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Lieschen Goldperl saß nachmittags – es begann zu dämmern – von auszubessernder Wäsche umgeben an ihrem einsamen Nähtisch; in der neuen Falkschen Wohnung in der Alleegasse. Sie war aber doch nicht allein, denn die Türen standen alle offen; Lina, die junge Frau, der nichts so unheimlich war wie ein Sterbezimmer, wollte durch die ganze Reihe der Gemächer sehn, und von Zeit zu Zeit ging sie hin und her, um ein Wort mit Lieschen zu reden, um andere Luft zu atmen, um wieder in diesem oder jenem Zimmer ein Räucherkerzchen anzuzünden, oder Riechwasser umherzustäuben. Im dritten Zimmer lag Leo; Schwalbe saß schon lange an seinem Bett, Erhart seit einer Stunde. Die kleine Goldperl konnte die Männer zuweilen sprechen oder flüstern hören; verstehn tat sie nichts; daran lag ihr auch nichts. Es war ihr nur ein wohltuendes, angenehmes Gefühl, dann und wann so eine, tiefe, männliche Stimme zu vernehmen, während sie, nach ihrer Gewohnheit als alleinsitzende Näherin, sich denken konnte, was ihr beliebte. Sie saß bei der »Jause« oder dem Vesperbrot. Von Zeit zu Zeit nahm sie einen Schluck aus der Kaffeetasse, und biß ein Stück von ihrem Butterbrot ab. In ihrem schmalen, vertrockneten Köpfchen stiegen bei diesem behaglichen Genuß die langsamen Gedanken auf, wie große und schwere Luftblasen, die sich aus einer sumpfigen Tiefe erheben; sie blieben dann eine Weile stehn, bis eine neue Luftblase kam und von unten her an sie anstieß, so daß sie zerplatzten: »Die Herren sitzen noch immer da!« dachte sie und horchte. »Die Frau will ja doch lieber, hat sie mir gesagt, daß sie wieder fortgehn. – Das Butterbrot ist heut' gut beschmiert! – Sonst mag ich die Köchin nicht. Sie tut so stolz gegen mich. – Ich war auch mal was; als ich zum Theater gehn wollte ... Ich glaub', da war ich auch stolz. – Es riecht gar so stark nach den Räucherkerzen. Zuerst hat man sie gern; aber wenn immer wieder neue kommen, dann hab' ich sie nicht mehr gern. – Ob er heut' noch stirbt? – Die Herren gehn gar nicht fort! – So hab' ich den Kaffee gern, wenn er nicht zu braun ist. Aber die kurzen Tag'; nun kommt schon bald wieder die Lampe. – Was die Christel wohl der Lina getan hat? Neulich spuckte sie auf die Erde, als sie von ihr sprach! – Ach Gott, er röchelt ja wohl. Schad' um den Mann; so ein junger Mann! – Ob wohl viel zurückbleibt? – Na, ich könnt' davon leben. – Wie gut das Butterbrot ist. – Sie will ja doch lieber, daß die Herrn fortgehn, und sie gehn nicht fort!«
Indessen sie standen nun auf; Lieschen sah, wie sie mit der jungen Frau aus dem dritten Zimmer ins zweite kamen; Schwalbe sehr gebückt und, wie es schien, mit Tränen in den Augen, Erhart steif aufgerichtet, mit einem erschreckend düsteren Gesicht (»wie der grimmig aussieht!« dachte die Goldperl) und mit finstern Blicken auf Lina, die aber dem Anschein nach nichts davon bemerkte. »Die Herren sehn es ja ein«, sagte sie leise, während die Schleppe ihres Schlafrocks mit gedämpftem Knistern über den Teppich rauschte. »Wozu sollen Sie sich hier länger quälen; und ihm ist es besser, wenn er jetzt allein ist. Die Frau bleibt ja bei ihm. – Kann es noch lange dauern, Doktor?«
»Kann wohl noch ziemlich lange dauern«, flüsterte Schwalbe, in seinem kleinlauten Kummer mit den Achseln zuckend. »Ich hab' ihm noch eine Einspritzung gemacht; zur Erleichterung ... Sie lassen es uns also sagen, wenn es sichtbar anders wird ... Herr Erhart geht mit zu mir.«
»Ich lass' es Ihnen sagen; natürlich.« – Die junge Frau bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch, als wollte sie ihre Tränen verbergen. Sie winkte nur noch mit der Hand zum Abschied. Lieschen Goldperl sah die Männer verschwinden, nach dem Vorplatz zu. Die Tür schloß sich hinter ihnen, kaum hörbar. Lina zog das kleine, feine Tuch von dem trockenen Gesicht.
