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II

Nachdenklich und an diesem »Rebus« herumrätselnd trat Erhart seinen Heimweg an; nachdenklich und kopfschüttelnd kam er wieder in sein einsames Häuschen. Die Sache war »nicht geheuer«; – indessen, zu wem sollt' er davon sprechen? Für Ifinger war Leo (der Mensch, nicht der Künstler) tot; Waldsee bewunderte ihn als Talent, sein übriges Leben und Treiben erschien ihm unerfreulich und gleichgültig. Erhart schwieg denn also; wie locker ihm sonst auch das Wort auf der Zunge saß. Er fuhr nur von Zeit zu Zeit wieder in die Stadt, um nach dem Kranken und seiner »barmherzigen Schwester« zu sehen. Man ließ ihn aber nie mehr ein, sonderbarerweise. Bei Leo empfing ihn ein neuer Diener, der ihm jedesmal versicherte, Herr Falk schlafe eben; es gehe ihm aber besser, immer besser und er hoffe die freundlichen Besuche demnächst zu erwidern. »Diese schöne Rede hat er jedenfalls nicht von Leo!« dachte Erhart, wiederum den Kopf schüttelnd. Endlich gab er es auf, an Leos Tür zu »drücken« und dem Diener seine Rede von neuem zu überhören. Er erfuhr nur einmal von Schwalbe, an den er geschrieben hatte, Meister Leo sei wirklich schon auf gutem Wege; noch nicht wiederhergestellt, aber heiterer, hoffnungsvoller, entschieden in der Besserung; die schöne Lina fahre fort, ihm dabei zu helfen.

So verging der übrige Sommer, und es kam der Herbst; in einem Weinland, wie das von Klosterneuburg, wohl die schönste Zeit. Die Freunde hatten ihren Abhang, den sie als ihre »Sommerfrische« ansahen, gar nicht verlassen; nur einmal war der Graf auf eine Woche verschwunden (wohin, wußte nur Hermann), sonst kam er alltäglich, mit unerwarteter Ausdauer, um im Laboratorium mit Ifinger zu arbeiten. Erst im späten Herbst wurde er nochmals unsichtbar; mehrere Tage erschien er nicht. Das befremdete den kleinen Hans, der sich an seinen Freund, den Grafen, aufs innigste gewöhnt hatte. Er ging auch frei mit ihm um; auf Erharts Anstiften nannte er ihn sogar »Spitzkebube« und begrüßte ihn zuweilen mit »Serbus, du Lump«. In diesen Tagen lief er oft zu Christel, der er alles und jedes aufs Herz legte, und fragte sie in immer neuen Wendungen, was sie davon denke, daß der Onkel Waldsee nicht komme? Am Sonntag wurde ihm endlich die Sache so wichtig, daß er sie dem Vater vorzutragen beschloß. Er kam nachmittag mit ihm aus dem Garten, wo Vater und Sohn, »die beiden Bastler«, wie Erhart sie nannte, eine Pflanze und einen Käfer studiert hatten; denn auch in dem vierjährigen Hänschen rührte sich schon der Forscher. Auf der kleinen Terrasse vor dem Hause saßen Christel und Grete, da der Tag so mild war. Man blickte von da auf die Fahrstraße, die unten am Garten vorbeiging, auf den Eisenbahndamm, die Wälder an der Donau und den Bisamberg. »Vaterle,« sagte der Bub, als sie sich gesetzt hatten, »laß dich doch was fragen. Warum kommt Onkel Waldsee gar nicht mehr von Wien? Ist er denn gestorben?«

Ifinger schüttelte lächelnd den Kopf: »Dann würd' ich ja traurig sein, und das bin ich doch nicht. – Er hat Besuch in Wien; darum kommt er jetzt nicht.«

»Wer besucht ihn denn?« (Hänschen hielt noch auf die alten, farbigeren Vokale, die wir nicht mehr sprechen.)

