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Elisabeth saß am Fenster und beugte sich, mit zartem Finger eifrig die Nadel führend, tief über die feine Stickerei, an welcher sie arbeitete. Eduard, dessen Augen ungewöhnlich, nicht aber freudig glänzten, ging mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder. Nach einiger Zeit trat er an den Nähtisch der Schwester, strich ihr die Locken von der Stirn und sagte mit innig teilnehmendem Ton:
»Du weinst, liebe Elisabeth? Habe ich dir weh getan?«
Die Schwester blickte den Bruder sanft mit tränenvollen Augen an und reichte ihm die kleine volle Hand.
»Du meinst es ja gut, Eduard, ich weiß es, und darum kann ich dir nicht böse sein, aber vermag ich deshalb meinem Herzen zu gebieten? Es ist möglich, daß ich Unrecht tue, dennoch – dennoch – o, laß mich doch weinen!«
»Immer weine dich aus, Elisabeth, du wirst dich dann frei und leicht fühlen.«
Elisabeth schüttelte ungläubig den Kopf: »Wenn du die Wahrheit gesprochen hast, dann ist mein Leben vergiftet. Zürne mir nicht, lieber Bruder, aber ich kann nicht anders. Ich konnte nichts wissen, nichts ahnen, und – mein Herz, Eduard, zwingt mich dazu – ich kann es auch jetzt noch nicht glauben. Bringt mir Beweise, untrügliche, unwiderlegliche, die ihn überführen, verurteilen, und ich verspreche euch, mich dann selbst zu besiegen, wenn ich auch geistig darüber zugrunde gehen sollte!«
»Du kannst nicht sagen, Elisabeth, daß du nicht gewarnt worden seist«, begann Eduard nach kurzem Schweigen aufs neue. »Ich persönlich habe nie seine Partei genommen, ich war immer etwas mißtrauisch. Sollte und konnte ich mehr tun, als mich in kühle Höflichkeit hüllen? Durfte ich den Mann verleumden, dem Vater Wohlwollen zeigte, dem unser Haus offen stand? Gewiß, liebe Schwester, als Bruder erfüllte ich vollkommen meine Pflicht, wenn ich scherzweise dich auf die Gefahren eines solchen Umganges aufmerksam zu machen suchte.«
»Vergib mir, Eduard«, entgegnete Elisabeth gefaßter. »Ich bin gewiß töricht gewesen, nicht aber leichtsinnig! Und wie ich schon gesagt habe, dem unwiderleglichen Beweise bringe ich mein Herz zum Opfer, und müßte ich das Leben dafür lassen!«
»Suche vor allem deine Gefühle zu beherrschen«, sagte Eduard liebevoll bittend. »Es wird dich niemand zu dem Unmöglichen zwingen. Noch ist von einem wirklichen Verhältnis zwischen dir und Don Gomez nichts in der Gesellschaft bekannt. Einzelne mögen es glauben, viele es vermuten, keiner darf auftreten und sagen: es ist so! Das nenne ich ein großes Glück. Du erinnerst dich gewiß noch, von einem Matrosen gehört zu haben, den man Miguel nannte.«
»Der die arme Christine verfolgte?«
»So glaubte man zu seinem und des Mädchens Unglück. Dieser Matrose nun ist durch eine Verkettung von Umständen, die an das Wunderbare streifen, seit einigen Wochen seiner Haft entkommen, hat durch Vermittelung des Konsuls seines Geburtslandes die Meldung hierher gemacht, daß er um den Raub seiner Geliebten – wie er Christine nennt – wisse, daß er, gewähre man ihm nur Schutz und Hilfe, auch deren Versteck zu ermitteln sich getraue, und daß er vollkommen imstande sei, den Urheber jener Entführung namhaft zu machen.«
»Und das hat man so ohne weiteres dem Fremden geglaubt?«
