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Dieser Abend im Hotel Imperial war für Ifinger wohl nicht eigentlich ermutigend, sich in die Welt zu stürzen; dennoch fuhr er nun darin fort, um sich zu »zerstreuen«, um dem häuslichen Grübeln und Träumen zu entrinnen. Schon am nächsten Tag erhob sich ein südlicher Wind, der den Schnee hinwegschmolz; die laue Luft täuschte in einen Frühling hinein, der freilich um ein Vierteljahr zu früh kam. Ifinger verließ sein Laboratorium, wie ein Schüler hinter die Schule geht, und wanderte zu Fuß an der Donau nach Wien. Er zog durch die Straßen, als wäre er auf der Reise, betrachtete die neuen Häuser und Plätze, die Prachtgebäude, das menschliche Gewimmel, suchte seine alte Freundin, die Kirche Maria-Stiegen mit dem zierlichen Kuppelturm, auf, verrichtete seine ketzerische, aber fromme Andacht in der herrlichen Dämmerung des Stephansdoms; und versenkte sich im »Belvedere« in die Bilder der alten Meister, die ihn freilich doch auch wieder an Christel und Erhart erinnerten, was sie gar nicht sollten: hier hatte Erhart dem Mädchen »alles Schönste gezeigt und erklärt« ... Auch ins Theater ging er; und am nächsten Morgen zog er wieder ebenso aus. Er irrte in der inneren Stadt herum, in den engen Gassen. Seine alte Gewohnheit und Liebe, »Entdeckungsreisen« zu machen, tauchte wieder auf; wobei er sich wunderte, wie viele dieser Gassen und Gäßchen er nicht kannte, wie mancher stimmungsvolle Platz oder Winkel ihn in sein halbverborgenes, halbstilles Leben zog. Nur dauerte diese alte Liebe heute doch nicht lange; immer ertappte er sich wieder, wie er weiterschlenderte, ohne etwas zu sehn, die Hände nach seiner Art auf den Rücken gelegt, den Kopf vorgeneigt, die Augen auf dem Pflaster, und die Gedanken weiter aufwärts an der Donau, von wo er sie am Morgen in die Welt entführt hatte.
So kam er durch die Augustinerstraße wieder in den neuen Stadtteil; die gewaltige, kalksteingraue Masse des Opernhauses stieg vor ihm auf. Er hob mechanisch den Kopf ... Was war das in diesem Augenblick? Träumte er im Gehn? Ihm war, als hätte er einen Wagen gesehn, der vorüberfuhr; und als hätte durch dessen offenes Fenster Leo Falks Gesicht ihn angeschaut, ihm zugelächelt, ihn mit einem Nicken begrüßt. »Mir scheint, ich hab' wirklich geträumt,« dachte er. »Vielleicht weil mir das Opernhaus in die Augen fiel, in dem ich den Leo damals zuerst wiedersah, hatte ich auf einmal diese verrückte Vision! – Übrigens, wenn's ein wirklicher Wagen war, so müßt' er ja noch da sein ...«
Er drehte sich um. Da fuhr allerdings ein Fiaker; – aber nun hielt er an. Eine kleine, schlanke Gestalt stieg aus. Es war Leo Falk. Er konnte gar nicht zweifeln. In einem braunen Mantel, einen weichen Hut von derselben Farbe auf dem Kopf, kam der Maler herangeschritten, grade auf Ifinger zu – als wär's eine Phantasie, ein Gespenst. Die erschreckende Farblosigkeit seines Gesichts widersprach dem nicht; auch nicht sein etwas schlotternder Gang, in dem der leichte, elastische Schritt aus Leos früheren Zeiten nicht zu erkennen war. Ifinger starrte ihn an. Das Nicken, das Lächeln, das er vorhin gesehn hatte, wiederholte sich. Auch grüßte Leo einmal, flüchtig, mit der Hand. Das Lächeln aber blieb; ein unheimliches, ja grauenhaftes Lächeln, da er nun herankam. Es war nicht sinnlos, nicht eigentlich verrückt, aber wie aus Verstand und Unverstand zusammengemengt; wie wenn ein Teil dieses Geistes lebendig, ein andrer tot sei. Mit etwas schleifenden Füßen ging der Maler von der Straße auf den Fußweg, stand vor Hermann, der sich noch immer nicht rührte, so hielt ihn das Grauen fest, – und reichte dem fast Entsetzten die Hand.