»Fällt mir gar nicht ein«, sagte sie kurz und in anderm Ton hinter den Verschwundenen her. »Fällt mir gar nicht ein. Was sollen die Schnüffler hier. Das mach' ich allein!« – Sie trat zu Lieschen ins Zimmer; ihr Gesicht hatte eine nervöse Blässe, und auf der kurzen, schmalen Stirn standen einige helle Tropfen; aber sie lächelte.
»Haben Sie den gesehn?« fragte sie halblaut, mit dem Kopf hinausdeutend.
»Wen?« fragte das piepende Stimmchen der Goldperl.
»Dummer Kerl! den Herrn Erhart. – Vor dem fürcht' ich mich. Der sah mich doch zuweilen so an, als möcht' er mir gleich an die Gurgel springen. Ich bin froh, daß er jetzt fort ist; – wahrhaftig, ich bin eine feige Kanaille ... Sie! Lieschen Goldperl! Und der hat mich auch einmal geliebt.«
»Der Herr Erhart?«
»Ja freilich. Heftig. In dem schönen Salzburg an der grauen Salzach. – – Jetzt haßt er mich. Das ist auch 'ne Nummer!«
»Und der Doktor Schwalbe,« flüsterte Lieschens Diskant, »hat der Sie auch geliebt?«
Lina, die die innere Unruhe umhertrieb, stand still, hob ihren rechten Fuß ein wenig und warf ihn in die Luft. »Der? Das weiß ich nicht. – Daran hab' ich nie gedacht. – Der ist gar kein Mann. – Das heißt, ob er ein Mann ist, daran hab' ich nie gedacht. Der ist nur so überhaupt!«
Sie ging wieder auf und ab; von einem Spiegeltisch nahm sie ein Fläschchen mit Kölnischwasser, drückte auf den Deckel und spritzte den feinen Staub in die Luft. »Mir ist, als röch' ich's schon«, murmelte sie vor sich hin, und es schüttelte sie. »Da! Er hustet wieder. – Er kann gar nicht mehr. Es ist nur noch so ein Hüsteln. – Abzehrung; Auszehrung. Pfui! – – Sie, Lieschen Goldperl: fürchten Sie sich auch vor dem Tod? und wenn jemand stirbt?«
Das hagere Geschöpfchen dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Es kommt ja doch an einen jeden«, sagte sie, einen neuen Faden durch die Nadel ziehend; denn ihr Mahl war zu Ende. »Meine Schwester, die Schauspielerin, hab' ich hundertmal sterben sehn; da hab' ich mich dran gewöhnt!«
Lina lachte etwas krampfhaft auf: »Sie sind furchtbar komisch! Wenn einer auf dem Theater stirbt, das ist mir auch ›pomade‹, wie sie in Berlin sagen. Aber so in der Wirklichkeit ...« Sie ging auf die Alte zu, und wie um ihre nervöse Aufregung loszuwerden, griff sie ihr neben dem Ohr in die dünnen, angegrauten Haare. »Jetzt könnt' ich Ihnen den ganzen Buschen ausreißen; – ja, mein Herz, das könnt' ich. Nun sagen Sie mal ehrlich, Sie altes Kind: haben Sie nicht geschwatzt?«
»Geschwatzt? Wieso?« fragte Lieschen, bei dem starken Zupfen das winzige Gesicht verziehend.
»Nu, ausgeschwatzt, aus dem Haus geschwatzt! An die Veit, die Christel! Woher hätt' die mir sonst damals das alles –«
»Ich? Nicht ein Wort!« beteuerte die Alte. »Nein; was denken Sie. Was Sie mir im Vertrauen erzählen, das ruht hier ja wie im Grab –«
»Ich trau' dir nicht, alte Mumie!« fiel ihr Lina ins Wort. Sie hielt noch immer den Haarbüschel fest und betrachtete sie forschend mit den katzenhaft eingekniffenen Augen. Plötzlich ließ sie sie aber los und horchte. Ein dumpfes, röchelndes Stöhnen kam aus dem dritten Zimmer. Es überlief sie wieder; es war, als säße jemand in dieser jungen Gestalt, der sie zittern oder erschauern lassen konnte, wann er wollte. Langsam, zögernd ging sie durch beide Gemächer bis an seine Tür. Sie schaute eine Weile hinein. Es war wieder still; nur sein hastiger Atem war dann und wann zu hören. Den Kopf leise schüttelnd kam sie zu Lieschen zurück.