»Man vermutete im Gegenteil irgendeine Schurkerei dahinter, lockte deshalb den Matrosen her und bemächtigte sich seiner Person, wie der wenigen Habseligkeiten, die er besaß. In seinem ersten Verhör jedoch hat Miguel Angaben gemacht, die schwer ins Gewicht fallen und welche zuerst Don Alonso Gomez kompromittierten. Weil man jedoch alles Aufsehen vermeiden will, schlug man den Weg behutsamster Nachfrage ein. Unser Haus konnte dabei nicht übergangen werden, denn hier war ja die eigentliche Quelle des Unglücks zu suchen. So erhielt denn der Vater gestern die erste Nachricht von dem schweren Verdacht, welcher sich im entscheidenden Augenblick gegen den Mann erhebt, wo derselbe um die Hand der Tochter anhält. Ein solches Zusammentreffen mußte den Vater tief erschüttern. Er war nicht imstande, die Feder zu halten, weshalb ich in seinem Namen Don Gomez in einigen höflichen Zeilen ersuchte, einige Tage sich zu gedulden, der Vater sei augenblicklich unwohl, könne mit dir nicht sprechen und wolle eine so wichtige Frage mit der Tochter, der sie gelte, doch selbst besprechen. Diese notgedrungene Ausflucht gibt uns Zeit, zu forschen und unser späteres Verfahren und Benehmen gegen Don Gomez darnach zu regeln. Dir aber konnte das Vorgefallene nicht verschwiegen werden, da der Vater ja aus dem Briefe des Mexikaners ersah, daß du gleichzeitig von seinem Schritt unterrichtet worden seist.«
Elisabeths Tränen begannen aufs Neue zu fließen, denn wie ein drohender finsterer Schatten stieg höher und immer höher die Unglück verheißende Wolke empor, welche die Sonne ihres jungen Lebens vielleicht für lange Zeit verfinsterte, wo nicht für immer auslöschte.
»Bruder Ferdinand«, fuhr Eduard fort, »hat Don Gomez heute einen Besuch gemacht, um gesprächsweise womöglich seine Gesinnung zu ergründen. Der Mexikaner liebt Ferdinand, wie du weißt, und ist deshalb gegen ihn wahrscheinlich offen. Ferdinand ist besonnen, wird nichts überstürzen, kann aber durch eine unerwartete Querfrage doch gelegentlich den Schleier lüften oder lüften helfen, welcher die Vergangenheit dieses begabten Mannes verhüllt. Wir erwarten ihn noch vor Abend zurück.«
»Noch vor Abend!« wiederholte sichtbar erschüttert und tief erschrocken Elisabeth. »Die Uhr ist schon fünf.«
»In höchstens zwei Stunden muß der Vater unterrichtet sein.«
Elisabeth begann krampfhaft zu zittern und stand auf. Sie war aber zu schwach, um das Zimmer zu durchschreiten und fiel dem Bruder schluchzend in die Arme. Eduard riß heftig an der Schelle, rief dem herbeieilenden Bedienten zu, sogleich Fräulein Ulrike zu rufen, um seiner Schwester, die unwohl geworden sei, beizustehen, und brachte Elisabeth mit Hilfe der feinfühlenden Freundin, die bereits Kunde von dem Vorgefallenen hatte, in ihr Schlafzimmer. Hier überließ Eduard die Schwester der Pflege und dem Zuspruch Ulrikes, deren Herzen er sie mit vollstem Vertrauen übergeben konnte. Er selbst blieb in großer Aufregung, von Zweifeln gepeinigt, von den widersprechendsten Erwartungen in Anspruch genommen, zurück. Um seiner Aufregung Herr zu werden, eilte er hinaus in den Park, dessen von anhaltendem Regenwetter noch feuchten Sandgänge er ruhelos nach den verschiedensten Richtungen durchkreuzte.