»Bub, du fragst viel, wenn der Tag auch kurz ist. – Wer den Onkel besucht, brauchen wir nicht zu wissen; das geht uns nichts an, wir sind auch nicht neugierig.«

Das Kind sah am Vater hinauf, neben dem es saß; diese Seelengröße war ihm unheimlich. Dann sagte es vor sich hin, als spräche es nur mit sich: »O ja, neugierig bin ich wohl. Aber der Onkel, der sagt es nicht.« – Mit einem drolligen, kindlich altklugen Achselzucken, das Hans sich vor kurzem angewöhnt hatte, setzte er hinzu: »Nun, dann hilft es nicht!«

»Jetzt will aber ich was fragen«, nahm Ifinger wieder das Wort. »Neulich klagte die Grete, daß die Lerchen nicht singen; die hört sie so gern. Nun, du kleine Grete, warum singen sie denn nicht mehr?«

Gretchen, die neben Christel saß und sich anstellte, als ob sie stricke, hob die unschuldigen Augen auf, die träumerisch sinnigen, und sagte mit Anstrengung, da das R im Anfang der Worte ihr noch große Mühe machte: »Ich will Karistel faragen!«

»Ach, Christel weiß das nicht«, fiel Hänschen überlegen ein; obwohl sonst auch er sehr fleißig aus dieser Quelle schöpfte. »Ich weiß es. Die Lerchen singen nicht, weil heut' Sonntag ist.«

»Wieso?« fragte Ifinger.

»Onkel Erhart hat mir einmal gesagt, am Sonntag singen die Lerchen nicht.«

»O diese Onkels –!« dachte Ifinger. – Eh' er noch dazu kam, die Wahrheit in dieser Sache an den Tag zu bringen, hob Grete ihre kleinen Hände, deutete auf den Fahrweg hinab, wo eben ein Knabe eine Ziege vorbeiführte, und rief fröhlich aus: »Da geht eine kleine Kuh!«

Christel lachte leise. Der so viel reifere Hans schaute die Erwachsenen, dann mit mitleidiger Geringschätzung seine Schwester an. Gleich darauf sagte er aber verzeihend: »Sie meint eine Ziege. Sie ist ja erst drei Jahre alt!«

Nun blickte auch Ifinger auf den Weg hinunter; er sah das mißverstandene Tier, – zugleich ging es wie ein Schlag durch ihn hin. Er bemerkte noch etwas, eine dunkelgekleidete, zierliche Gestalt, auf die ihn ein Briefchen des Grafen vorbereitet hatte – und doch durchfuhr es ihn, sie nun wirklich zu sehn. Die Baronin stand auf der Fahrstraße, mit ihrer Kammerjungfer, einem blonden, bescheidenen Mädchen. Sie schien ihn in diesem Augenblick zu erkennen, denn sie winkte ein wenig, fast ohne Bewegung des Arms, mit dem Taschentuch. Ifinger sprang auf. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, er wußte nicht, warum; er rief aber Christel mit Fassung zu: »das ist die Baronin!« Dann lief er den breiten Weg im Garten hinab, seinem Gast entgegen.

Unterwegs durchflog es ihn: »nun, wie ist mir zumut?« Geschwind, wie Gedanken sind, kamen ihm die Träume wieder, die er in den ersten Zeiten hier noch im Schlaf und auch in halbem Wachen geträumt hatte: Donna Clara stand auf der Straße – wie jetzt – kam, ihn zu besuchen; sie schüttelte dann lächelnd den Kopf: »was haben Sie von mir gedacht? Ich liebe ja niemand als Sie. Ich will ja keine Liebe als Ihre. Sie haben nur geträumt. Da bin ich und nur für Sie!« – – Jetzt stand sie da, leibhaftig: aber sie kam von Waldsee. Wie war ihm? Wie ertrug er das? Konnte er sich freuen? Ward ihm die Brust zu eng? Fühlte er nur Bangen?

Auf einmal stand er vor ihr; die Gedanken waren alle fort. Er sah nur ihr holdes Gesicht; es leuchtete, es lachte von Glück; zugleich strahlte ihn ihre unschuldige, liebevolle Treue, ihre Freude an. Freude! Auch er fühlte weiter nichts. Nein, nein, weiter nichts. Ihr Glück ging auf ihn über wie der Sonnenschein. Er nahm ihre beiden Hände, lächelte ihr zu; er hätte sie umarmen können, auch nur so aus Freude. »Liebe Donna Clara!« sagte er bewegt, aber heiter, fröhlich.