»Guten Morgen, Doktor«, sagte eine schwache, klanglose, hohle Stimme. »Man sieht sich ja so wenig. Ich hab' Sie, wer weiß wie lange, nicht gesehn ... Ich war übrigens ziemlich krank; werde jetzt allmählich gesund. Fahr' auch deshalb spazieren; – wohin? Ich weiß selbst nicht, wohin.« – Er lachte: »Ich sag' dem Fiaker, fahr' mich irgendwohin; und dann fährt er irgendwohin! – Aber Sie sollten mich doch – – Man sieht sich ja so wenig. Ich hab' Sie nicht gesehn, weiß der Teufel, wie lange nicht. Sie sollten mich doch besuchen, Doktor Ifinger. Ich wohne jetzt – –«
Er starrte in die Luft, und auf Hermanns Rock. »Ich wohne jetzt – – Ja, wo wohn' ich denn. – Warten Sie einen Augenblick ...« Er hob seine magere Hand und ergriff Ifingers Rockknöpfe, einen nach dem andern, als helfe ihm das suchen. Ifinger regte sich nicht; wie gebannt sah er in das blutlose, abgezehrte, verkleinerte Gesicht, das nun wieder zu lächeln suchte, aber ängstlich, verlegen, und aus dessen Augen zwei Gespenster auf einmal hervorgrinsten: der Wahnsinn und der Tod. Der Unglückliche zog die Brauen zusammen, als schmerze ihn das Denken. »Ja, wo wohn' ich denn ... Ja, wo wohn' ich denn ...« Endlich sagte er in einem Ton, wie wenn Hänschen spräche, mit einem schauerlichen kindlichen Ausdruck: »In der Augustenstraße vielleicht?«
»Vielleicht«, murmelte Ifinger, um etwas zu sagen.
Leo horchte auf. Die Stimme, obwohl sie nur zwei Silben gesprochen hatte, schien ihn an irgendwas zu erinnern. Er heftete die dunklen Augen auf Hermann; sie vergrößerten sich, es war auch, als belebten sie sich. »Augustenstraße – Augustenstraße –« wiederholte er. Ihm schien etwas aufzudämmern, das er in der Augustenstraße erlebt hatte ...
Plötzlich begann er zu zittern. Seine Knie bewegten sich und sanken nach vorn; die Finger wurden unruhig und rieben an den inneren Handflächen, daß es knisterte. Dann nahm er seinen Hut vom Kopf. »Entschuldigen Sie«, stammelte er; es war kaum zu hören. »Ich hatte – – ich – –«
Er brachte nichts mehr hervor; ob ihm nun die Zunge versagte, oder ob die aufgestiegenen Gedanken doch schon wieder vergingen. Die Beklommenheit, der starre, eingeschüchterte Blick verließen ihn aber nicht. Ein sinnloses Lächeln, das er noch versuchte, verschwand sogleich wieder aus dem kindlich ernsten, kläglichen Gesicht. Endlich ging er einige Schritte rückwärts; dann wandte er sich und, den Hut in der Hand, schwankte er, rascher als Hermann gedacht hätte, auf seinen Wagen zu, der auf der Straße hielt. Er stieg wieder ein; der Fiaker rollte davon.
Ifinger stand noch lange; in Gefühlen, die er nicht gekannt hatte, die zum erstenmal in sein Leben traten. Das war sein »Feind« Leo Falk! Eine wandelnde Leiche; ein hin und her flackernder Geist, während der Leib verging. Hatte er noch ganz begriffen, wen er eben begrüßt hatte? War nur eine Ahnung in ihm angezündet worden? Indem er nun weiterfuhr, wußte er noch, was er eben auf dieser Stelle erlebt, gedacht, gefühlt hatte? Wohin fuhr er nun? Zu langer geistiger Umnachtung, oder in den bald befreienden Tod? – Es sah aus nach Tod. Auf dem verzehrten, ausgesogenen Gesicht lagen schon seine bläulichen Schatten. Noch ein Stoß, und die lächelnde junge Leiche fällt hin ...