Bald nach sieben Uhr abends traf Ferdinand ein. Er fragte sogleich nach dem Bruder und verfügte sich zu diesem in den Park, wo Eduard still brütend auf einer Bank saß und unverwandt auf die belebte Elbe hinaussah. Bei dem Geräusch der im Sand knirschenden Schritte kehrte er sich um und trat dem Bruder unter heftigem Herzklopfen entgegen. Er wagte keine direkte Frage an Ferdinand zu richten, der vollkommen ruhig, ja befriedigt schien.
»Ist Elisabeth unterrichtet?« fragte er.
»Sie hat das Allernötigste durch mich erfahren.«
»Wie nahm sie es auf?«
»Ein Mädchen, das ihr Herz verschenkt hat, ist immer unglücklich, wenn es erfährt, daß der Gegenstand, dem sie vertraute, ein unwürdiger war.«
»Sie wird genesen«, sagte Ferdinand zuversichtlich, »nur laß uns nicht zur Unzeit weichherzig sein. Diese Neigung zu Don Gomez muß mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden.«
»Ist er schuldig?«
Ferdinand lachte so laut und bitter, daß Eduard vor Erschrecken bleich ward.
»Du ängstigst mich, rede! Entreiße mich dieser Ungewißheit!«
Ferdinand ergriff des Bruders Arm und wanderte mit ihm durch die in voller Blüte stehenden Hecken. Der Abend war mild und warm. Leichte, flockige Wolken überdeckten wie ein Flor den Himmel, die Natur schien zu neuem, schöneren Leben erwacht, und während das Herz eines jungen, blühenden Mädchens vor Schmerz beinahe brach, jauchzten in den Büschen fröhliche Nachtigallen in vollen, tönenden Schlägen.
»War es nicht hier«, sagte Ferdinand, »wo ich dir im vergangenen Jahre die ersten Mitteilungen über den Mann machte, der nun so großes Herzeleid in unsere Familie bringt? Als ob wir nicht an altem Elend noch genug zu zehren hätten! O, es ist himmelschreiend, daß wir so blind sein konnten, daß wir nicht früher Verdacht schöpften! Es gab doch so viele Veranlassungen. Wir alle wußten, daß Don Gomez in seiner Heimat die Liebe von mehr als einer Seite kennen gelernt hatte, daß er auch hier nicht immer seine Leidenschaften streng zügelte. Aber freilich, er war liebenswürdig, bezaubernd liebenswürdig, und wer wollte dem lieben Kinde jede unschuldige Freude, die sie im Gespräch mit Don Gomez fand, vergällen! An einen offenen Antrag hätte ich nie geglaubt.«
»Danken wir Gott, daß er erst jetzt damit hervorgetreten ist. Aber sage: wie benahm er sich?«
»Dein Schreiben«, fuhr Ferdinand fort, »hatte ihn stutzig gemacht. Ich fand ihn merkwürdig verstimmt, so düster, hoffnungslos, gallig, wie ich ihn nie früher sah. Er begrüßte mich verstört, richtete zerstreute Fragen an mich und sagte zuletzt: Es ist heute ein Unglückstag. Alles schlägt mir fehl. Die Antwort, die ich da von Ihrem Bruder auf meine Anfrage erhalten habe, klingt ganz wie ein protestierter Wechsel. Ich betrachte sie als einen Korb, den Ihre Schwester mir sendet, und fürchte nur, daß ich mich blamiert habe. – Diese Auslassungen gaben mir sofort die ganze Ruhe und Kälte eines völlig Enttäuschten. Ein Mann, der wahrhaftig, innig, von ganzem Herzen, mit voller Seele liebt, spricht nicht so, nicht in so gleichgültigem, erbitterten Ton, wie Don Alonso Gomez es tat. Ich erwiderte deshalb nicht weniger scharf, wobei mein Auge tief in das seine sich versenkte: Und weiter, Don Gomez, weiter besorgen Sie nichts? – Er fuhr auf. Was weiter? versetzte er. Soll ich mir noch die Haare ausraufen oder Pulver und Blei verschlucken, um die Komödie in eine Tragödie zu verwandeln? Dazu, mein Herr, besitze ich just heute zu wenig Humor. Ich denke also, wir tun besser, unsere alte Freundschaft neu zu stärken bei einem Glase feurigen Weines. – Wie gefällt dir das?«
