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Ein türkisches Märchen
Ein reisender Derwisch wurde zu Bassora von einer Krankheit überfallen. Er nahm seine Zuflucht in die Hütte einer guten armen Witwe, die sich in einer der Vorstädte mit ihrem einzigen Sohne Nardan, einem Knaben von sechzehn Jahren, von ihrer Handarbeit und einem kleinen Garten, der ihr ganzer Reichtum war, notdürftig nährte. Das gute Mütterchen wartete und pflegte den Kranken mit so großer Sorgfalt, daß er nach Verfluß einiger Wochen sich wieder völlig hergestellt befand.
Da er während dieser Zeit Gelegenheit genug gehabt hatte, wahrzunehmen, daß ihr der junge Nardan mehr zur Last als zum Troste gereichte und daß sie für die Zukunft seinetwegen nicht wenig verlegen war, so tat er ihr, zum Beweise seiner Dankbarkeit, den Vorschlag, ihr alle weitere Sorge für ihren Sohn abzunehmen und ihn, falls sie in eine Trennung von ihm einwilligen wollte, wie sein eignes Kind zu halten. Der Stand, das Alter, die Miene und das Betragen des Derwisch flößten Ehrfurcht und Vertrauen ein; die Witwe nahm sein Anerbieten an, und in wenigen Tagen machte er sich mit dem jungen Nardan auf den Weg, nachdem er ihnen eröffnet hatte, daß er eine Reise von zwei bis drei Jahren zu tun gedächte, ehe er nach Magrebi, dem Orte seines gewöhnlichen Aufenthalts, zurückkehren würde.
Während dieser langen Zeit, in welcher der Derwisch mit seinem jungen Gefährten alle Länder, die dem Gesetze des Propheten folgen, durchwanderte, schien er nichts Angelegneres zu haben, als sich durch alle nur ersinnliche Beweise einer väterlichen Zärtlichkeit das Zutrauen und die Liebe dieses Jünglings zu erwerben. Er ließ es ihm an nichts fehlen, er bemühte sich, ihm die Lehren der Weisheit ins Gemüte zu prägen und ihm Mäßigung der Begierden und Geringschätzung aller ungewissen und vergänglichen Güter einzuflößen; er teilte ihm eine Menge nützlicher und angenehmer Kenntnisse mit, zeigte ihm überall, wo sie hinkamen, alles, was der Aufmerksamkeit eines Reisenden würdig war, pflegte seiner in einer tödlichen Krankheit und stellte ihn wieder her; kurz, er tat alles an ihm, was der beste Vater für seinen einzigen Sohn zu tun fähig sein kann.
Der junge Nardan schien von so vieler Güte nicht wenig gerührt zu sein und bezeugte seinem Wohltäter die Dankbarkeit seines Herzens tausendmal in den stärksten Ausdrücken; aber der Derwisch antwortete ihm allemal: «Mein Sohn, ein dankbares Herz spricht durch Taten; wir wollen sehen, wenn Zeit und Gelegenheit kommt.» Sie hatten nun über drei Jahre mit dieser Wanderschaft zugebracht, als sie sich eines Tages in einer ganz abgelegenen Gegend unvermerkt von hohen Bergen und schroff überhangenden Felsen ringsum eingeschlossen sahen. Das Grauen, das den jungen Nardan bei diesem Anblick befiel, verdoppelte sich, als der Derwisch auf einmal stillhielt, ihn bei der Hand ergriff und sagte: «Endlich, mein Sohn, sind wir am Ziel unsrer Reise angekommen; in wenig Augenblicken wirst du die Gelegenheit finden, mir für alles, was ich an dir getan habe, deine Erkenntlichkeit zu beweisen. Sei aufmerksam, schweige und gehorche!»
Der Jüngling erblaßte bei diesen Worten, indem er einen furchtsamen Blick auf den Derwisch warf, als ob er den Sinn dieser geheimnisvollen Anrede und sein Schicksal in den Augen des Alten ausspähen wollte; da er aber nichts als die gewöhnliche Heiterkeit und Güte darin zu sehen glaubte, faßte er sogleich wieder ein Herz und schwur ihm zu, daß er sich, was es auch antreffen möchte, auf seine Treue und auf seinen Gehorsam verlassen könne.
Der Derwisch hieß ihn hierauf einige dürre Reiser und Baumblätter zusammenlegen, und nachdem er sie vermittelst eines Brennglases angezündet hatte, warf er etliche Weihrauchkörner aus einer kleinen Büchse, die er bei sich trug, in die Flamme und murmelte eine Art von Gebet dazu her, wovon Nardan nichts verstehen konnte.
