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In den schattigen Gängen des parkähnlichen Gartens, welcher den prachtvollen Landsitz des reichen Reeders Heidenfrei umgab, wandelten zwei junge Leute lebhaft sprechend auf und ab. Beide gingen in leichter Kleidung, wie man sie in Mittel-Amerika auf den Pflanzungen zu tragen pflegt. Als Kopfbedeckung diente ihnen ein sehr breitkrempiger Strohhut mit herabflatterndem gelbem Seidenband.
Es waren die Söhne des Kaufmanns Heidenfrei, Eduard und Ferdinand. Sie hatten einige Jahre in den Staaten und in Süd-Amerika zugebracht und in der Heimat gewisse lieb gewordene Gewohnheiten beibehalten.
Bei einem freien Ausblick auf den Elbstrom mit seinen zahlreichen Inseln blieben die Brüder jetzt stehen und betrachteten einige Minuten lang das erhebende Bild. Große Schiffe kamen den breiten Strom herauf, und ihre Augen glänzten in stolzer Freude. Aus dem Landhause, dessen Dach über eine Gruppe wohlgepflegter Bäume zu den beiden jungen Männern herüberblickte, ließ sich jetzt eine starke, wohltönende Sopranstimme hören.
»Ulrike singt«, sagte Ferdinand, sich umkehrend, den Arm des Bruders ergreifend und diesen mit sich fortziehend. »Lassen wir jetzt unsere kommerziellen Pläne ruhen und huldigen wir den schönen Künsten. Es ist doch etwas herrliches um eine Menschenstimme, die in süßen Klängen alle höchsten Freuden der Seele, alles tiefste Herzensweh aushauchen kann.«
»Das Mädchen singt wirklich wunderbar«, sagte Eduard. »Man wird gefesselt, so oft sie eins ihrer Lieder zur Laute anstimmt.«
»Meinst du nicht auch, daß Ulrike am gefühlvollsten singt, wenn sie ganz allein ist und sich unbeachtet weiß oder doch glaubt?«
»Ich habe noch nicht darauf geachtet«, erwiderte Eduard, »vielleicht«, setzte er mit einem fernen Lächeln hinzu, »weil ich die Farbe ihrer Augen nicht mit solchem Eifer wie jemand anders studierte.«
Ferdinand ließ diese Bemerkung, dem Hause zuschreitend, unbeachtet.
»Nur einmal«, fuhr er fort, als hätten seine Gedanken in der Vergangenheit geweilt, »habe ich Ulrike in Gesellschaft mit dem ganzen bewältigenden Zauber ihrer seelenvollen Stimme singen hören, und ich bedauere noch jetzt, daß du damals gerade verreist warst.«
»Beim letzten Fest, das Vater gab?«
»Ja«, sagte Ferdinand, »Don Gomez, der reiche Mexikaner, der so schnell ein stark begehrter Gast in der guten Gesellschaft geworden ist, begleitete damals Ulrike. Er spielt die Laute ebenso meisterhaft, wie Ulrike nach meinem Dafürhalten singt.«
»Man hört viel von diesem Mexikaner sprechen«, antwortete Eduard. »Jedenfalls ist er kein gewöhnlicher Alltagsmensch. Gerade deshalb aber, dünkt mich, sollte man etwas vorsichtiger sein und ihm nicht so schnell volles Vertrauen schenken. Es gibt zuviel Abenteurer.«
»Unter diese Gattung gehört Don Gomez sicherlich nicht«, versetzte Ferdinand. »Er ist unstreitig, wofür er sich gibt, dennoch aber kann er gefährlich werden.«
»Für Ulrike?« fragte mit dem früheren feinen Lächeln Eduard.
»Vielleicht auch für Elisabeth«, entgegnete Ferdinand.
Der Gesang verstummte, und Eduard zog den Bruder wieder seitwärts in einen Gang des weitläufigen Gartens.
»Erkläre dich deutlicher«, sagte er ernst. »Du hast den Mexikaner gesehen, gesprochen, sogar besucht. Du mußt dir ein ungefähres Urteil über ihn gebildet haben.«
Ferdinand erzählte.
»Während deiner Abwesenheit erhielten wir eine Einladung zu Bankier Mertens, der eine seiner zahlreichen Gesellschaften gab. Du weißt, dem Vater liegt wenig an derartigen Vergnügungen. Geschäftsangelegenheiten nahmen ihn ganz in Anspruch, auch fühlte er sich nicht wohl. Deshalb blieb er mit der Mutter zu Hause, nur Elisabeth und ich folgten der erhaltenen Einladung. Wir unterhielten uns ungewöhnlich gut, weil außer dem bekannten Kreise eine Anzahl vornehmer Fremder zugegen war, die einige Zeit in Hamburg verweilten. Wir trafen also allerlei Volk und zwar Volk aller Nationen. Unter den Fremden fiel Don Alonso Gomez besonders auf. Die feine, schlanke Gestalt des jungen Mexikaners und seine dunklere Gesichtsfarbe machten ihn bald zum Gegenstand allgemeiner Beobachtung. Man fragte bald leise, bald lauter, woher der lebhafte junge Mann komme, wie er heiße, was er in Hamburg wolle? So wußte denn schon in der ersten Stunde jeder, daß Don Gomez reich, unabhängig, unverheiratet sei; daß er nur zu seinem Vergnügen Europa bereise und daß er einen höchst liebenswürdigen Charakter besitze.