»Ich konnte doch nicht nach Wien kommen, ohne Sie zu sehn«, antwortete ihre weiche, seelenwarme Stimme. »Wie sind Sie braun; das ist gut! – Oh, ich bin sehr traurig, Sie nicht mehr in München zu haben; – Gott sei gelobt, nun führen mich Geschäfte, Einkäufe nach Wien; wir haben da viel zu tun, fragen Sie Johanna ...« Sie deutete auf die Jungfer, die rosig und frisch, mit lächelnden, blutroten Lippen, neben ihr stand. »Ich bleibe aber noch, und sehe Sie noch viel. Jetzt führen Sie mich zu Ihr Haus, da müssen Sie mir sagen, dass Sie mir noch treu sind; Sie wissen, ohne Erklärung zweifle ich von alles und von allen!«

Ifinger lächelte wieder; die »reine, destillierte Treue« – er fühlte es selbst – sah ihm aus den Augen. Er reichte ihr den Arm; sie gingen den Garten hinauf. Christel hatte sich aus Zartgefühl mit den Kindern entfernt, um das erste Wiedersehen nicht zu stören; erst als sie die Jungfer auf der Terrasse allein zurückbleiben sah, kam sie zugleich zu ihr. Ifinger führte seinen Gast die Treppe hinauf ins Laboratorium, wo Glasschränke mit Flaschen, Retorten, Mikroskopen, Geräten aller Art, und an den Fenstern die großen Arbeitstische standen. Er nahm wieder ihre Hand, und deutete umher, und auf Waldsees Tisch. »Hier,« sagte er, »wo Er mit zu Hause ist, wollt' ich Sie begrüßen!«

»Er«, »Er«, wiederholte sie, und ihr Glück strahlte ihn wieder an. »Nun,« setzte sie lächelnd hinzu, »wie sind Sie mit ihm zufrieden? Ist er brav? Ist er gut?«

»Für einen Verliebten fast übertrieben brav«, antwortete Ifinger.

»Lieben Sie ihn jetzt?«

»Ich kann nicht mehr zweifeln!«

»Guter, teurer Freund! – Von unsere Dankbarkeit reden wir jetzt nicht; dazu haben wir unser ganzes Leben Zeit – und ich leb' noch lange, nicht wahr? – Von Hunger oder Wasser oder sonst etwas Freiwilliges will ich jetzt nicht sterben ... Die Scheidung ist nun endlich im Gang; ich hab' an den Grafen erzählt, wie's gekommen ist, er kann's Ihnen sagen. Ich wollte den Baron nicht belügen, können Sie sich denken, wollt' ihm gleich im Anfang sagen, daß der Graf es ist, nicht Doktor Ifinger; daß ihn seine ›Ahnung‹ doch einmal getäuscht hat ... Aber da hat er mir das Wort sogleich abgeschnitten: ›Bitte, keine Bekenntnisse – diese sind überflüssig. Ich wünsche nichts zu hören – wünsche nichts zu wissen. Wenn wir uns trennen, so tun wir es in Freundschaft und Vernunft, und nur für uns selbst!‹ – Dabei ist's geblieben ... Die Galerie, die eigentlich an alles schuld ist – denn die hat ihn ganz von mir entfremdet, und dann mich ganz von ihm – die ist auch sein Trost: wenn er erst Witwer von mir ist, denkt er, dann ist er völlig verheiratet mit seiner Galerie!«

»Also er weiß noch nicht, daß Waldsee –?«

»Nein, lieber Freund; – der Baron hat offenbar sein Stolz, der will von nichts ›wissen‹. Darum schweig' ich auch: nur um ihn zu schonen. Der Arme, er hat übrigens ein Kummer, der ihn sehr beschäftigt: es ist da noch eine andre Galerie, die ihn über den Kopf wächst: die ›Schackothek‹, wie die Leute sagen. Der berühmte Graf Schack hat sie angelegt, auf den ist er ›eifersüchtig‹; da trifft's ihn doch auch! – – Nun muß ich aber endlich auch Ihren Hänschen sehn; er ist doch zu Haus?«