Es trieb Ifinger aus der Stadt; er hatte genug. Er fuhr zum Bahnhof, und so nach Klosterneuburg zurück. Still und gleichsam verstohlen ging er in seine Zimmer und an seine Arbeit; ihm widerstrebte, von dieser Begegnung zu sprechen; nur zu Christel hätte er gern – – doch das »schickte sich nicht«, wenn er vor den Freunden schwieg. Wie er sich ins Leben gestürzt hatte, so stürzte er sich nun wieder in die Einsamkeit; wie ein Wetterhahn hin und her, wenn die Winde wechseln. Er kannte sich selber nicht mehr ... War es ihm dann gelungen, bei der Arbeit, über guten Büchern dieses Gespenst Leo Falks, die aufgewühlten Erinnerungen und sein eigenes Ich zu vergessen, so kam gleich die Unruhe wieder, wenn er unten zur Mahlzeit erschien und Erharts Heiterkeit, Erharts Scherze mit Christel ihm das Blut erregten, wie sehr er sich auch sträubte. Sie führten ihn in die alten Zigeunerzeiten, in die Augustenstraße zurück; sie gemahnten ihn an Dinge, die sein Leben verstört und vergiftet hatten; und vor allem, sie gefielen ihm nicht ... Warum diese Scherze? Wie weit gehen die, und wo enden sie? Wozu dieser vertrauliche, freundschaftliche Verkehr des »Zigeuners« mit dieser Christel, mit einem – – Ja, mit was für einem? Was ist sie? Wie soll man sie nennen? – Sprach nicht auch Waldsee wie ein Freund mit ihr? Und er selber auch? Warum sollte denn nur Erhart nicht? Vergaß er denn die Achtung vor ihr? oder die gute Sitte? War er nicht harmlos heiter mit ihr, liebenswürdig nach angeborener Art, ritterlich wie – – Ja, ritterlich wie einst Leo Falk gegen die Porzelläne! – Da waren die Gespenster wieder, vor denen er floh: die blasse junge Frau in dem Krankenhaus, der wahnsinnig lächelnde Falk – und das Schlimmste, Schaurigste, weil noch Unsichtbare, das noch keinen Namen trug, das er kommen sah, vor dem ihm das Herz erbebte wie vor einem tödlichen Unglück – – und warum? warum?
Ein Unglück kam denn auch, nach jener Begegnung am zwölften Tag; aber nicht das, vor dem er sich fürchtete. Sie hatten miteinander getafelt, Waldsee, Erhart und er; Erhart in besonders fröhlicher, übermütiger Laune, trinklustiger als sonst, und gegen die aufwartende Christel voll von Neckereien, die, obwohl von der unschuldigsten Art, Hermann nicht erfreuten. Man saß schon beim Nachtisch; Christel ging ins andre Zimmer, doch die Tür blieb offen. Der Graf schälte noch eine Orange, dann wollte er nach Wien zurück. Erhart führte das Wort; er erzählte von einem Brief, den ihm Baron Pillnitz geschrieben, der, nach »Bieranien« heimgekehrt, seinen Beistand wünschte, um in seine Galerie auch einige verstorbene Meister dieses Jahrhunderts aufzunehmen: damit sie so mehr und mehr »die Galerie des neunzehnten Jahrhunderts werde« – und weil »diese vom Zeitgeschmack vernachlässigten Toten gewiss billig zu haben sind!« – »Der Nußnacker!« rief Erhart aus. »Er muß alles billig haben, denn ›er sammelt ja für die Menschheit‹, wie er neulich sagte. Er wußte ja von vornherein: ich, der freiherrliche Knabe Pillnitz, glühe für die Kunst. Ich werd' eines Morgens als Kenner aufwachen und dann nach einem tief durchdachten Plan meine ideale Schöpfung beginnen! – Na, ich hoffe, seine kleine Baronin hat auch ihren ›tief durchdachten Plan‹ und sammelt so nach und nach eine hübsche, lebendige Antipillnitzothek; Galerie gegen Galerie!«
Waldsee stand auf, und seine Orange rollte über den Tisch. Er war rot und bleich. »Sie sind ein alter Zyniker, das weiß ich«, sagte er mißvergnügt. »Sie sollten aber über eine Frau wie die Baronin lieber keine Scherze machen. Dazu fehlt Ihnen doch wohl – –«
Er brach noch rechtzeitig ab. »Guten Abend!« sagte er nur noch. »Ich muß fort!« – Er ging aus der Tür, zum Vorplatz. Gleich darauf verließ er das Haus.