Auf einmal tat sich die Erde vor ihnen auf, es zeigten sich einige Stufen von weißem Marmor, und der Derwisch sagte zu seinem Pflegsohn: «Noch einmal, mein Sohn, es steht jetzt bei dir, mir einen großen Dienst zu erweisen; du findest vielleicht in deinem ganzen Leben keine so gute Gelegenheit, mir zu zeigen, daß du kein undankbares Herz hast. Steige getrost in diese Höhle hinab; du wirst sie mit unermeßlichen Reichtümern angefüllt finden; aber laß dich ihren Schimmer nicht verblenden, rühre nichts davon an und denke an nichts anders, als dich eines eisernen Leuchters mit zwölf Armen zu bemächtigen, dessen ich benötiget bin und um dessentwillen ich diese weite Reise hieher unternommen habe. Du wirst ihn neben der Tür eines offnen Kabinetts ohne Mühe gewahr werden. Geh, mein lieber Nardan, und hol ihn mir unverzüglich herauf»
Nardan versprach, allem, was ihm der Alte befohlen hatte, getreulich nachzuleben, und stieg herzhaft in die Höhle hinab. Als er etwa zwanzig Stufen zurückgelegt hatte, sah er sich in einem großen Saale, der auf dicken Pfeilern von Jaspis ruhete und zur Rechten und Linken in verschiedene offne Gemächer führte. Das Ganze war von einer großen Menge hell brennender Lampen erleuchtet, bei deren Lichte seine Augen von dem Funkeln und Flimmern eines unermeßlichen Schatzes von Edelsteinen und gemünztem Golde geblendet wurden, welche haufenweise in den Gemächern aufgeschüttet lagen. Dieser Anblick, wiewohl ihn der Derwisch darauf vorbereitet hatte, brachte die ganze Seele des jungen Menschen in Unordnung; er vergaß, was ihm sein Wohltäter so ernstlich befohlen hatte, und anstatt den verbotenen Schatz nicht anzurühren, hätte er lieber tausend Arme und Hände haben mögen, um alles auf einmal forttragen zu können. Aber während er alle seine Taschen und sogar die Falten seines Turbans mit den schönsten Diamanten, Rubinen, Smaragden und Saphiren vollstopfte, schloß sich mit einem donnernden Getöse die Öffnung der Höhle zu, und die Lampen loschen eine nach der andern aus.
Mitten in der Angst, die ihn bei diesem fürchterlichen Zufall überfiel, behielt Nardan doch noch so viel Besonnenheit, daß er sich eilends des eisernen Leuchters bemächtigte. «Es muß», dacht' er, «ein Talisman von außerordentlicher Tugend sein, sonst würde ihn gewiß der Derwisch nicht allen Reichtümern dieses großen Schatzes vorgezogen haben.» Wie schrecklich auch seine Lage in diesem Augenblick war, so trieb ihn doch der Instinkt der Selbsterhaltung an, statt sich der Verzweiflung zu überlassen, mit dem Leuchter in der Hand zu versuchen, ob er nicht irgendeinen verborgenen Ausweg finden könne. Unter den bittersten Vorwürfen, die er sich selbst über seinen Ungehorsam gegen den Derwisch machte, und unter manchem angstvollen Stoßgebet zum Himmel entdeckte er, eben als die letzte Lampe verlosch, einen schmalen Gang, durch dessen Krümmungen er sich mit unsäglicher Mühe aus diesem unterirdischen Kerker emporarbeitete. Es währte eine ziemliche Weile, bis er eine mit Dornen dicht überwachsene Öffnung gewahr wurde, durch die er, nicht ohne einen guten Teil seiner Kleidung und seiner Haut zurückzulassen, endlich wieder an das Tageslicht hervorgekrochen kam.
Mit der Freude eines Menschen, der soeben aus dem fürchterlichsten Traum erwacht und sich überzeugt, daß es nur ein Traum war, sah er sich nach dem Derwisch um, in der Absicht, ihm den Leuchter einzuhändigen und sich dadurch seiner Verbindlichkeiten auf eine Art zu entledigen, die ihn um so weniger Überwindung kostete, weil ein eiserner Leuchter, dessen allenfallsige talismanische Tugend er nicht kannte, ihm am Ende doch zu nichts helfen konnte. Zu gleicher Zeit dachte er darauf, wie er sich mit guter Art von dem Alten losmachen wollte, als dessen Unterstützung er nun nicht mehr bedurfte und der ihn nur verhindert hätte, seines in der Höhle erbeuteten Schatzes froh zu werden. Aber er hätte sich diese Mühe ersparen können: denn so weit seine Augen und seine Stimme reichten, war kein Derwisch zu sehen noch zu hören; und erst nachdem er lange hin und her geloffen und sich ganz außer Atem geschrien hatte, wurde er gewahr, daß er sich in einer ganz unbekannten Gegend befinde und daß es nicht mehr dieselbe sei, wo sich die unterirdische Höhle aufgetan hatte. Ohne zu begreifen, wie es damit zuging, schlenderte er eine Zeitlang auf dem ersten besten Fußpfade fort, machte aber sehr große Augen, als er sich auf einmal vor der Haustür seiner Mutter sah, von welcher er wenigstens ein paar hundert Meilen weit entfernt zu sein geglaubt hatte.