»Es ist das Glaubensbekenntnis eines vollendeten Wüstlings.«
»Du kannst dir denken, daß mein Freundschaftsgefühl nicht sehr heiß war. Ich ging deshalb auf seinen lockeren Ton ein und versetzte: So gefallen Sie mir, Sennor! Ein Narr, der eines Mädchens wegen, die launisch ist oder deren Anverwandte aus, Gott weiß, welchen Rücksichten sie hinter einen Glasschrank einsperren möchten, damit ja kein fremder Luftzug sie berühre, sich lange die Laune verderben läßt. Ist's nicht Elisabeth, so sei's vorläufig Christine – –! Diesen Namen betonte ich scharf und sah Don Gomez gleichzeitig fest und doch lächelnd an. Er wechselte die Farbe und zitterte. Was, Sennor, Sie erschrecken? fuhr ich fort. Wissen Sie denn, was aus Christine geworden ist in jener Nacht? Oder kennen Sie vielleicht die beiden Fährleute, die unterhalb Glückstadt anlegten, und von denen der eine den Matrosen Miguel landeinwärts führte? Oder haben Sie von einem gewissen Greatstring gehört, der in Verbindung steht mit dem Landkrämer Moses und diesem zweimal Briefe zur Besorgung an einen Mann übergeben hat, der früher lustig in New-Orleans lebte? Eine solche Geschichte horte ich heute an der Börse erzählen und ich zweifle nicht, daß die darin Verwickelten Unannehmlichkeiten davon haben werden. Wir, die es nichts angeht, lachen dazu und darum, Sennor, auf ferneres Glück bei hübschen Mädchen, lassen Sie uns einer oder zwei Flaschen altspanischen Weines fröhlich die Hälse brechen!«
»Das alles wagtest du dem Don an den Kopf zu schleudern?« erwiderte Eduard nicht wenig erstaunt. »Wir haben ja nur Vermutungen, keine Gewißheit, keine überzeugenden Beweise!«
»Bester Bruder«, versetzte Ferdinand, »ich tat nur, wozu ein glücklicher Gedanke mich instinktartig trieb. Als ich das Erblassen des Mexikaners bei Christinens Namen bemerkte, glaubte ich, es könnte gar nicht schaden, wenn man den gewiß nicht Schuldlosen mit einer wahren Flut von Anklagen überschütte. Ich habe mich gehütet, ihm zu sagen: das alles hast du getan, ich habe ihm nur Gerüchte erzählt, mit denen sich angeblich die halbe Bevölkerung unserer Stadt trägt. Daß ich zu diesem Mittel griff, ist mir unendlich lieb. Ich weiß jetzt und bin moralisch davon überzeugt, kein anderer als Don Gomez ließ Christine heimlich entführen, kein anderer als er war es, der den verliebten Matrosen Miguel und den Steuermann Andreas durch seine Helfershelfer festzunehmen und unschädlich zu machen befahl. Erst, als er einsah, daß die Entführte standhaft seine Künste abschlug, und als er befürchten mußte, der entflohene Miguel werde ihm zuvorkommen, faßte er den Entschluß, durch eine Verlobung dem etwa aufkeimenden Verdacht den Kopf abzubeißen. Erhielt er die Zusage unserer Eltern, war die Verlobung öffentlich bekannt gemacht, dann stand er sicher, denn er berechnete sehr richtig, daß alle Parteien möglichst zufriedengestellt werden würden, um einem öffentlichen Skandal vorzubeugen.«
»Glaubst du wirklich, der unternehmende, vom Glück verwöhnte Mann werde so bald seine Pläne aufgeben?« fragte Eduard mit bekümmerter Miene seinen Bruder.