Erhart sah die ungegessene Orange und dann Ifinger an. »Was ist das?« fragte er, noch in seiner Weinlaune. »Was heißt das? Waldsee so tragisch fort? Ist der etwa auch in Donna Clara verliebt?«
Hermann blickte nach der offenen Tür; er glaubte im Nebenzimmer Christel noch zu hören. »Schweig doch, du Lästermaul«, sagte er plötzlich gereizt. »Wenn das Späße sind, so sind sie zu schlecht. Und im Ernst, muß ich dir sagen, lass' ich so nicht reden. Weder über die Baronin, noch über Waldsee, noch auch über mich!«
»Bist du auf einmal närrisch geworden?« fragte Erhart, der doch wieder zu lächeln anfing. »Was ist dir geschehn? Ich stell' eine Frage an das Schicksal, ob Waldsee etwa auch in sie verliebt ist, und darauf fährst du mich an? Ist er denn etwa mehr als in sie verliebt? Hat er sie dir gar schon aus der Hand genommen? Bist du eifersüchtig? Gehört er bereits in die Antipillnitzothek?«
Ifingern schoß das Blut zum Herzen und ins Gesicht. Er sah in den großen Wandspiegel, dem er gegenübersaß; er erblickte Christel darin, die wirklich noch mitten im andern Zimmer stand. Sie schien auch zu erröten. Auf einmal hielt er sich nicht mehr; es war ihm, als wenn er von einer unerträglichen Last sich befreien müsse. Aufspringend und den Stuhl zurückstoßend preßte er zwischen den Zähnen hervor: »Verstehst du denn nicht – du Zigeuner du. Du weißt nicht, von wem du sprichst, weil du nur die Linas kennst – – und auch nicht, zu wem du sprichst. Mir gefällt das nicht. Ich nehme das nicht mehr hin. Ich wünsch' in meinem Haus reine Luft zu haben. Bitte, nimm das wörtlich. Schone deine Zunge – und mich – und uns alle! alle!«
Er warf die Orange zurück, die ihm in die Hand rollte – denn der auffahrende Erhart hatte an den Tisch gestoßen – und auf demselben Weg wie Waldsee ging er aus der Tür.
Erhart starrte ihm nach. Er war bleich geworden; aber er verstand noch nicht, suchte noch zu fassen. »Du Zigeuner du«, wiederholte er vor sich hin. »Nun ja; ein Zigeuner ... Was will er? Was ist denn geschehn? – ›Weil ich nur die Linas kenne‹ – – Woher weiß er das? Wenn ich auch ein ›Zigeuner‹ bin; was ihm ja bekannt war ... Wird man denn in diesem Haus verrückt? Ist er toll geworden? ›Ich wünsch' in meinem Haus reine Luft zu haben ... Bitte, nimm das wörtlich‹« ...
Die Wut brach nun endlich in ihm aus, wie von der Kette losgerissen; er stürmte aus dem Zimmer und in sein Haus hinauf. Er stieg nicht die Treppe hinan, zum Atelier, er rannte gleich unten in seine Wohnstube, die er zu einem Museum gemacht hatte, und hier hin und her, zwischen Tür und Fenster. Unter seinen Augen, auf den Backenknochen erschien eine flammende, grimmige Röte: ein geschnitzter Stuhl stand ihm im Weg, er schleuderte ihn mit einem Fußtritt von sich, daß er niederschlug und in Stücke brach. »Reine Luft! Reine Luft!« rief er aus, nachdem er eine Weile wortlos, dann und wann mit einer Art von wildem Knurren, gerast hatte; »gut! die soll er haben! Wenn das ›Lästermaul‹, der ›Zigeuner‹ ihm und seinem neuen Duzbruder, dem Herrn Grafen, zur Last wird – gut, dann machen wir euch Platz! Franz Erhart war noch nie der Mann, jemand zur Last zu fallen!«
Er warf sich auf einen Stuhl, der am Schreibtisch stand, und tauchte die Feder ein; vor ihm lag Papier. Er sann einen Augenblick nach; dann tauchte er sie zum zweitenmal ein, sich den Anfang denkend:
»Mein lieber Hermann! Dein heutiges Benehmen zeigt mir, daß es offenbar besser ist, wenn ich weiterziehe. Ich werde –«
»Was werde ich?« dachte er. Santo diavolo, das findet sich! – Schreiben wir's nur erst hin!«
Er fing an zu schreiben: »Mein lieber Hermann! Dein –«
Es klopfte jemand an die Tür. Erhart wandte grimmig den Kopf. Er dachte, es sei die Aufwärterin, die sein Häuschen in Ordnung hielt. Mit voller Stimme rief er: »Hinaus!«
Die Tür öffnete sich aber doch, und – Christel trat ein. Noch die Hand auf dem Drücker, blieb sie ruhig stehn. Sie war nicht verlegen, aber schüchtern; in ihrem schwarzen Wollenkleid, das sie zur Winterszeit trug, stand sie gar sanft und ergeben da. Dennoch zeigte sich in irgend was – vielleicht in dem graden, unverwandten Blick, oder in dem festgeschlossenen Mund – daß sie in sich entschieden war, nicht vom Platz zu gehn, eh' sie diesen aufgebrachten, wilden Mann nicht gebändigt hätte.
