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XII

Die Lampe fing an zu flackern; Hermann sah es, mechanisch mit dem stierenden Aug', und fuhr aus seinen Gedanken auf. Wie viele Stunden er so dagesessen hatte, war ihm nicht bewußt. Ihn fröstelte; nur der Kopf war heiß. In seinem Gehirn war ein Wetterleuchten; wie vor zwölf Jahren, da er als Student, in demselben München, von der »Bavaria« weg nach Mittersendling in den Abend hineinstürmte, von noch fernen Gewittern umringt, die über dem Gebirg, über dem östlichen und westlichen Flachland unzählige Wetterscheine, blaue und rote Zickzacklinien auf die Wolkenwände warfen, ein ungeheuerliches, verwirrendes, ruheloses Schauspiel: so zuckten die Gefühle, die Gedanken hinter seiner Stirn, Größtes und Kleinstes, Nächstes und Fernstes sinnlos durcheinander. Das Flackern der Lampe rief ihn endlich gleichsam in die bürgerliche Wirklichkeit zurück; er stand gähnend auf – wie eine Maschine, die ordnungsmäßig eingreift – um sie auszulöschen. Er drehte und blies; sie erlosch. »Vielleicht schlafen gehn«, dachte er, da er sich nun im Dunkeln sah; »wenigstens zu Bette gehn ...« Durch die Stille der Nacht hörte er nichts als sein langes, tiefes Gähnen; ein Schmerz lag ihm wie ein Reif um den Kopf herum. Auch schien es ihm kalt in der Welt. Er fühlte wieder einen ersten Wunsch: ausgestreckt und bedeckt zu ruhn. Mit den Händen tastend, fühlte er sich hinaus, durch den Salon, durch sein Arbeitszimmer, bis er sein Schlafzimmer erreichte.

Eine sonderbare Angst befiel ihn. Es war tiefes Dunkel; ihm kam der Gedanke: wenn Milli hier wäre, mitten im Zimmer stünde; sowie er Licht machte, säh' er sie, wie sie ihn regungslos, gespenstisch anstarrt ... »Ich bin ganz verdreht«, dachte er; doch lief ihm ein Schauder vom Hinterkopf bis zur Ferse hinab. Er trat an seinen Toilettentisch und machte Licht; – niemand stand im Zimmer. Er sah es in dem Spiegel, vor dem er stand, den sein erster Blick traf. Sich selber betrachtend, nickte er sich zu: sein Aussehn überraschte ihn nicht. Er war wunderbar grau im Gesicht; mit einem grünlichen Anflug. Die zusammengepreßten Lippen schienen aneinanderzukleben. Die Schläfen waren wie eingesunken. »Ähnlich werd' ich wohl einmal aussehn,« dachte er, »wenn ich tot bin ...«

Er wandte sich endlich seinem Bette zu; auf dem Nachttischchen lag ein Brief. Die Aufschrift, mit dem Bleistift geschrieben, lautete: »An Hermann Ifinger.« Es war Millis Hand. Es war auch an dem Papier der Wohlgeruch, den sie liebte: Orangenblüte. Er blickte eine Weile auf den Brief hinunter, wie von einer hohen Bergstraße in ein verlassenes Land; dann öffnete er ihn und las:

»Ich habe Sie nicht heute und nicht als Ihre Frau betrogen; das schwöre ich Ihnen bei dem Leben meiner und Ihrer Kinder. Aber ich habe Sie betrogen, als ich Ihre Frau ward: ich hätte Ihnen sagen müssen, daß ich durch eine unglückselige Stunde nicht mehr würdig war, es zu werden. Ich wollte meinen Bruder retten ... Um diese Schuld zu büßen, die mich schon solange drückt, geh' ich nun fort wie eine schlechte Frau, verzichte auf meine Kinder, auf alles. Sie sollen mich nicht wiedersehn; hoffentlich auch nie von mir hören. Ich kann Sie nicht bitten, verzeihen Sie mir. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich nicht wieder schlecht geworden wäre. Verachten Sie mich, hassen Sie mich, ich will alles tragen.

