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Mit Zügen, die geistige Ermüdung verrieten, trat Hohenfels in sein Zimmer, erschloß einen Sekretär, legte ein Paket Papiere in ein Fach desselben und warf sich dann in die Ecke des Sofas. Er mochte einige Minuten mit halbgeschlossenen Augen hier gesessen haben, als das Öffnen der Tür ihn aufblicken ließ. Es war Eduard, der den Oheim besuchte. Der junge Mann schritt einige Male im Zimmer auf und nieder, dann sagte er zu Hohenfels:
»Du fühlst dich beleidigt, Onkel, gesteh es, aber du wirst mir das Zeugnis geben, daß ich keine Schuld trage.«
Hohenfels lächelte bitter. »Beleidigt?« erwiderte er. »Nein! Mich kann schon lange niemand mehr beleidigen; was mich bedrückt und wohl auch ängstigt, das ist viel schlimmer.«
»Noch schlimmer?«
»Ja, Eduard, für mich, nicht für euch. Ich bin überflüssig, unnütz, vielleicht im Wege.«
»Das sind finstere Einbildungen eines erregten Gemüts.«
»Keineswegs! Die Zeit der Illusionen liegt hinter mir, und wenn ich auch vielleicht heute noch nicht immer im gewöhnlichen Sinne praktisch bin, ein sinnloser Schwärmer brauche ich deshalb doch nicht gescholten zu werden!«
»Es hat dich niemand so genannt.«
»Nicht mit Namen, das ist wahr, die Bezeichnung aber galt mir und konnte nur mir ganz allein gelten!«
»Mir möglicherweise auch, Oheim.«
»Du bist gütig, Eduard, und dafür danke ich dir, dennoch muß ich die harten Worte, die in der heutigen Versammlung fielen, auf mich beziehen. Indes auch dies würde ich, wie so vieles verschmerzen, sähe ich nur irgendwo eine Aussicht.«
»Der Vater unterstützt ja deine Vorschläge.«
Hohenfels stand auf, ergriff den Arm seines Neffen und fuhr lebhaft fort:
»Dein Vater, mein Schwager, ist ein vortrefflicher, ein ausgezeichneter Mann. Sein kaufmännischer Blick schweift in die Ferne und hat für Großes, Neues, Sinn und Verständnis. Bei alledem aber geht ihm etwas ab, was ich überall an dem deutschen Kaufmann mehr oder minder vermißte, das Talent, den rechten Augenblick mit aller Kraft, rasch, die halbe Welt überrumpelnd, zu erfassen. Dein Vater ist bald für ein gewaltiges Unternehmen zu gewinnen, aber er beginnt es nicht. So war er immer, so war auch mein verstorbener Vater. Vor zwanzig und mehr Jahren mochte ich wohl zu ungestüm verfahren, bisweilen auch zu herausfordernd an andere herantreten, hätte mich aber damals dein Vater unterstützt, so würde höchst wahrscheinlich kein Bruch zwischen mir und dem Vater erfolgt sein, und mein ganzes Leben hätte sich anders gestaltet. Meinen Feuereifer mäßigen, zugleich aber meine Pläne unterstützen mußte damals Heidenfrei. – Nun sind zwei Jahrzehnte vergangen, Hamburg steht größer und mächtiger da, als zu Anfang des Jahrhunderts. Aber zum Henker, es soll sich jetzt auch rühren, sag ich! Es soll aufhören, immer nur in alten Gleisen seine Handelsschiffe fortgleiten zu lassen, was mir vorkommt, als ginge jemand stets in geflickten Schuhen, weil er neue ihrer anfänglichen Unbequemlichkeit wegen anzuziehen scheut.«
»Laß uns Zeit, Onkel, und wir tuns allen andern gleich.«
»Das ists eben«, erwiderte Hohenfels mit Heftigkeit. »Wer sich Zeit läßt, kommt immer zu spät. Napoleon hat das zwanzig Mal bewiesen. Nicht nachtreten, vorangehen muß jeder Unternehmende. Wenn ihr euch Zeit laßt, so verhungert ihr allerdings dabei nicht, aber ihr setzt euch in einen Bequemlichkeitsstuhl, während andere auf schnaubendem Rosse durch die Welt jagen! – Da ist nun eine Erfindung gemacht für den Reeder wie geschaffen. Er darf nur zugreifen, sich nur verbinden mit Mechanikern, Mathematikern, Chemikern, kurz, er darf nur das tun, was ich vor zwanzig Jahren bereits in Vorschlag brachte: die Wissenschaften und deren Entdeckungen für das Leben ausbeuten, und er stellt sich unter die größten Wohltäter der Menschheit! Überflügelt werden schmerzt, sich von andern überflügeln lassen, ist ein Verbrechen, ein Frevel gegen sich selbst. Wenn man jetzt noch behaupten kann, meine wohlgemeinten Vorschläge seien die eines ziellosen Träumers, so gibt man damit nur zu erkennen, daß man die Zeit nicht begreifen will. Das aber macht mich unglücklich und überflüssig.«
Die Unterredung wurde durch den Eintritt Ferdinands und Treufreunds unterbrochen.