Erhart stand auf. »Was wünschen Sie?« fragte er höflich, als ahne er nicht, was sie herführe; aber doch mit Mißtrauen in dem scharfen und noch glühenden Blick.
»Lieber, guter Herr Erhart!« sagte sie weich. »Etwas bitten komm' ich. Nicht für mich; für meinen Herrn Doktor. Daß Sie nicht zu hart mit ihm ins Gericht gehn; Sie wissen ja, die Worte sind's nicht, sondern der sie sagt. Ich hab' vorhin alles gehört ... Kurz, daß Sie nichts Übereiltes tun, sondern an ihn denken, wie er ist, und dann ihm verzeihn!«
Erhart zog die Brauen hoch hinauf und lächelte sehr erstaunt. »Sie sind drollig, Christel. Ich soll so ohne weiteres – – Übrigens, mit welchem Recht mengen sich Euer Wohlgeboren –«
»Ach, sagen Sie mir so was nicht,« unterbrach sie ihn und legte die Finger ihrer Hände gegeneinander, ohne sie zu falten; »dann bin ich natürlich gleich wieder aus der Tür. Ich hab' gar kein Recht ... Aber ich nehm' mir's halt – weil ich Ihnen zufällig sagen kann, wie – – wie die Sache steht. Denn erstens, mein guter Herr Erhart, müssen Sie bedenken – – Warum schauen Sie mich gar so zweifelhaft und durchbohrend an?«
»Hol's der Teufel,« dachte Erhart, »das ist doch die verwünschteste Mischung von Dienerin und Dame, die es geben kann! Da wird einer ja perplex: – Wie sie nun wieder dasteht ...«
»Zweifelhaft?« sagte er laut, etwas ungelenk. »Zweifelhaft? Das nicht. Ich schau' Sie halt an; als Maler. Sie haben ein so sonderbar braunes Rot auf den Wangen; als wär's gemalt. Ich weiß schon, das ist's nicht ... Also ›erstens‹! – Bitte!«
Er lud sie ein, sich zu setzen; es schien ihm unmöglich, daß sie länger so dastünde. Sie tat aber, als bemerkte sie es nicht, und blieb ruhig stehn.
»Also erstens, Herr Erhart: mein Doktor – – Sie sind gesund, er nicht! – Nein, glauben Sie mir's, er ist nicht gesund! Wenn er auch herumgeht – – Ich leb' nun schon so lange mit ihm, zweieinhalb Jahr; da bekommt man Augen ... Seine Unrast, als jagt' ihn was; und wie er morgens kommt, nach dem Schlaf; nach dem schlechten Schlaf; und dann, wie er ißt – alle Tag' zu wenig. Das legt sich ihm dann aufs Gemüt; das ist ja natürlich. Man wird reizbar, aufbrausend; man sieht alles größer oder häßlicher, als es ist. Lieber, guter Herr Erhart, sie sind ebenso klug und ebenso gut, wie mein Herr Doktor; (sie lächelte) das ist aber heut' nicht genug! Da er nicht gesund ist, müssen Sie noch klüger und noch besser sein!«
»Hm!« stieß er so heraus, daß der Ton in die Höhe ging. »Alle Wetter – das ist viel verlangt. Das stellen sie sich doch wohl leichter vor, als es ist! – Aber sonst gefällt mir's. Es hebt mich. Sie trauen mir doch was zu!« – – Er sah sie aber forschend an. »Nicht gesund, sagen Sie ... Warum ist er denn nicht gesund?«
Sie zuckte unschuldig die Achseln. – »Das weiß ich nicht ...«
»Gut, dann lassen wir's. – Das war ›erstens‹, Christel. Also was dann ›zweitens‹?«
Auf ihrem Gesicht ging jetzt etwas Sonderbares vor: nachdem es sich fast entfärbt hatte, verbreitete sich langsam, ganz allmählich eine weiche Röte, die aber zuletzt bis zur Stirn hinaufwuchs. Es kostete sie eine sichtbare Anstrengung – und eine jungfräuliche Umschleierung lag auf ihrem Blick – endlich zu erwidern: »Zweitens haben Sie ihm unrecht getan!«