Teilen Sie meinem Bruder mit, was Sie etwa von mir verlangen; niemand als er wird wissen, wo ich bin. Ich bin zu allem bereit, was Sie nötig finden. Nur noch ein letztes Wort: ich werde Ihnen gewiß keine Schande machen, solange ich Milli Ifinger heiße. Fürchten Sie das nicht. Leben Sie wohl!« –

Er las den Brief dreimal nacheinander; zuerst mit fliegenden Augen, dann langsam, fast Wort für Wort; zuletzt mühsam und stockend, da die Brust ihm vom Atmen schmerzte und qualvoll hervorgepreßte Tropfen sich ins Auge drängten. Als er endlich wieder bei dem »Leben Sie wohl« war, faltete er das Blatt zusammen – das noch immer so festlich und bräutlich duftete – steckte es in die Tasche und warf sich in allen Kleidern aufs Bett. Die gefeuchteten Augen schlossen sich; schlafen konnte er nicht. Nach dem wilden Gedankengewitter erwachte wieder in ihm – als wär' es sein Gewissen – sein klares, unaufhaltsames, unerbittliches Denken; das »Ifingersche Denken«, wie Erhart es einmal in Salzburg, im Scherz, genannt hatte ... »Warum hass' ich sie?« dachte er. »Warum verfluch' ich nun diese Ehe? Wer hat sie gemacht? War es nicht Hermann Ifinger? – Und wie hat er sie gemacht? – Mit den Augen: weil diese Evastochter ihm gefiel, weil sie reizend war. Hermann Ifinger, der Mann mit der Brille, der Mann ohne Namen – der sich so ungeschickt und eckig bewegt, der so wenig Schönheitssinn für sich selber hat, der so hastig spricht, daß man ihn kaum versteht, der von Franz Erhart nachgespielt wird – der stellt sich auf einmal hin, als wär' er der Paris, und sagt: malen kann ich nicht, aber wie die Maler leben, das will ich; in der Schönheit leben, aus dem Vollen leben, mit den Augen leben – was dann auch daraus wird! Und ohne nur abzuwarten, ob sie ihn auch lieb hat, geht er hin, weil sie ihm gefällt, und überrumpelt sie, als ihr weiches Herz um den Bruder jammert; und fragt nicht erst: »gutes Herz, wie ist dir? Hast du auch sonst noch Not? was hast du erlebt, um was zuckst du so – denn ich hab's gesehn!?« – Hatt' ich's nicht gesehn? Lief ich ihr nicht ruhlos nach, weil sie so verstört war? Ging mir nicht die Tage danach zuweilen eine Bangigkeit, eine Ahnung durchs Herz: was ist ihr geschehn? Sie ist ja jung, sie hat Blut, sie lebt unter den »Zigeunern«; irgendein Schicksal sieht ihr aus den Augen ... Aber ich! was tat ich? Ich sang wieder mein altes Lied: »Aus dem Vollen leben« – »Die Schönheit ist Sonnenschein« – und in diesen goldnen Schein flog ich wie die Motte. »Nur sie haben, sie haben; das andre findet sich ... Nun hat sich's gefunden. Ja, nun hat sich's gefunden. Das war keine Ehe, wie sie sich für Hermann Ifinger schickte; darum ist sie nun auch entzwei. Tu doch nicht so, als wärst du ohne Schuld; du hast sie so gemacht – hast sie mit zerbrochen!«

»Hast sie mit zerbrochen«, wiederholte er mit den Lippen, hörbar, vor sich hin; starrte zur Decke hinauf, die Augen zusammendrückend, die Zähne zusammenbeißend, und gab sich, wie mit weit geöffneter Brust, an den Richter hin, den er über sich da oben in den Wolken dachte. »Hast sie mit zerbrochen«, sagte er noch einmal ... Plötzlich aber warf er sich auf dem Bett herum, sein ganzes Unglück begann in ihm zu stöhnen und zu weinen, seine Tränen flossen; er schluchzte laut wie ein Kind.