»Warum habt ihr die Versammlung nicht abgewartet?« sagte Ferdinand Heidenfrei. »Es gab noch so viele Punkte zu erörtern, so viele Fragen zu beantworten.«
»Wenn man mir von Anfang an die Hauptfrage als ein Phantom bezeichnet, will ich nichts hören von den Nebenfragen«, erwiderte Hohenfels. »Konnte ich zu Worte kommen? War es möglich, meine Gedanken darzulegen, meine Ideen zu entwickeln?«
»Es wäre, glaube ich, möglich gewesen, wenn du Rücksicht genommen hättest auf die Mehrheit der Anwesenden. Praktische oder, wenn du lieber willst, prosaische, zuerst auf Gewinn begierige Naturen gewinnt man nie für eine Idee durch Herauskehren der ideellen Seite, zeigst du ihnen aber erst die praktische, die einträgliche Seite, und stützst darauf die kulturelle, dann wirst du Erfolg haben!«
»Lieber Gott, seid ihr denn gar keiner Begeisterung fähig?« warf Hohenfels ein. »Ich mußte mich immer erst für eine Sache begeistern können, ehe ich mich ihrer annahm, mich ganz an sie hingab.«
»Ich persönlich, bester Oheim«, versetzte der jüngere Heidenfrei, »begeistere mich gern, die Masse der kaufmännischen Welt jedoch ist nicht dafür, und das kann man ihr nicht verdenken.«
»Nicht verdenken!« wiederholte Augustin Hohenfels. »Ich verdenke es jedem, wenn er sich den Einwirkungen neuer Ideen verschließt.«
»Damit schadest du dir und dem Allgemeinen«, erwiderte Ferdinand in wohlwollendem Ton. »Die Menge ist nun einmal so geartet, daß sie von jedem Unternehmen reellen Nutzen haben will. Die Größe der Idee, an sich allerdings die Hauptsache, das eigentliche fruchttragende Kapital, erscheint doch den Meisten, gegenüber den blinkenden Zinsen, also der bereits gebrochenen Frucht, erst in zweiter Reihe. Klimpere mit den Zinsen, anstatt das Gold deines Gedankenkapitals mit vollen Händen auszuwerfen, und man ruft dir ein Hurrah über das andere.«
Hohenfels senkte seufzend das Haupt.
»Ich glaube beinahe, der Bruder hat Recht«, sagte Eduard. »Dein Gedankengold lockt nicht, es macht die Hellsehendsten blind. Du vergreifst dich, begeistert, wie du bist, der prosaisch rechnenden Mehrheit gegenüber, in den Mitteln, und das veranlaßt sie, völlig ungerechte Urteile über dich zu fällen.«
Niedergeschlagen und bekümmert stützte sich der leicht erregbare Mann auf Treufreunds Schulter, indem er sprach:
»Also unnütz, ein Störenfried aus Begeisterung! Man könnte darüber lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre.«
»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, tröstete Eduard.
»Ein leidiger Trost, der Trost des Nachahmers, nicht des Erfinders.«
»Du mußt aber doch selbst zugeben, bester Oheim, daß dein Plan, dessen Großartigkeit ich persönlich bewundere, auch seine bedenklichen Seiten hat«, meinte Ferdinand.
»Allerdings hat er sie, das leugne ich nicht. Alles Große ist bedenklich, wer aber immer bedenkt und vor lauter Bedenklichkeit nie zu einem Entschluß, viel weniger noch zu einer Tat kommt, der wird auch nie Großes vollbringen. Mißglücken kann freilich alles, auch das Beste, wer sich aber nie mutig aufrichtet, wird nie über die Mittelmäßigkeit hinauswachsen. Und das, nehmt mirs nicht übel, ihr Herren, das gerade ist mir in der Seele zuwider.«
»Mein Freund«, sagte Treufreund, »du hast dich durch die ersten Einwürfe zu sehr stören lassen. Ich sah es dir gleich an, daß du dich beleidigt fühltest und in dieser gereizten Stimmung wohl etwas zu weit gingst. Werde erst wieder ruhig, kühle dich ab, überlege selbst, gehe mit uns zu Rat, und dann lege noch einmal, aber vorsichtiger Hand ans Werk.«
»Nie!« rief Hohenfels. »Entweder sie fassen mich, wie ich es für gut finde, mich auszudrücken, oder ich behalte meine Gedanken für mich. Es kommt eine Zeit, ich weiß es, wo sich verwirklichen wird, was schon jetzt ausführbar wäre, sie wird aber erst dann eintreten, wenn die Ehre, der Glanz und Ruhm des Unternehmens gar viel an Schimmer verloren hat.