»Ich? Ich ihm? – Womit?«
»Mit Ihrer Meinung, daß er – – daß er dieser Frau zu nah steht; anders, als er sollte. O Herr Erhart, wie falsch haben Sie das gedacht!«
Erhart lächelte. – »Meine gute Christel« –
»Ich weiß,« sagte sie rasch: »von so was spricht man nicht, wenn man nicht beweisen kann. Ich kann's aber beweisen ... Und so unaussprechlich schwer es mir wird, muß ich es doch tun; damit Sie nicht länger – – Wenn Sie mir nur heilig versprechen, auf Ihr Ehrenwort, meinem Doktor nie zu sagen, was ich Ihnen jetzt sage; denn sonst sterb' ich lieber, als daß ich davon spreche!«
Immer verwunderter, mit auf und nieder gehenden Brauen, sah der Maler dieses immer wieder neu merkwürdige Mädchen an. Es lächerte ihn aber doch: »Sie können das beweisen, Christel? Nu, das muß ich sagen – – Aber ich sag' noch nichts. Hier geb' ich Ihnen mein Ehrenwort. Geben Sie mir Ihren Beweis!«
Sie griff in ihre Kleidtasche, zog zwei zusammengekniffte Blätter hervor und entfaltete sie. Es waren Quartblätter, wie aus einem Schreibheft genommen; von geringem, etwas bläulichem Papier; Verse standen darauf. »Das ist meine Handschrift,« sagte sie; »ich hab's abgeschrieben. Ein Gedicht von Herrn Doktor Ifinger ... Glauben Sie nicht, daß ich in seinen Papieren herumschnüffele; das Gedicht lag früher einmal wochenlang auf seinem Schreibtisch – so wie jetzt das neue von den Schächern, das der Herr Doktor den beiden Herren neulich beim Nachtisch vorlas. Und da mir's so zu Herzen ging –«
»Geben Sie nur her!« sagte Erhart. Sie legte die Blätter in seine Hand. Er fing an zu lesen. Es war das Gedicht von dem Geist, der nachts den seufzenden »Menschensohn« besucht. Christel las leise mit, von der Seite hineinblickend, zuweilen seinen Augen folgend. Auf einmal legte sie einen Finger aufs Blatt. »Bitte, jetzt!« sagte sie. »Hier kommt's!«
Erhart las nun laut, mit gedämpfter Stimme; die Klage des Menschensohns:
Du kannst nicht leiden wie ich.
Meine Seele hängt an einer andern Seele;
Wie eine Wurzel, die in der Luft schwebt,
So fühl' ich mich ohne sie.
Aber wo bleibt sie? Einem andern folgt sie.
Die süße Menschengestalt,
Nie darf ich sie fassen, nie darf ich sie halten.
Darum lieg' ich so bleich,
Wie nicht die Lebenden sind,
Darum seufz' ich so tief,
Wie nicht die Toten mehr tun,
Und ihr nicht, ihr nicht,
Die ich so beneide!
»Das war's!« flüsterte sie, tiefen Atem holend.
Erhart starrte betroffen auf das Blatt; dann in ihr Gesicht. Er sagte aber noch nichts. Er las weiter. Christel las wieder leise mit.
Als sie sah, daß er zu Ende war, deutete sie wieder leise mit dem Finger hin: »Sehn Sie, hier unten das Datum. So stand's auch unter dem Gedicht. Das ist der Tag, an dem er von Wien zum erstenmal hierherkam, nach der großen Krankheit; – hier, in Ihrem Häuschen hat er es geschrieben. – – Das ist doch keine glückliche Liebe, nicht wahr?«
»Nein, das ist es nicht,« murmelte Erhart. – Er sah wieder auf das zweite Blatt, ganz oben. »Einem andern folgt sie«, wiederholte er mit halber Stimme. »Was für einem andern?«
Christel blickte unverwandt auf die Verse. »Ich weiß es nicht«, hauchte sie.