Lange lag er so da ... Als der Morgen ins Zimmer schien, hob er verwundert den Kopf: er hatte sich offenbar, endlich ermattend, in den Schlaf gestöhnt, denn ein Traum, aus dem er eben erwachte, stand ihm noch vor der Seele. Ein Traum, der, wie es zuweilen geschieht, seine Gedanken zu Ende dachte; – tief staunend sann er ihm nach. Er glaubte noch die Worte zu hören und das Bild zu sehn: weit von hier, in Ifingers Heimat, den Garten seines Vaters; darin Leo Falk, der ihm gegenüberstand. Sie hatten Revolver in der Hand; Ifinger wollte schießen; sein Vater trat aus einer Laube hervor und schüttelte den Kopf. Indem ihm der Alte dann die Waffe langsam aus der Hand nahm, sagte er: »Hermann! Hermann! wer bist du? Hast du das Recht, du, Hermann Ifinger, der Welt einen solchen Künstler zu nehmen? Kannst du ihn ersetzen? Was geht denn die Welt dein kleines Mißgeschick an, daß sie darüber so einen Sonnenstrahl, so einen Elendvergolder und Schönheitsprediger verlieren soll? – Fühlst du dich ohne Schuld, dann schieß! Habt ihr beide Schuld, dann sag's: dann schieß' ich in die Luft!«

Ifinger wollte reden – – darüber war er erwacht; ein kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, an den Gliedern fror ihn. Er lag unbedeckt. Durch das offengebliebene Fenster kam die Morgenkühle. Er schüttelte sich, – und zugleich staunte er, mit finsteren Brauen, über diesen unvollendeten, niederdrückenden Traum. Wirkliches und Unmögliches floß ihm durcheinander; sein Vater, schon lange tot, in sein Schicksal hineintretend, mit so lebendiger Stimme – ihm war, als hört' er sie noch. »Fühlst du dich ohne Schuld, dann schieß« ...

Er sah gegen die Wand, schüttelte den Kopf – und stand auf. Es ließ ihm auf dem Lager keine Ruhe mehr. Die Sonne beschien die Dächer gegenüber und die obersten Fenster; der Tag war wieder da, das Leben begann seinen alten Lauf ... Er irrte durch die Zimmer. Als er in den Salon kam, sah er Christel, die die Bilder an der Wand mit einem Federwedel abstäubte. Sie war sehr blaß, und ihre Augen verweint; ihr stilles Gesicht verriet sonst nicht, was sie fühlte.

»Sie schon auf?« fragte er.

Sie antwortete mit möglichst gefaßter Stimme: »Ich war nicht zu Bett.«

»Wo ist – meine Frau?«

»Sie ist fort, Herr Doktor.« – Ein plötzliches, gleichsam noch zurückgebliebenes Schluchzen erschütterte sie. Sie überwand es aber schnell, und ihre bescheidene, schonende Ruhe kehrte ihr zurück.

»Seit wann ist sie fort?«

»Seit einer Stunde, Herr Doktor. Sie kam zu mir, ich war bei den Kindern; und sagte mir – daß sie fortgeht. Sie hat dann gepackt, ich hab' ihr geholfen. Sie hat auch etwas geschrieben, das hab' ich in Ihr Schlafzimmer gelegt.«

Er nickte.

»Dann hat sie im Kursbuch die Züge gesucht; ich hab' ihr geholfen. Und hat in meiner Kammer gesessen ... Als es dämmerte, hab' ich ihr einen Wagen geholt, um zur Bahn zu fahren. Dann hat sie noch einmal die Kinder im Schlaf geküßt und ist abgefahren.«

Sie schluchzte wieder einen Augenblick; doch dann war sie still.

»Und – – und was wird nun, Christel? Werden Sie mich jetzt verlassen?«

»O Herr Doktor! Herr Doktor!« rief sie mit einem Ton, der aus dem tiefsten Herzen heraufkam, und die großen Augen füllten sich mit Tränen.

»Gut; also Sie bleiben; ich dank' Ihnen. Wir – – wir reisen fort, Christel.«

Sie neigte den Kopf, als hätte sie das auch gedacht.

»Ich mit den Kindern und Ihnen. – Wann können wir fort?«

»Heute nachmittag.«

»Das wär' wohl gut. Aber so bald – – werden Sie das können, Christel?«

»Bitte, Herr Doktor,« sagte sie mit flehenden Augen, »fragen Sie so was nicht. Alles, was Sie wollen, das geschieht. Alles, alles geht!«

Sie legte sogleich den Wedel nieder und nahm ihren Schlüsselkorb, um die Koffer zu holen, die sie packen wollte. Ein paar Tropfen liefen ihr sacht an den Wangen nieder.

Die Türen bis zum Kinderzimmer standen offen; Ifinger horchte stumm. »Sie schlafen noch«, sagte Christel.

»Ich will zu ihnen gehn«, murmelte er, nach einem Atemzug, der nicht enden wollte.

Sie nickte vor sich hin. Er ging.


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