»O ja –«

»Und die Bimba; und Christel. Ich muß mit Christel wirtschaftliche Gespräche haben; – ja, ja, lachen Sie nicht. Sie wissen noch nicht, wie sehr ›Er‹, ›Er‹ auf mich gewirkt hat; was Sie damals in seine Briefe lasen, das will ich nun alles, alles tun: ich will zuweilen sogar ›Pfannekuchen backen‹. Dieser schreckliche Graf hat schon eine große Demokratin aus mir gemacht! – – Fürchten Sie aber noch nicht das Schlimmste«, fuhr sie mit reizendem Lächeln fort; »so etwas von ein ›Schmetterling‹ bleib' ich darum doch!«

»Ich hoffe«, sagte er ebenso zuversichtlich lächelnd.

Sie warf einen Blick auf die Geräte und die Arbeitstische, auch einen aus dem Fenster; nahm ihren Hut vom Kopf und warf ihn auf Waldsees Tisch, als sei der Hut da zu Hause; dann stellte sich die kleine, um ein weniges mehr gefüllte, wie im Glück aufgeblühte Gestalt wieder vor Ifinger hin. »Und nun will ich Ihnen noch etwas sagen«, fing sie an; ihre Augen leuchteten warm. »Die Galerie ist an alles schuld, hab' ich vorhin gemeint; aber die Galerie ist doch nicht auf der Eisenbahn nach Wien zum Grafen gereist, um diesen blinden Mann die Augen zu öffnen – das haben Sie getan. Wie Sie das gemacht haben, das ist ein Rätsel für mich. Sie haben's aber gemacht! Oh, dafür bin ich Ihnen so dankbar, so dankbar – und hab' mir auch gelobt, Sie dafür zu küssen; aber ›Er‹ soll es wissen – und ›Er‹ soll es sehn. Also wenn er hier ist; und wenn Sie nicht einen Abscheu davor haben – – den haben Sie aber nicht. Und nun führen Sie mich zu Hänschen und die andern; ich muss mich zu mein Trost überzeugen, daß die Gattung Hermann Ifinger nicht ausstirbt!«

Wie ein Vogel, oder wie eine zierliche, wandelnde Weingeistflamme huschte sie hinaus, und wieder die Treppe hinab. Im Terrassenzimmer fanden sie Christel mit den Kindern und der Kammerjungfer. Die Baronin begrüßte die Kleinen mit ihrer raschen Lebhaftigkeit, die aber diese etwas weltfremden Geschöpfe eher zu beunruhigen als anzulocken schien. Sie gab beiden die Hand; dann beugte sie sich zu Hänschen nieder und fragte: »Gibst du mir auch einen Kuß?«

Der kleine Ifinger betrachtete sie prüfend. Zunächst aber zog er sein blondes Köpfchen vorsichtig zurück, während die Beinchen stehenblieben, und antwortete in tiefem Ernst: »Bis später!«

Vater Ifinger lachte laut. »Das ist ein geborener Forscher!« sagte er zu der etwas verblüfften Baronin; »er will offenbar erst abwarten, ob Sie ihm gefallen. Auch sagt er als Bayer ›bis‹; ›später‹ allein wär' genug. – Hier brauchst du nichts abzuwarten, Junge!« Damit wandte er sich an den Kleinen, der nun doch ein wenig verwirrt und verlegen dastand. »Das ist keine gewöhnliche ›Tante‹; das ist die Poesie. Wer die küssen darf, der besinnt sich nicht. Halt dein Mäulchen nur hin!«

Der Bub blieb sich aber treu; er tat noch ein paar Schritte auf die Seite und sah die »Poesie« von dort an; erst nachdem er dies getan, kam er auf sie zu und sagte treuherzig: »So, nun will ich auch!« – Darauf streckte er das liebliche Gesichtchen gegen sie hinauf. Die Baronin lächelte, mit einem Blick auf den Vater, der zu sagen schien: »die Gattung stirbt doch nicht aus!« – Dann beugte sie sich tief und küßte ihn auf den Mund; und nach ihm das Gretchen.