»Hm!« – –
Mit einem neuen Anlauf, und neuem, heftigem Erröten setzte sie dann hinzu: »Ich muß noch was sagen ... Sie denken vielleicht: dann war diese Frau aber hier; hat ihn alle Tage besucht; da ist er glücklich geworden ... Lieber, guter Herr Erhart, glauben Sie das nicht. Da war sie ja mehr mit mir als mit ihm. War so himmlisch gut zu mir: ich kann's nie vergessen. Mit ihm war sie nie allein als beim ersten Kommen ... O nein! glauben Sie das nicht!«
»Ich glaub's also nicht«, murmelte er wieder. Er war ganz verwirrt. Das Mädchen verwirrte ihn fast noch mehr als die Verse, die Aufklärung. Christel Schellenberg, mit dieser Stimme, mit diesem Gespräch und mit dem Geistergedicht ... »Warum haben Sie das Gedicht abgeschrieben?« fragte er sie plötzlich.
Sie sah vor sich hin. – »Warum? Es gefiel mir so. Es tat mir selber so gut. – Es hat mir schon manchesmal – –«
»Wozu reden wir aber von mir«, sagte sie dann abbrechend. »Ich wollt' nur noch sagen: es mußt' ihm wohl doppelt und dreifach weh tun, was Sie von ihm und seiner Freundin dachten – denn es war ja die schönste, himmlischste Freundschaft, die es geben kann – ich hab's ja gesehn! Wenn ein Mann sich so überwindet, so wie mein Herr Doktor, und aus all dem Kummer und Leid, das ihn wohl auch krank machte, so was Heiliges, Verklärtes wird – dann kann man's nicht gut hören, nicht wahr, daß der allerbeste Freund so ganz anders denkt. Darum kam es so ... Und darum wird der allerbeste Freund sich gewiß auch sagen: gut und klug ist hier nicht genug; sondern klüger und besser!« – –
Sie stand und wartete auf seine Antwort, eine gute Weile; er sprach aber noch immer nicht. Er nahm ihre Hand. Sie war so voll Leben, so warm; und, obwohl nicht klein, charaktervoll schön geformt. Er betrachtete sie mit großem Ernst. Dann konnte er sich nicht enthalten, sie sanft zu drücken, und ebenso sanft über sie hin zu streichen. Christel ließ ihn eine Weile gewähren, um ihn nicht zu kränken; darauf zog sie sie leise hinweg.
Jetzt betrachtete er ihr Gesicht; mit demselben Ernst. »Ich muß Sie malen«, sagte er nach einer tiefen Stille. »Sie haben eigentlich malerische Farben, Christel; und – – und überhaupt einen guten Kopf!«
»Ach!« seufzte sie. »Reden Sie doch nicht von solchen Dingen; denken Sie nicht von der Hauptsache weg. Mein Doktor!«
»Die Hauptsache?« sagte er, nur so obenhin. »Die ist abgemacht. Wenn ich auch nicht so antilopenhaft geschwind wie Ihr Doktor denke – fix bin ich doch auch. Das werd' ich schon machen. Gehn Sie nur; das ist alles in Ordnung. Sowie Sie draußen sind, schick' ich ihm einen Brief!«
Er schob sie sanft aus der Tür – sie bekam sein Gesicht gar nicht mehr zu sehn – und machte dann leise zu. Er horchte, wie sie fortging. Darauf fuhr er sich einmal mit der Hand über die Augen; ging aber, ohne sich weiter aufzuhalten, an den Schreibtisch zurück. »Was hatte ich denn geschrieben?« sprach er vor sich hin, und nahm den angefangenen Brief in die Hand. Er las:
»Mein lieber Hermann! Dein –«
»Das kann ich ja brauchen«, sagte er, setzte sich, nahm die Feder, und fuhr in der Zeile fort:
»Mein lieber Hermann! Dein alter Esel Franz Erhart –«
In diesem Sinn schrieb er weiter. Dann faltete er den Brief, wie gewöhnlich, eh' er trocken war, und klingelte der Aufwärterin, damit sie ihn ins Unterhaus zum Herrn Doktor trüge.