Don Gomez ward alsbald der bevorzugte Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft. Er sprach sich mit schönem, ja ich möchte sagen mit hinreißendem Freimut über die verschiedensten Gegenstände aus. Auch unsere Stadt, ihr Leben, ihre Volksmasse, so weit er während der kurzen Zeit seines Aufenthaltes dies alles hatte beobachten können, wurden von dem Mexikaner einer Beurteilung unterworfen. So schief nun auch dies Urteil ausfiel, man fand es originell, und besonders die Frauen waren des Lobes voll über den liebenswürdigen Mexikaner.«
»Sehr begreiflich«, sagte Eduard. »Und unter diesen befand sich auch unser Schwesterchen?«
»Elisabeth verhielt sich anfangs sehr still«, berichtete Ferdinand, »nur mit Ulrike mußte sie sich über den Fremdling weitläufiger ausgesprochen haben. Ich erfuhr dies ganz zufällig einige Tage später während des Frühstücks. Ulrike sprach in ihrer bescheidenen, ruhigen aber festen Art offen aus, daß sie den Fremden wohl kennen lernen möchte, und daß sie es durchaus nicht für unpassend halte, wenn man ihn zur nächsten größeren Gesellschaft einlade. Elisabeth meinte sogar, es sei unerläßlich, wolle das gastfreie Haus Heidenfrei nicht ungalant erscheinen. Die Mutter war bald gewonnen, ich selbst konnte nicht widersprechen, und der Vater kümmert sich, wie du weißt, um diesen Teil des Hausregiments sehr wenig. So erfolgte denn eine Einladung an Don Gomez, dem ich, nachdem eine zusagende Antwort eingelaufen war, einen Besuch abstattete. Der Mexikaner übertraf sich selbst an Liebenswürdigkeit. Nie hörte ich einen Mann seines Alters sich gewandter ausdrücken, nie fand ich bei einem so jungen Mann größeres Selbstbewußtsein.«
Eduard zog den Bruder auf eine Bank nieder, von welcher der Strom und die prächtig beleuchtete Landschaft mit einem Blick zu übersehen waren. »Ich bin äußerst gespannt, zu erfahren, wie der bewunderte Caballero sich hier in diesem Asyl des nie gestörten Familienglückes eingeführt hat.«
»Er kam, sah und siegte«, sagte Ferdinand in weniger freundlichem Tone. »Sein Sieg war in jeder Hinsicht ein vollkommener. Selbst der Vater fühlte sich angezogen, ja gefesselt. Er zeichnete Don Gomez aus und gab zuerst das Signal zu einem Duett, das der Mexikaner mit Ulrike sang. Die Gesellschaft vergaß über dem neuen Element, das sie mit ganz frischem Lebensodem durchhauchte, alle gewohnten Zerstreuungen. Es wurde den ganzen Abend kein Spieltisch zurecht gerückt. Jeder unterhielt sich und vergaß über der stets bewegt bleibenden Unterhaltung, daß man gewissermaßen, ohne es zu wollen, gegen sich selbst und eine alte Sitte sündige.«
In der Ferne fiel jetzt ein Schuß, der an den Uferhöhen in vielfachem Echo verhallte.
»Da kommt ein Schiff auf und begrüßt das Landhaus seines Eigentümers«, sagte Eduard. »Aber vollende deinen Bericht.«
»Vergnügter und zufriedener denn je trennte sich die Gesellschaft spät in der Nacht. Man sprach von dem Genuß dieses ungewöhnlichen Abends noch tagelang. Die Woche darauf machte Don Alonso Gomez einen Besuch, unterhielt sich in der liebenswürdigsten Weise, bewunderte die Einrichtung unseres Hauses, fand die Gartenanlagen vortrefflich und die Aussicht entzückend. Seitdem hat er zweimal mit uns dort im Zelt den Tee genommen, wobei die Guitarre nicht fehlen durfte. Ein Duett mit Ulrike schloß beide Male die sehr angenehme Unterhaltung.«
»Beim Himmel, es ist unsere lang ersehnte Bark, es ist die ›Marie Elisabeth‹!«
Beide zogen ihre Taschentücher und winkten dem stolzen Schiffe zu, an dessen Gaffel die große Flagge Hamburgs sich entfaltete.
Eiligen Laufes kamen die beiden Mädchen herbei.
»Mein Namensträger kommt«, sagte mit glücklichem Lächeln Elisabeth, indem sie dankend unwillkürlich die kleinen Hände faltete. »Wie freue ich mich, daß das große Schiff glücklich von seiner langen ersten Reise zurückkehrt. Wie wird auch Vater sich freuen!«
»Dort kommt er schon«, fiel Eduard ein. »Er ist früh unterrichtet worden, sonst hätte er heute das Kontor nicht so zeitig verlassen. Laßt uns ihm entgegen gehen und ihn begrüßen!«