»Was er tun wird oder will, darüber ist er in diesem Augenblick mit sich selbst gewiß noch nicht im Reinen. Es ist mir gelungen, ihn zu überrumpeln. Zwar nahm er, wie ich vermutete, meine Unterstellungen wie eine Art Scherz auf, heuchelte eine heitere, sogar ausgelassene Stimmung und ging auf meine Ideen ein. Innerlich aber war er verstört, oft sogar ganz abwesend, und da er auf nichts achtete, was um ihn her vorging, während meine Augen an der geringsten Kleinigkeit hingen, gelang es mir, ein Papier zu erwischen, das ihn im entscheidenden Augenblick überführen wird. Hier ist es.«
Ferdinand zog einen ganz zerknitterten Brief ans der Tasche, den er im Zimmer des Mexikaners unter dem Sofa bemerkt und hervorgeholt hatte. Es war das Schreiben Greatstrings. Dieses Schreiben, das, obwohl beschmutzt, doch noch ganz erhalten war, lautete:
Mein Herr!
Es betrübt mich sehr, Ihnen berichten zu müssen, daß der listige Vogel, dessen Aufbewahrung Sie mir ans Herz legten, unbeachtet aller Vorsicht, die ich angewendet habe, doch wieder entkommen ist. Ein Geschäft ähnlicher Art und brächte es mir einige tausend Dollars ein, werde ich nie wieder eingehen. Man hat nichts davon, als Ärger, Sorgen und Gefahren. Hätten nicht das böse Wetter und das Teufelszeug, die Aaskrähen, mich beschützt, als ich mit dem verdammten Jungen seelenallein durch das Marschland ging, um die Spuren für die etwa Verfolgenden zu verwischen, der rachsüchtige, falsche Halb-Havanese hätte mich umgebracht. Zum Glück hörten ein paar derbe Marschbauern mein Schreien und suchten uns auf, als wir uns schon so tief in den Schlamm hinein gerungen hatten, daß wenig mehr fehlte, der Gewandtere hätte den weniger Gewandten untergekriegt. Da ich das Platt dieser Leute verstehe, der dumme Junge aber kein Wort begriff, log ich den phlegmatischen Leuten vor, was mir gut dünkte. Das half mir vorerst aus der Bedrängnis. Gebunden brachte ich tags darauf den Lümmel an Bord meines Schiffes, obwohl er tobte, wie ein gefesselter Stier. Schreien konnte er nicht, denn ich hatte ihm vorsorglicherweise den Mund mit einem gut gedrehten Knebel verstopft. Ich sollte aber kein Glück haben. Widrige Winde hielten mich wochenlang auf der Elbe zurück. Nun hätte ich dem unbequemen Menschen freilich einen Klaps geben und ihn ins Wasser werfen können – die Flut würde ihn wohl seewärts getrieben haben – indes dazu fehlte mir doch der Mut. Der Schatten eines Ermordeten hat schon manches Schiff zum Kentern gebracht. Ich ließ ihn also leben und hielt ihn kurz, damit er nicht gar zu sehr zu Kräften kommen möge. Endlich passierten wir die Mündung der Elbe, weil ich aber verschiedener Gründe wegen keinen Lotsen einnahm, der Wind sehr konträr und die Luft dick war, rannte mein Schiff bei Helgoland auf die Ausläufer des Wittkliffs. Blieb also auf der langweiligen roten Klippe sitzen und vertrieb mir die Zeit, so gut es gehen wollte. Darüber vergaß ich, den Miguel jede Minute lang zu bewachen, und siehe da, eines Morgens, Mitte März – es hatte die Nacht wie rasend gestürmt, mehrere Notschüsse zeigten an, daß ein Fahrzeug in der Nähe der Insel in großer Gefahr schweben mußte – war der verfluchte Kerl verschwunden. Ohne Zweifel hatte er einen der auslaufenden Sloops bestiegen und war später auf dem Schiffe, das glücklich abgebracht wurde, geblieben.