»Guten Tag, Christel!« sagte sie nun freundlich, fast herzlich. Christel, die bis dahin mit zusammengelegten Händen bewegungslos dagestanden hatte, wurde dunkelrot. Es schien etwas ganz Besonderes in ihr vorzugehn. Sie tat einen tiefen, starken Atemzug; dann plötzlich mit einem Anlauf, wie wenn sie über einen breiten Graben spränge, und mit etwas zitterndem Lächeln, antwortete sie in französischer Sprache: sie freute sich sehr, nach so langer Zeit die Frau Baronin wieder zu begrüßen.

»Was ist das?« sagte die Baronin, nachdem sie Ifinger – der ebenso überrascht war wie sie – und das noch ganz erglühende Mädchen zweimal angesehen hatte. »Sie – – Sie sprechen französisch?«

»Ein wenig«, erwiderte Christel mit einem neuen Anlauf in derselben Sprache. »Verzeihen Sie diese Dreistigkeit. Ich war so feig, so furchtsam, und wollte das durchaus überwinden ... Bitte, verzeihen Sie!«

»Aber was ist da zu – – Und es klingt so gut – so pariserisch! Was haben Sie gemacht? Wie haben Sie das gelernt?«

»Der gute Herr Doktor hat mich's gelehrt«, antwortete Christel – diesmal aber auf italienisch. – Die kleine Baronin wurde ganz verwirrt und warf den Kopf hin und her.

»Italienisch auch?« rief sie mit einem drollig unheimlichen Ausdruck, mit einer Art von Entsetzen aus. »Ja, was ist denn geschehn? – – Freilich, das hatten Sie ja in Südtirol gelernt. Aber daß sie so mir nichts dir nichts – als verstünde sich das von selbst – – Und mit dieses Gesicht; diese Augen. Lieber Freund! Was haben Sie da gemacht?«

Ifinger lächelte. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt,« sagte er, an der Brille rückend. Er war aber doch auch betroffen, ziemlich aus der Fassung; und als hätte man ihm ein paar neue Augen gegeben, sah er die beiden Frauen, die sich da auf einmal gegenüberstanden, wie etwas Unerwartetes, Fremdes an. Ein sonderbarer Zufall wollte, daß sie beide fast dasselbe Dunkelviolett trugen; die Baronin in einem zarteren Stoff, aber auch Christels Kleid war feiner als gewöhnlich, Ifinger hatte es ihr zum heiligen Christ beschert. Von der kleinen »Fee« ging, wie immer, ein Duft des Aristokratischen aus, für den es keine Worte gibt; um so wunderbarer war, daß das »Mädchen aus dem Volk«, diese große, etwas schwere Gestalt, sich daneben doch nicht wie eine Plebejerin ausnahm. Sie erschien nur wie eine andre Rasse, wie eine richtige Germanin neben der gemischten. Sie hatte nicht die feinen Knochen der zierlichen Donna Clara, aber alles an ihr war Kraft, Gesundheit, angenehme Fülle; auch fiel ihr ebenmäßiger Wuchs auf, dem ihrer schöneren Kusine ähnlich. Die großen, samtbraunen Augen erinnerten dagegen an die der Baronin; Ifinger, der in der Mitte stand, bemerkte ganz verblüfft, wie diese vier verwandten Augen aufeinander blickten. Die der Donna Clara waren noch etwas tiefer gefärbt, und das Weiß umher war noch bläulicher.

»Aber lieber Freund!« fing die kopfschüttelnde Baronin nach einer beobachtenden Stille wieder an, indem sie unwillkürlich nach seinem Arm griff. »Sagen Sie mir nur, wie ist das gekommen? Wann und wie und wo haben Sie sie das gelehrt?«

»Schon in München«, erwiderte er; »hier hab ich's dann fortgesetzt. Die Zeit war ja da, man brauchte sie nur zu nehmen. Sie hat aber entschieden Talent!«