»Es ist wohl bald aus?« flüsterte die Alte.
»Ich weiß nicht. – – Goldperlchen, sagen Sie. Wenn Ihnen jemand was angetan hat, können Sie das vergessen?«
»Ich? Ach, du lieber Gott. Das kann ich sehr gut. Wie oft hab' ich das getan.«
»Ich nie!«
Die junge Frau setzte sich auf Lieschens Tisch; ihre beiden Fußspitzen gingen hin und her. »Ich will Ihnen was sagen, Lieschen: ich war schlimm mit ihm. Ich hab' ihn nicht gesund werden lassen ... Wenn du mich ganz allein haben willst, hab' ich ihm gesagt, wenn du's nicht so halten willst wie mein dicker Ansbach, der sich mit Eifersucht und so was nicht plagte – dann mußt du mir auch die andern ersetzen, mein Bubi; dann will ich dir treu sein! – Er war aber noch nicht gesund ... Da hustet er sich nun tot. Ich hatt' ihn gewarnt. Ich hab' ihm einmal ins Gesicht gesagt: ich heirat' dich nur, weil ich mich für die Ohrfeig' von damals an dir rächen will. Da hat er gelacht. Und dann hat er gesagt: haben muß ich dich! – – Na ja; so ist die Geschicht' geschehn. Die kleine ›Kröt'‹ Lina Schellenberg hat den großen Mann – wie sagt man –«
Sie sagte es doch nicht zu Ende; es schüttelte sie wieder. Sie stieg herunter vom Tisch. Mit dem kleinen Tuch fuhr sie über ihre Schläfen. »Wär's nur erst aus!« flüsterte sie. – Etwas lauter sagte sie nach einer Weile: »Sie! Lieschen Goldperl!«
»Gnädige Frau befehlen?«
»Ist das wirklich wahr? Sie mit Ihrem Stimmchen wollten auch einmal zum Theater gehn?«
Die Kleine nickte sehr ernsthaft, wenn auch etwas schüchtern. »Das war ja damals anders: damals hatt' ich Stimme! Und meiner Schwester ging's gut beim Theater; sie spielte alles in Grund und Boden; sie kriegte Kränze und alles. Da ging ich zu einem, der mich's lehrte; und dann wollt' ich auch spielen. Aber die Schwester – –«
Sie bekam einen kleinen Zorn, so daß ihr dürres Händchen sich ballte und zu zittern anfing, und sprach nicht weiter.
»Nun, was war mit der Schwester?« fragte Lina, der das heimliche Lachen schon um die Lippen saß.
»Die Schwester war eifersüchtig auf mich«, piepte die kleine Stimme. »Sie hat mich nicht aufkommen lassen. Sie hat mir's vereitelt. Ich hab' die Jungfrau von Orleans spielen wollen –«
Jetzt hielt sich Lina nicht länger, sie brach in ein helles, schallendes Lachen aus. – »Die Jungfrau von Orleans! Sie!« rief ihre fast erstickte Stimme in das Gelächter hinein. »Das ist göttlich, Lieschen!«
Ein schrecklicher, hohler Husten, aus der erschöpften Brust hervorgepreßt, kam wie ein letztes Röcheln aus dem dritten Zimmer. Lina hörte es: plötzlich starb ihr Lachen. Die beiden fuhren auseinander wie ertappte Verbrecher. Die kleine Alte ward rot, Linas Mund blieb halb offen stehn. So horchten sie eine Weile, ohne sich zu rühren. Es war ganz still in der Welt, nur Leo Falks Husten erschütterte noch die Luft; aber immer schwächer und schwächer. Er losch gleichsam aus wie eine Flamme, der die Nahrung fehlt. Endlich hörte man wieder nur das kurze, jagende, fliegende, zuweilen pfeifende Atmen; auch das schien zu ermatten, zu schwinden; auch fuhr jetzt auf der Straße ein Wagen, der es überschallte.