Hier in Cuxhaven, wo ich nun seit vierzehn Tagen bin und mein Schiff ausbessern lasse, konnte ich nichts von dem Entsprungenen erfahren. Ich weiß nicht, ob den Posten zu trauen ist. Darum ziehe ich es vor, dies Schreiben einem jüdischen Handelsmann anzuvertrauen, den wir beide ja genau kennen und in dessen Buch ich hoch genug angeschrieben bin, um von ihm für guten Lohn einen Dienst verlangen zu dürfen. Sein Sie nicht geizig und rücken Sie auch mit ein paar Portugalösern heraus. Ich hielt es für meine Pflicht, Sie von dem Vorgefallenen zu unterrichten.
Stets Ihr dienstwilliger
Jack Charles Greatstring,
Kapitän der amerikanischen Brigg Selfgovernment.
Eduard hatte dies wichtige Schreiben mit größter, steigender Aufmerksamkeit gelesen. Als er es jetzt dem Bruder zurückgab, sagte er:
»Das gewährt ja einen tiefen Einblick in ein ganzes Lager von Banditen. In welcher Verbindung steht unser vornehmer Herr mit diesem gewissenlosen Greatstring? Was hat er mit Miguel schon früher vorgehabt und aus welchem Grunde verfolgt man den armen Jungen?«
»Noch einige Tage Geduld«, versetzte Ferdinand, »und wir werden mehr wissen. Miguel ist hier, man kann uns nicht verwehren, mit ihm zu sprechen. Sein vergangenes Leben muß sich vor unsern Augen entrollen, sein feindliches Verhältnis zu dem intriganten Mexikaner uns klar werden, ehe wir einen Beschluß fassen, der den Gekränkten Gewinn bringt, den Geschädigten Genugtuung verschafft und diesen gefährlichen Mann unschädlich macht. Nur laß uns vorsichtig sein, nichts übereilen und deshalb mit Überlegung handeln. Die arme Schwester muß inzwischen geschont werden. Sie besitzt zu viel gesunden Sinn, um nicht mit der Zeit eine Neigung zu ersticken, die mehr in ihrer romantischen Phantasie, als in ihrem Herzen Nahrung fand. Noch liebt sie Don Gomez nicht mit jener Innigkeit, die nur im Besitz des geliebten Gegenstandes leben oder mit ihm untergehen will, sie ist von seinem Wesen, seinen bestechenden, geistigen und leiblichen Eigenschaften nur bezaubert. Dieser Zauber schwindet, wenn die Maske fällt, und unter der bestechenden Hülle die grinsende Fratze eines gemeinen Abenteurers sichtbar wird.«
»Laßt uns abbrechen«, sagte Eduard, mit der Hand nach einem der zum Landhause führenden breiten Gänge zeigend, welchen ein Bedienter herabschritt. »Man schickt nach uns.«
Die Brüder gingen dem Bedienten entgegen.
»Hat unsere Schwester sich von ihrem Unwohlsein erholt?« fragte ihn Eduard.
»Beide Fräulein befinden sich nach Aussage der Madame Heidenfrei wohl. Ich sollte die Herren bitten, Ihre Frau Mutter zu besuchen. Madame Heidenfrei hätte Ihnen einige wichtige Fragen vorzulegen.«
»Sag unserer verehrten Muster, daß wir sogleich bei ihr sein würden.«
Der Bediente entfernte sich.
»Elisabeth ist nicht unheilbar verwundet«, sagte hoffnungsfroh Ferdinand. »Sie hat ihr Leid der Freundin geklagt, die vielleicht mit ihr zugleich leidet.«
Beruhigter, als sie sich begrüßt hatten, schritten die Brüder dem Landhause zu, das in der untergehenden Sonne aus dem leuchtenden Saftgrün der Bäume emporstieg.