»Das scheint so«, murmelte die Baronin. Plötzlich sprang sie auch ins Französische und warf dem Mädchen einige ihrer kleinen, geflügelten Sätze ins Gesicht. Christel errötete wieder tief, bis zur Stirn hinauf; aber sie faßte sich. Nach kurzem Besinnen gab sie fließend Antwort. Die Baronin stutzte von neuem; dann fuhr sie jedoch eifrig fort, auf sie einzureden. Wie ein kleiner Professor, der einen Schüler gründlich prüfen, vielleicht wohl auch einmal aus der Fassung bringen will, feuerte sie ihr schönstes Französisch auf das große Schulmädchen ab. Diese hielt sich tapfer; sie sann oft ein paar Augenblicke nach, sprach aber darauf in wohlgesetzten, auch wohlklingenden Worten. Einigemal wagte sie sogar einen Scherz, und nicht ohne Geist. Die kleine Grete, die an ihrer Christel wie an einem Turm hinaufsah, hörte tiefverwundert zu; Hans war bald nach dem Kuß, von einem Geräusch gelockt, aus der Tür gelaufen.

Auf einmal unterbrach er das Gespräch durch seine laute Stimme, schon von draußen her, und stürzte hastig herein. »Du, deine Tante ist da!« rief er Christel zu. »Sie sagt, daß sie es ist! Sie sagt: Anna Veit! – Noch eine ist mitgekommen ...«

Christel, von der Aufregung wie in Flammen, warf einen fragenden Blick auf den Hausherrn. »Gehn Sie, begrüßen Sie sie«, sagte Ifinger. »Hernach tu ich's auch!«

Das Mädchen verneigte sich gegen die Baronin, mit einer eigentümlichen, erregten, noch etwas schüchtern feierlichen Anmut, und ging mit den Kindern, die sich an sie hängten, hinaus. Die Kammerjungfer folgte. Donna Clara ging ihnen nach, bis zur Tür. Dann kam sie zurück. Die sonst so lebhafte Gestalt war ganz still; alle ihre Glieder schienen mitzudenken. »Lieber Freund,« sagte sie, – »ich bin starr!«

»Warum?«

»Warum? – Ich bin ja doch nicht mehr so jung; aber etwas Ähnliches hab' ich nie gesehn. Das ist ja nicht mehr derselbe Mensch – diese Christel da. Die hat sich verwandelt; ›verpuppt‹, wie es ja wohl heißt. Sehen Sie denn das nicht?«

»Allerdings. Gewiß. Sehr, sehr verändert ... Aber Sie wissen: was man täglich sieht –«

»Aber diese Augen! diese Augen!« unterbrach sie ihn. »Bemerken Sie das denn nicht? Wundern Sie sich nicht? – Ich sah sie einigemal in München, sie gefiel mir sehr; aber seitdem – seitdem – –«

Sie schüttelte immer wieder den Kopf, und warf auf Ifinger von Zeit zu Zeit einen befremdeten, sozusagen unheimlichen Blick. »Was ist das für eine Tante von ihr?« fragte sie dann plötzlich.

»Nur so 'ne Miniaturausgabe«, antwortete er; »aber Leben für drei darin. Ich hab' sie als Besuch kommen lassen für Christel und die Kinder –«

»Und der Mund! der Mund!« rief die Baronin wieder aus, die an ihren eigenen Mund mit den Fingern anschlug. »Was für Geist da sitzt; und was für ein Leben. Und wieviel Charakter. Was haben Sie denn nur mit ihr angefangen? Sagen Sie doch! reden Sie doch! sei'n Sie doch nicht so stumm!«

»Aber Sie machen mich ja so stumm!« erwiderte Ifinger. »Ich denk' über Ihr Erstaunen nach. Ich erstaune mit! – Was ich mit Ihr angefangen –? Sie war da; weiter nichts. Sie hat unsre Gespräche gehört; hat auch mitgesprochen. Ihre Augen und Ohren, scheint mir, waren immer offen –«

»Und auch der sechste Sinn!« fiel sie ihm ins Wort.

