Christoph Martin Wieland
Moralische Briefe
Christoph Martin Wieland

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Vorbericht

zur dritten Ausgabe.

Diese Briefe wurden in den zwei letzten Monaten des Jahres 1751 und den drei ersten von 1752 aufgesetzt. Die damals sehr berühmten und jetzt ziemlich vergessenen Epitres diverses des Hrn. v. Bar, welche die Briefe des Boileau an innerlichem Werth eben so weit übertreffen, als sie von diesen an Reinigkeit der Sprache und Schönheit der Versification übertroffen werden, gaben dem Verfasser, der damals nicht satt werden konnte sie zu lesen, die Idee und die Lust zur Ausführung.

Wenn Gedichte dieser Art leisten sollen was man von ihnen zu fordern berechtigt ist, so muß ein reifer und durch Erfahrung gebildeter Verstand, ein gereinigter Geschmack, Kenntniß der Welt, tiefe Einsicht in die moralischen Dinge, Feinheit des Witzes, und die Gabe des sanften Sokratischen Spottes, der durch Nachsicht und Gefälligkeit gemildert wird, kurz, so müssen die Eigenschaften, die den Philosophen und den Weltmann ausmachen, mit den Talenten der Dichtkunst in ihrem Verfasser vereinigt seyn; d. i. man muß ein Horaz seyn, um poetische Briefe zu schreiben, wie Horaz.

142 Nach diesem Maßstab müssen die folgenden Briefe nicht gemessen werden. Das noch unreife Alter, und die Umstände worin sie geschrieben worden, haben bei billigen Richtern mehr Verwunderung erregt, daß sie nicht unvollkommener, als daß sie so unvollkommen sind.

Der jugendliche Verfasser kannte damals die Menschen nur aus Gemälden, und ging nur mit moralischen Wesen um. Selbst die liebenswürdige Freundin, an welche diese Verse gerichtet sind, hatte sich in seiner alles verschönernden Phantasie zu einem überirdischen Wesen entschleiert. Daher kommt es, daß seine Sittenlehre oft allzu idealisch ist, und in der Ausübung sich bald zu strenge, bald zu nachgelassen finden würde.

Wer die Menschen nur aus den Geschichtschreibern und Dichtern kennt, vergleicht die Nerone mit Trajanen, den Narcissus mit dem Aristides, und Phryne mit Lucretia; er erzürnt sich über die einen, und vergöttert die andern. Wer hingegen die Menschen durch sich selbst kennen gelernt hat, sieht tausend kleine Züge, welche die moralische Schönheit der einen, wo nicht entstellen, doch weniger blendend, die Häßlichkeit der andern hingegen erträglich, ja wohl gar verführerisch machen. Ueberdieß bildet sich ein junger philosophischer Einsiedler, den der Charakter eines Sokrates in Entzückung gesetzt hat, ein, es sey gar leicht ihn nachzuahmen, weil es so natürlich ist ihn zu lieben: die Erfahrung allein kann ihm diesen Irrthum benehmen. Die Welt, das geschäftige Leben, die Verwicklung in die Leidenschaften und Absichten andrer Menschen, lehren am besten, wie schwer es ist ein Sokrates zu seyn. Seit so vielen Jahrhunderten zeigt uns die Geschichte nur einen Sokrates bei den Griechen, und einen bei den Chinesen. Dieser blieb sich selbst gleich, da er ein Mandarin bei Hofe, jener da er Nomothetes zu Athen war; sie erhielten ihren Charakter 143 aber auf Unkosten ihres Glückes; der Grieche bezahlte endlich mit dem Leben, und der Chinese mußte sich in die Dunkelheit des Privatstandes zurückziehen. Diese Beispiele enthalten vermuthlich die Auflösung der Frage, warum die Philosophie so selten ausgeübt wird; sie zeigen, daß nur die außerordentlichsten Seelen Stärke genug haben, sich wider die Verführung der Leidenschaften und das Ansteckende des Beispiels zu erhalten. Ein genauerer Umgang mit den Menschen beredet uns, vielleicht wegen der Aehnlichkeit, die wir zwischen uns und ihnen entdecken, daß sie mehr schwach als boshaft, mehr betrogen als Betrüger, und öfters mehr Thoren als Bösewichter sind; daß die Umstände einen großen Theil des Lobes oder Tadels unsrer Vorzüge oder Fehler zu fordern haben, und daß ein wahrer Philosoph von den Menschen wenig fordert und nichts erwartet.

