und wie sich die jungen Herrschaften ihre künftige Heimstätte einrichteten, auch seinerseits daran dachte, die zierliche Jane zum Weibe zu erhalten.
»Mr. Trevor hatte, leutselig wie er war, nichts dagegen einzuwenden, auch Miß Forster, die Eigentümerin des Mädchens nicht, aber der alte Gentleman, Mr. Forster, machte beinahe einen Strich durch die Rechnung, er wollte unter jeder Bedingung den jungen Malcolm kaufen, während mein Gebieter ebenso dringend wünschte, ihn zu behalten. Der Sklave hatte die Aufmerksamkeit des alten Herrn Forster in hohem Grade erregt, weil er ein besonders tüchtiger Landwirt war, dem die Bestellung der Felder, die Pflege der Herden und so weiter, ganz allein übertragen werden konnte; Mr. Forster als gänzlich gelähmter Mann mußte alles fremden Leuten in die Hände legen und so klammerte er sich mit dem Eigensinn des Alters an den Gedanken, gerade diesen Sklaven als Eigentum zu erlangen. Malcolm sollte sein Verwalter werden, oder Mr. Trevor erhielt einen Korb.
»Als die Dinge so weit gediehen waren, wirkten alle Beteiligten mit vereinten Kräften auf meinen Gebieter, um ihn zum Nachgeben zu bewegen. Er wollte keinen Menschen verkaufen, darin ist er seinen Grundsätzen bis in den Tod treu geblieben, aber er ließ sich auf Malcolms eigene Bitten bestimmen, diesen dem alten Mr. Forster zu schenken und so wurde denn die Doppelhochzeit mit Glanz und Jubel gefeiert, es vergingen Jahre, in denen bei der Herrschaft sowohl als bei den Sklaven das Glück mit immer gleicher Treue zu lächeln schien, – dann brach das Verhängnis herein.
»Unter den Negern unseres Haushaltes erschien der Typhus; die junge Frau Trevor ging in Begleitung ihres Mannes von Hütte zu Hütte, um die Kranken zu pflegen, dabei wurde sie angesteckt, übertrug den gefährlichen Stoff auch auf ihre beiden Kinder und starb, während diese mit dem Tode rangen. Mein armer Gebieter mußte alles, was er lieb gehabt hatte, auf einmal verlieren, während auch das Lebensglück Ihrer bis dahin so zufriedenen Eltern in schrecklicher Weise zerstört wurde.«
Lionel horchte auf. »Mein Vater starb?« forschte er.
»Nein, Sir, es war etwas anderes. Der alte Mr. Forster hatte schon längst das Zeitliche gesegnet und an seiner Stelle verwaltete die Farm sein einziger Sohn, ein Lebemann, der bis dahin nichts verstanden hatte, als die Einkünfte des Gutes in den großen Städten zu verschleudern. Er kannte von der Landwirtschaft nichts und so kam es denn, daß zwischen ihm und Malcolm jeden Augenblick neue Streitigkeiten ausbrachen, bis sich der junge Mr. Forster eines Tages so weit vergaß, seinen Sklaven einen Betrüger zu nennen. ›Hund!‹ schrie er ihn an, ›du stiehlst mir die Hälfte des Ertrages, du bist ein Spitzbube, den ich auspeitschen lassen werde!‹«
Lionel ballte die Faust. »Und das ließ sich mein Vater bieten?« rief er.
»Leider nein, Sir! Er schlug seinem Beleidiger die Reitpeitsche um die Ohren, er, der Sklave, dem Gebieter!«
Lionels Augen funkelten vor Freude. »Bravo!« rief er. »Bravo, mein armer Vater, ich hätte es gemacht wie du!«
Ralph wiegte den Kopf. »O Sir, Sir, die Heftigkeit thut nimmer gut! Mr. Forster sann auf Rache, er ließ seinen Sklaven weder peitschen, noch in das Gefängnis werfen, aber er verkaufte den, dessen ganze Seele an Frau und Kind gefesselt war, heimlich nach Brasilien. Erst, als sich an dem Geschehenen nichts mehr ändern ließ, erfuhr Mr. Trevor, wo der unglückliche Malcolm geblieben war, er machte seinem Schwager eine heftige Szene und setzte sogleich alle Hebel in Bewegung, um den Verbannten zurückzurufen, aber vergebens. Malcolm war kurz nach der Ankunft in jenem heißen Lande gestorben und so ließ sich natürlich für ihn nichts mehr thun. Wie ich schon neulich sagte, – die arme Misses Jane grämte sich ihrem Manne nach in das Grab und so standen Sie selbst nun als sechsjähriges Bürschchen ganz allein in der Welt, oder hätten doch auf Erden keinen Freund gehabt, wenn nicht Mr. Trevor in seiner Herzensgüte für Sie eingetreten wäre. Damals war ihm die Stätte, an der er Frau und Kinder so jäh verloren hatte, einigermaßen unheimlich geworden, die Bilder der glücklichen Vergangenheit standen immer vor seiner Seele und ließen die Gegenwart nur um so trostloser erscheinen, er verkaufte daher das Gut und ging ganz aus Kentucky fort, um hierher nach Seven-Oaks überzusiedeln. Nur Sie und ich haben ihn begleitet, nur ich wußte, daß der kleine Bursche mit dem blonden Haar und der weißen Haut doch in seinen Adern einen Tropfen afrikanischen Blutes trug. Mr. Trevor liebte Sie, die Waise, wie ein eigenes Kind, je länger, desto inniger, er wollte Ihnen sein ganzes Eigentum hinterlassen, Sir! Seven-Oaks gehört Ihnen und wenn auch jetzt die Bosheit siegt, wenn Sie bestohlen und in das Elend gestoßen werden, so ist das doch nicht für immer. Der Tag kommt, an dem das Recht triumphiert, davon bin ich fest und teuer überzeugt!
Lionel drückte ihm die Hand. »Meine armen Eltern!« sagte er. »Wie mag mein Vater gelitten haben! Fortgeschleppt bei Nacht, gebunden wie ein Opfertier! – O Ralph, Ralph, muß nicht der Rächer auferstehen, um dem schwarzen Volke zu helfen, – endlich! endlich!«
»Amen, Sir! Amen!« – –
Sie schwiegen beide, draußen dämmerte es vollständig, auf dem weiten Hofe war niemand mehr zu sehen, da hörte Lionel, wie eine Stimme leise seinen Namen flüsterte.
»Massa Fili ist's!« seufzte Ralph.
Lionel erhob sich. »Ich sage dir noch gute Nacht, Alter! Einen Augenblick!«
Und geräuschlos schlüpfte er hinaus.