»Was ist das für einer, wenn ich fragen darf?«

»Der Sinn, den die Frauen allein haben; mit den sie das alles verstehn, was die fünf andern nicht können. Ja, ich glaub' an es – an ihn –«

»Womit, wenn ich fragen darf?«

»Womit ich an ihn glaube? – Nun,« sagte sie lachend, »eben mit diesen sechsten Sinn! – – Aber ernst gesprochen: woher hätte das Mädchen sonst dieses feine Benehmen, diese Haltung, diese – – ich bin außer mir, lieber Freund. Sie sprachen von ›Talent‹; das ist mehr: das ist ja Genie! – Wie können sie zu der noch ›Christel‹ sagen; die ist ein Fräulein – eine Erzieherin – eine Gouvernante. Schauen Sie sie doch an: das ist eine junge Dame, die führt Ihnen das Haus!«

Ifinger zuckte die Achseln, und sah vor sich hin. Er war selbst verwirrt; um es zu verbergen, suchte er zu scherzen: »Ihre Vorwürfe treffen mich nicht; ich bin ohne Schuld. Wenn irgendein Taschenspieler das Mädel vertauscht hat – ich hab's nicht getan! – – ›Genie‹ ... Ja, ja, es sieht fast so aus: es ist wohl was dran. Sie lernt alles und faßt alles, als verstünd' es sich ganz von selbst; nur so mit dem Kraftüberschuß, der bei ihr immer da ist. Der will immer heraus ... Wie sie Ihnen jetzt gegenüberstand, dieses ›Fräulein‹ Christel ... Das hatte sie sich offenbar ganz still ausgedacht: wenn ich die Baronin einmal wiedersehe, spreche ich Französisch!«

Donna Clara überlegte, und nickte ...

Ifinger wollte weitersprechen; plötzlich wandte er den Kopf und horchte. Draußen auf der Terrasse hörte er Christel sehr verwundert und mit ungelenker Stimme sagen: »Der Herr Falk? die Lina?« Dann kamen ein paar eifrige, laute Worte der alten Veit, und er wurde blaß. »Verzeihen Sie!« sagte er rasch, »einen Augenblick – und öffnete die Tür, die ins Freie führte.

Draußen standen die andern mit der lebhaft gestikulierenden Alten – sie kam ihm noch kleiner vor als in früheren Zeiten – und mit einem wunderlichen, dürren Geschöpfchen, das er nie gesehen hatte. »Guten Tag, Frau Veit«, sagte er etwas überstürzt, hinaustretend; »grüß Sie Gott, seien Sie willkommen ... Was erzählen Sie da von der Lina?«

Christel heftete die großen Augen auf ihn, rührte sich aber nicht. Die Alte stürzte sich auf seine Hand, die sie offenbar küssen wollte; da er sich dem entzog und ihr die Hand nur drückte, stieß sie dann hervor: »Ja, man sollt's nicht glauben, Euer Gnaden, aber wahr ist's, wahr ist's. Die Lina macht ein großes Glück – oder wird's ein Unglück – Gott allein mag's wissen. Sie hat ihn geheiratet; das heißt, er hat sie! Diese Erzka – –«

Sie brach ab mit einem Blick auf die Kinder, und legte sich die große Hand auf den großen Mund. Ihr schönstes farbiges Tuch, das sie umgebunden hatte, ging dabei mit in die Höhe. Ein etwas närrischer, lustiger Hut saß auf ihrem ernsthaft ausdrucksvollen Kopf.

»Wer hat sie geheiratet?« fragte Ifinger.

»Der hochberühmte Herr Falk, Euer Gnaden, dieser große Maler! Der, von dem das Kinderbild war im Münchener Kunstverein – wo dieser dreizehnjährige Fratz wie ein Engerl aussah – müssen sich erinnern – nu ist der Fratz seine Frau!«

»Da werden Sie doch wohl irren«, murmelte Ifinger, der zu lächeln suchte; – die Baronin war auch herausgetreten und stand neben ihm. »Leo Falk – – er war ja noch gar nicht gesund, wie ich neulich hörte. Er sollte nach Italien gehn –«