Und ich begnüge mich schon, wenn man mir so viel Humanität zutraut, daß ich einer Idee, von welcher mein ganzes Vaterland dereinst Nutzen haben wird, meine Lebenskraft zum Opfer bringen kann. Ist es denn zu viel verlangt, wenn ich wohlwollend, ratend sage: greift zu! Seid tätig, schart euch zusammen! Nehmt euch ein Beispiel an euern hansischen Vorfahren und erobert der Industrie und der Geistesherrschaft eures deutschen Vaterlandes durch einmütiges Handeln die transatlantische Welt, wie sich jene ehedem den Norden Europas untertan machten. Diese Weltaufgabe hat das Dampfschiff, und wenn die Reederei Geist besitzt und mittels dieses Geistes dem Kapital Seele verleiht, so wird sie materiell große Reichtümer erwerben und ideal das Reich der Bildung auf Erden ausbreiten helfen! Das ist meine sinnlose Idee. Mir ist sie lieb und teuer, und ich beklage nur, daß ich nicht Mittel besitze, um sie praktisch ins Leben zu rufen. Ich glaubte, diese Mittel zu finden, deshalb kehrte ich zurück. Wie es scheint, habe ich mich getäuscht. Glaubt jedoch nicht, daß ich einen einmal für gut erkannten Gedanken so leicht aufgebe. Ich werde damit hausieren gehen und ihn jetzt stückweise verwerten. Eines Tages finden sich die vereinzelten Stücke wohl wieder zusammen und dann gibt es, wenn ichs auch nicht mehr sehen kann, doch zuletzt noch ein leidlich gutes Ganzes.«
Hohenfels schwieg. Seine tief liegenden Augen glänzten und das gebräunte Gesicht strahlte von geistigem Feuer.
»Es ist einmal Erdenschicksal«, sprach Eduard, »daß wir nur zum Teil Zeugen der Schöpfungen sind, die unsern Anstrengungen ihre Entstehung verdanken. Wie viele Väter sehen ihre Kinder kaum sich entwickeln; was sie in der Reife ihres Alters, in der Fülle geistiger Kraft, schaffen, bleibt ihnen immerdar verborgen, und dennoch geht in Erfüllung, was sie in ihren Wünschen, diesen Embryonen zukünftiger Taten, schon fertig vor ihrem Geiste stehen sahen. So, bester Oheim, wird auch der Traum deines Lebens dereinst in einer schönen Tat den Nachgeborenen zur Erscheinung kommen.«
»Ich möchte es doch so gern erleben«, sagte Hohenfels. »Ist es Sünde, einen solchen Wunsch zu haben? Oder sollte es Eitelkeit, geistiger Dünkel sein, der mich ihn aussprechen, ihn nur hegen läßt?«
»Keins von beiden, mein edler Augustin«, sprach Treufreund, dem bewegten Manne die Hand drückend. »Du bist noch kräftig, und darum schließe ich mich deinem Glauben an und teile deine Wünsche. Erlebte auch ich noch den Tag, wo deutsche Reeder beide Hemisphären durch direkte Dampfschiffahrtslinien mit einander verbänden, dann wollte auch ich mich glücklich preisen und still zufrieden sterben.«
Hohenfels hielt die Hand des Freundes lange in der seinigen. Die Augen halb geschlossen, blickte er vor sich nieder und seine Gedanken schienen weit in die Ferne zu schweifen.
»Eins freut mich«, sprach er nach längerem Schweigen, »daß mein Sohn sich dem Seewesen widmen will. Er besitzt meine Energie. Was er sich vornimmt, das führt er zu Ende; was er einmal mit Liebe ergriffen hat, gibt er nicht wieder auf. Solche Menschen braucht unsere Zeit. Sie können von außerordentlichem Nutzen sein. Miguel, der glücklicherweise durch eure, besonders durch deine Vermittlung, bester Treufreund, wieder in den Besitz seiner Papiere gekommen ist, hat hoffentlich mehr Glück als ich, und so denke ich, wird er aus einem Matrosen, wie er sein soll, dereinst auch ein Kapitän werden, dem jeder Reeder ein Seeschiff unbedenklich anvertrauen darf.«
Die beiden Freunde hatten es nicht beachtet, daß während ihres leise geführten Gedankenaustausches die Brüder abgerufen worden waren. Jetzt trat abermals ein Diener ein und meldete, daß Herr Heidenfrei sich unwohl fühle und seinen Schwager sogleich zu sprechen wünsche.
»Heidenfrei kann sich unmöglich mehr alteriert haben, als ich«, sagte Hohenfels rasch aufspringend. »Aber er ist an so starke Dosen heftiger Aufregung wohl nicht gewöhnt. Vielleicht hat es ihn verdrossen, daß man mich gar so kurz und obenhin behandelte und es hat schließlich mit einigen der Matadore der Börse einen herben Wortwechsel gegeben.«
Er verließ, von Treufreund begleitet, das Zimmer, der ihm an der Treppe nochmals recht herzlich die Hand schüttelte und dann ins Kontor hinabstieg.