Ein andrer Fehler der Unerfahrenheit und Jugend ist ein gewisses übermüthiges Vertrauen auf sich selbst, welches aus dem allgemeinen dunkeln Gefühl jugendlicher Kraft, die diesem Alter natürlich ist, zu entspringen scheint. Junge Sittenlehrer sind gemeiniglich Pelagianer ohne es zu wissen, und da sie die Leichtigkeit der Vorstellung mit der Leichtigkeit der Ausübung immer vermischen, und den Enthusiasmus, in welchen sie das Bild der Tugend setzt, für die Tugend selbst halten, so entsteht daher diese hochtrabende Meinung von der Stärke unsrer moralischen Kräfte, von der Obermacht der Vernunft, von der Annehmlichkeit des Weges der Tugend, den ihre zauberische Phantasie, mit leichter Mühe, gerade so breit, so eben und mit Rosen bestreuet, als ihn Prodicus in der Wahl des Hercules schmal, rauh und beschwerlich vorstellt. Die wahren Weisen dachten von jeher ganz anders hievon: und eben dieser Sokrates, der in diesen moralischen Gedichten 144 mit mehr Enthusiasmus als Einsicht angepriesen wird, war unter allen Philosophen derjenige, der die demüthigste Meinung von der Stärke der menschlichen Vernunft hegte, und die Tugend, so sehr sie von unserm Willen abzuhangen scheint, für eine Gabe des Himmels hielt. 145

 


 

Zusatz

bei der gegenwärtigen Ausgabe. (1797.)

Von dem poetischen Werth und Unwerth dieser Briefe gilt ungefähr eben das, was wir von der Poesie und Versification des Gedichts über die Natur der Dinge gesagt haben. Man merkt es, besonders an den vordersten Briefen, noch stark, daß die Alexandrinische Versart und der Reim für den Geist des jungen Dichters Fesseln sind, die er, mit guter Art zu tragen, noch nicht Geduld und Geschmeidigkeit genug hat; und daß er, eben darum, weil es ihm zu mühsam war, unter dem Zwang dieser Fesseln und Handschellen immer den Ausdruck zu suchen, der gerade da, wo er stehen soll, der einzig wahre oder schickliche ist, sich die Sache nur zu oft bequemer macht, als recht ist, und sich bald, um richtig zu reimen, mit einem nicht an seinem Ort stehenden Worte, bald um einen schicklichen Ausdruck oder eine (wenigstens seinem damaligen Urtheil nach) glückliche Wendung nicht aufzuopfern, mit einem harten Reime behilft. Indessen scheint ihm doch, während der Arbeit selbst, das Mechanische im Versemachen immer leichter geworden zu seyn; der Styl wird zusehens besser, und es finden sich hier und da (zumal in den vier letzten Briefen) Stellen, welche die gute Aufnahme einigermaßen begreiflich machen, womit diese Versuche beehrt wurden, als sie im Jahr 1752 ohne Namen des Verfassers im Druck erschienen.

146 Lieblingslecturen pflegten damals (und noch ziemlich lange hernach) allezeit so stark auf unsern Dichter zu wirken, daß er unvermerkt, ja meistens gegen seinen Wunsch und Willen, etwas von der Manier des Autors annahm, der gerade zur Zeit, wenn er selbst etwas componirte, am meisten bei ihm galt. Wer mit den Epitres diverses des Herrn v. Bar bekannt ist, wird von dieser, jungen Leuten überhaupt sehr gewöhnlichen, Leichtigkeit, etwas von dem Charakteristischen der Personen, mit welchen sie täglich umgehen, in Sprache, Ton der Stimme, Gebärden, Stellung, Gang und dergleichen, unvermerkt zu erhaschen, nicht selten auch in den gegenwärtigen Briefen Spuren finden, und sich das Spruchreiche und Epigrammatische, wodurch der Styl derselben sich von dem der Natur der Dinge unterscheidet, leicht daraus erklären können.

Bei allem dem müssen wir gestehen, daß diese moralischen Briefe (ohne eben viel dabei gewonnen, oder wesentliche Voränderungen erlitten zu haben) in gegenwärtiger Ausgabe eine viel leidlichere Figur machen als in ihrer ersten Gestalt, und selbst in der Ausgabe von 1770. Denn, wiewohl auch damals schon eine ziemlich scharfe Feile über sie ging, so blieb doch noch viel zu thun übrig, wenn gleich die Absicht nicht seyn konnte, solche Veränderungen vorzunehmen, wodurch das Ganze ein neues Werk geworden wäre. Das Beste hat indessen der calamus transversus dabei gethan; und so ist es dann gekommen, daß, indem man alles ohne Verschonen wegstrich, was dem Uebriggebliebenen nur Schaden gethan hätte, diese Briefe nahezu auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Versezahl zusammenschmelzen mußten. 147

[Man hat für gut befunden, alle bei gegenwärtiger Ausgabe beträchtlich veränderten oder gänzlich umgearbeiteten Stellen mit einfachen › ‹ vor den übrigen auszuzeichnen.]

 


 


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