Lina regte sich noch nicht und sprach nicht; sie sagte nur mit den Augen: jetzt stirbt er. Die Alte schüttelte aber das Köpfchen; ihre blaßgrauen Augen antworteten: noch nicht! – Nach einem neuen Horchen hielt die Junge es nicht mehr aus; sie ging leise durchs Zimmer, und weiter, und zu ihm hinein. Da lag dieses fremde, ausgehöhlte, totenhafte Gesicht auf dem weißen Kissen; der Maler Leo Falk, ihr Mann. Die Lippen, die sie einmal wundgeküßt hatten, waren ganz vergangen, in dem schwarzen Bart sah man sie nicht mehr. Sie sah aber den offenen Mund, der noch atmete; unbegreiflich schnell: sie zählte seine Atemzüge, horchte auf ihre eignen; sechs, während sie einen tat! – »Wie ist denn das möglich,« dachte sie, sich zusammenziehend, »kann man so noch leben?« – Und er lebte noch, wußte noch von sich; mit dem Reden war's aus, aber die Augensterne in den tiefen Höhlen folgten ihr durchs Zimmer. Sie ruhten fest auf ihr, so sonderbar, so unheimlich; als sprächen sie zu ihr, und nichts Freundliches ...
Es überlief sie wieder, und sie ging hinaus; diesmal ins vierte Zimmer, ihr Toilettenzimmer, in dem sie jetzt schlief. Leo horchte, wohin sie ginge; der Kopf, den er heben wollte, um ihr nachzuschauen, war ihm schon zu schwer. Sein Geist war in halbem Schlummer, durch das Morphium und den nahen Tod; was aber vor seinem Blick erschien, konnte er noch fassen; auch innere, matt leuchtende Bilder, dämmernde Gedanken, wie durch einen Schleier gesehn, tauchten noch in seinem Sterbetraum auf. Es kam ihm wunderbar vor, daß er ganz allein war; daß von all den Freunden, den Verehrern, den vornehmen und schönen Frauen niemand, niemand sich sehen ließ, ihm die Hand zu drücken ... Auch nicht die Fliegen, die ihn quälten, jagte man ihm weg; sein Arm war zu matt – »und die Frau,« dachte er, »die sieht's nicht; die tut's nicht« ... Da erschien sie wieder. Aber nicht an seinem Bett, sondern nur im Spiegel: in dem großen Stehspiegel, der schräg in seinem Zimmer stand, sah er ihre große, blühende, gesunde, sich langsam vorüberbewegende Gestalt. Also in ihrem Schlafzimmer war sie ... Ein schönes, verruchtes Weib. Sie stand vor ihrem eigenen Spiegel, den Puderquast in der Hand; dann fuhr sie sich damit, langsam und mehrmals, über die Wangen hin. Er verstand, was sie wollte; er war noch nicht tot, er verstand noch alles. Sie puderte sich weiß, um bleich und abgehärmt auszusehen; denn von selber kam's nicht ... Sie legte den Kopf auf die Seite, in den Spiegel blickend, und machte ein schmerzliches, tragisches Gesicht; und dann ein andres, noch verzweiflungsvoller; – »sie studiert sich die Trauer ein«, dachte er. »Für morgen oder übermorgen, wenn ich endlich tot bin! – O wie ich sie hasse ...«
Er sah ihr unverwandt zu, solange es dauerte; zuletzt ward's ihr langweilig, sie verschwand, kam wieder, mit einem vergilbten Lorbeerkranz, den sie sich ins Toilettenzimmer gehängt hatte (von ihrem Abschiedsabend in der Großen Oper), und vor ihrem Spiegel setzte sie ihn sich auf. Sie verneigte sich. Sie lächelte. Sie warf Kußhändchen. Leo sah ihr zu. »Sie will wieder tanzen,« dachte er, »wenn ich lange genug in der Erde liege ...«
»Gott sei Dank!« sagte er zu sich, »ich bin so im Dusel, es tut kaum mehr weh. – Ja, die Porzelläne ...« Wie kam er auf einmal auf die Porzelläne; das tat doch noch weh. Er sah sie im grauen Federhut und in der faltigen, behängten Jacke, wie Rubens' zweite Frau; wie damals, als sie bei ihm – – »Die hätt' ich heiraten sollen«, dachte er in seinem einschlafenden Hirn; »statt der mit den Kußhändchen. – – Nun ist alles eins ...«
Seine Gefühle vergingen; dann auch die Gedanken. Die Augen blieben offen, aber sie sahen nicht mehr. Das hastige, ruhelose Atmen hatte aufgehört; langsam, immer langsamer – viel langsamer als bei der horchenden Lina – senkte und hob sich die Brust. Endlich stand sie still. Es schien aus zu sein; – nach einer Ewigkeit kam doch noch ein letzter, in den Nüstern zitternder, lebenwollender Atemzug. Dann kam keiner mehr. Lina Falk war Witwe.