Die Alte, die sich vor der Baronin verbeugt hatte, wandte sich jetzt, wie man einen Kreisel dreht: »So sag' du's ihm, Goldperl! Sag' dem gnädigen Herrn, was du weißt!« Sie nickte gegen ihre Begleiterin, die etwas zurückstand, ein so hageres, ausgetrocknetes kleines Frauenzimmer, daß es unglaublich schien, wie man mit so wenig Feuchtigkeit und Fett noch herumgehn könne. Von oben bis unten war sie dunkelgrau, und in ärmlichster Einfachheit, aber höchst reinlich gekleidet ... »Ist nämlich auch aus unsrer Gegend«, fuhr die Veit sogleich fort; »Lieschen Goldperl heißt sie. Und sie lebt in Wien. Von der hab' ich's ja. Die war ja mit dabei!«

»Bei der Hochzeit?« fragte Ifinger.

»Nu, so sag's doch, Goldperl!« rief die Alte aus.

Plötzlich hörte man die Stimme dieses verdorrten Alräunchens, die so fein und dünn hervorpiepste, daß Ifinger fast zusammenfuhr. »Nein, bei der Hochzeit nicht!« sagte das Geisterstimmchen, wie aus einer Flasche. »Aber die Lina – oder das Fräulein – ist sehr gut mit mir. Wenn ich bei ihr näh' und schneidere, erzählt sie mir so viel. Und ich hab' mir's schon lang' gedacht!«

»Was haben Sie gedacht?« fragte Ifinger.

Sie machte eine Art von Knicks, da er sie jetzt persönlich angeredet hatte. »Daß sie ihn doch kriegen wird!« piepte sie dann weiter. »Und nun hat sie ihn auch gekriegt: – ich soll's zwar nicht sagen – aber die Geschichte ist ja nun schon so lange her. Und irgendwann einmal will man's ja doch sagen. Ja, sie hat ihn richtig gekriegt!«

Ifinger trat ihr ungeduldig näher, so daß sie zurückwich, als wäre sie sein Schatten. »Aber wann denn? wie denn?«

»Schon vor zwei, drei Wochen«, antwortete das Geschöpfchen und strich sich die zum Teil ergrauten Haare aus dem kleinen Gesicht. »Es sollt' eine ganz stille Hochzeit werden; die Lina, die wollt' es so. Oder wollten es beide so. Das weiß ich ja nicht. Darum sind sie abgereist, ich weiß nicht wohin – eine kleine Stadt – und haben da geheiratet. Das weiß ich gewiß!«

»Hm!« kam es aus Ifingers Brust. Er warf einen unwillkürlichen Blick auf Christel, die ihn äußerlich ruhig ansah; dann auf die Baronin. Die gab aber nicht acht, sie blickte in den Garten.

Sie hatte den Grafen bemerkt, der eben auf der Fahrstraße aus einem Wagen gesprungen war und, eine Zeitung in der Hand, den Gartenweg heraufkam. Waldsee begrüßte die Baronin, als hätte er sie heute noch nicht gesehn, und mit unbefangen freundschaftlicher Ergebenheit. Dann schüttelte er das Zeitungsblatt in der erhobenen Hand. »Da haben die guten Leute wieder was zu schwatzen!« sagte er, mehr zu Ifinger gewendet.

»Was gibt's?« fragte dieser.

Waldsee schlug einige Blätter der Zeitung um und las: »Terpsichore hat, wie wir hören, eine ihrer begabtesten und reizendsten Priesterinnen verloren, dagegen ist der bildenden Kunst eines der ›feschesten‹ Modelle, das ihr verlorengegangen war, wieder zugefallen. Meister Leo Falk hat den ›Frühling‹ geheiratet. So hieß auf einem seiner früheren Bilder Lina Schellenberg, die vor einigen Wochen in Linz, in aller Stille, Frau Lina Falk geworden ist. Wir hoffen ihr nun noch auf manchem schönheitstrunkenen Bild unsres hoffentlich ganz genesenen Meisters zu begegnen.«

»Denn das wußte ich ja gewiß!« piepste Lieschen Goldperl wieder, die nun selbstbewußt nickte. »Das mit ›Terpsichore‹ hab' ich auch gewußt; denn an den jungen Herrn von der Zeitung wollte sie so schreiben. – Ja, sie hat ihn gekriegt!«


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