Er erzählte ihr alles offenherzig, was sich mit ihm zugetragen, und setzte die Wahrheit seiner Geschichte außer allen Zweifel, indem er ganze Hände voll Edelsteine von unermeßlichem Wert aus seinen Taschen hervorzog, über deren Anblick die gute Frau beinahe selbst zum Steine geworden wäre. Sie verstand sich zwar nicht sonderlich auf Juwelen; doch wußte sie so viel davon, daß der zehnte Teil dessen, was ihr in die Augen blitzte, mehr als hinlänglich war, ihr und ihrem Sohne auf ihre ganze Lebenszeit alle weitere Nahrungssorgen zu ersparen. Sie glaubte aus allem, was ihr Nardan berichtete, schließen zu können, der heilige Mann habe sie für das Gute, so sie an ihm getan, auf eine großmütige Art belohnen und übrigens bloß eine Probe machen wollen, ob Nardan auch Mut und Besonnenheit genug haben werde, sich aus der Gefahr, womit er ihn sein Glück erkaufen ließ, herauszuziehen. Beide überließen sich nun der Freude, auf einmal so reich zu sein; sie konnten gar nicht aufhören, ihre Augen an dem funkelnden Schatz zu weiden, und fingen schon an, über den Gebrauch, den sie davon machen wollten, uneinig zu werden, als alles plötzlich vor ihren Augen verschwand. Mit einem lauten Schrei griffen sie beide in die Luft, als ob sie den verschwindenden Schatz zurückhalten wollten; sie rieben sich die Augen, tappten hundertmal auf dem leeren Tisch herum, durchsuchten ebensooft alle Winkel ihrer kleinen Stube; aber alles vergebens: der Schatz war weg und kam nicht wieder.
Nun fing Nardan wieder an, sich selbst wegen seines Ungehorsams und seiner Undankbarkeit Vorwürfe zu machen, zumal wie er sahe, daß ihm der eiserne Leuchter geblieben war. «Es geschieht mir recht», rief er; «ich habe wieder verloren, was ich mir verstohlnerweise zueignen wollte, und das einzige, was ich dem Derwisch zu überliefern gesonnen war, ist mir geblieben. Aber wo bleibt er selbst, und warum ist er nun auf einmal so gleichgültig gegen etwas, woran ihm diesen Morgen noch so viel gelegen war?» – «Er wird vermutlich wiederkommen», sagte die Mutter, «und wer weiß, ob er nicht so gütig ist, uns für den Leuchter, den du ihm doch mit Gefahr deines Lebens geholt hast, wenigstens so viel zu geben, daß wir uns über den Verlust der funkelnden Steine trösten können, die uns nicht bestimmt waren und uns am Ende doch nur zur Last gewesen wären.»
Als es Nacht wurde, steckte Nardan ohne eine andere Ursache, als weil es ihm just am bequemsten war, das einzige Licht, so sie anzuzünden pflegten, in den eisernen Leuchter. Sogleich erschien ein Derwisch, der, nachdem er sich eine ganze Stunde lang mit immer zunehmender Geschwindigkeit um den Leuchter herumgedreht hatte, ihnen einen Asper (ungefehr soviel als ein Kreuzer oder drei gute Pfennige) zuwarf und verschwand.
Man kann sich vorstellen, wie eine so seltsame Erscheinung auf solche Köpfe würken mußte; der erste aller Philosophen würde seinen Schlaf darüber verloren haben. Nardan und seine Mutter konnten die ganze Nacht kein Auge zutun, sie hörten nicht auf, über diese wunderbare Begebenheit miteinander zu plaudern, und Nardan geriet endlich auf den Einfall, was wohl daraus werden möchte, wenn in jeden Arm des Leuchters ein Licht gesteckt würde.
Der Versuch wurde nicht länger als bis zur nächsten Nacht aufgeschoben. Der Leuchter hatte, wie wir wissen, zwölf Arme. Nardan steckte in jeden ein Licht, und augenblicklich sprangen zwölf Derwische hervor, drehten sich eine Stunde lang um den Leuchter herum, warfen ihnen sodann jeder einen Asper zu und verschwanden. Dieser Erfolg gefiel ihnen so gut, daß sie es in der nehmlichen Nacht noch einmal mit zwölf neuen Lichten versuchten; aber die Derwische wollten nicht wiederkommen, und die Erfahrung belehrte sie eine lange Reihe von Nächten durch, daß der wunderbare Armleuchter seine Kraft in vierundzwanzig Stunden nur einmal äußerte.