Christoph Martin Wieland
Dschinnistan
Christoph Martin Wieland

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Narzissus durchsuchte alle Wälder, die er auf seiner Wanderschaft vor sich fand, mit einer solchen Emsigkeit, daß er in drei Jahren nicht mehr als zwanzig Meilen zurücklegte. Endlich kam er an den Hof des Königs, dessen Tochter Philoklea ist; da es ihm aber bloß darum zu tun war, die Scheide zu suchen, und er diese an keinem Hofe, sondern in einem Walde finden sollte, so eilte er sogleich wieder fort, ohne sich gezeigt zu haben, und geriet in ein sehr anmutiges Gehölze, das größtenteils von einem Flusse umgeben war, dessen Wasser den Kristall an Klarheit übertraf. Um tiefer in den Wald hineinzukommen, mußte er über den Fluß; und indem er hinüberging, wandelte ihn die Neugier an, zu sehen, ob die Beschwehrden der Reise seiner Schönheit keinen Abbruch getan hätten. Er vergaß der väterlichen Warnung und bückte sich über das Wasser herab; aber wie groß war sein Entsetzen, da ihm, statt der Züge des schönen Narzissus, ein großer Uhu entgegensah! Der Schrei, den er vor Schrecken tat, verdoppelte seine Bestürzung, denn es war der Schrei einer Eule, und ehe er den zweiten tun konnte, sah er sich von Kopf zu Fuß in eine Horneule von der ersten Größe verwandelt. Er behielt zwar noch seine Vernunft; aber er hatte so wenig, daß es nicht der Mühe wert war, sie ihm zu nehmen. Voller Verzweiflung eilte er nun den dunkelsten Gegenden des Waldes zu, wo er sein trauriges Leben damit zubrachte, sich den Tag über in einem hohlen Baum zu verbergen und des Nachts Waldratten oder Fledermäuse zu seiner Nahrung zu fangen und die Scheide des Messers zu suchen, welches er sorgfältig aufbewahrt hatte. Er suchte so lange, bis der Glanz, den diese wundervolle Scheide im Dunkeln von sich warf, ihn den Baum, worin sie steckte, finden ließ; aber wie viele Mühe er sich auch deswegen gab, so konnte er es doch nie dahin bringen, weder die Scheide herauszuziehen noch sein Messer hineinzustecken. Alles, was er tun konnte, war, das Messer auf eben diesem Baume nahe bei der Scheide zu verbergen und sich immer in der Nähe desselben aufzuhalten. Endlich fügte es ein glücklicher Zufall, daß die Prinzessin Philoklea sich in diese Gegend des Waldes verirrte und von der Nacht überfallen wurde. Der Uhu verliebte sich sterblich in sie, sobald es dunkel genug war, daß er sie sehen konnte; aber sein Zustand würde durch eine Liebe, wovon er sich so wenig zu versprechen hatte, eher verschlimmert als gebessert worden sein, wenn ihm nicht eine geheime Stimme innerlich zugeflüstert hätte, daß dies vielleicht die Dame sei, die ihm seine vorige Gestalt wiedergeben könne. Bald darauf war er glücklich genug, sie vermittelst seines Messers aus den zottichten Armen des wilden Mannes zu retten, der sie, wie ich bereits gemeldet, im Schlaf überfallen hatte; und da er, durch eine Folge dieses Abenteuers, mit seiner ursprünglichen Schönheit auch noch allen Verstand und alle Wissenschaften seines Vaters, Kaspar des Alleswissers, erhielt: so war die Gegenliebe der schönen Philoklea das einzige, was er noch zu wünschen hatte, um der glücklichste aller Menschen zu sein. Und wie hätte die Prinzessin ihm diese versagen können, da er nun, nachdem der Geist seines Vaters in ihn übergegangen war, unter allen Sterblichen der einzige war, den sie ihrer Liebe würdig halten konnte? Um es kurz zu machen, sie überließen sich der Sympathie, welche natürlicherweise zwischen zwei Personen vorwalten mußte, die vergebens eine dritte ihresgleichen in der Welt gesucht hätten: sie liebten sich und teilten einander alle ihre Wissenschaften und Geheimnisse mit. Er beschenkte sie mit der Gabe, sich unsichtbar zu machen und niemals alt zu werden; und sie mußte ihm schwören, das wundervolle Messer niemals zu veräußern, an dessen Besitz ihre gemeinschaftliche Glückseligkeit gebunden war, und niemanden weder ihr Abenteuer noch ihre Verbindung mit ihm zu entdecken. Vermittelst des Geheimnisses, sich unsichtbar zu machen, welches der glückliche Narziß besaß, führten sie viele Jahre das beneidenswürdigste Leben, ohne daß man etwas davon gewahr wurde. Indessen fehlte ihnen gleichwohl noch die goldene Scheide, die sie mit aller ihrer Wissenschaft nicht aus dem Baume herauszuziehen vermochten. Dieses Abenteuer war einem andern aufbehalten, aber unglücklicherweise blieb der Besitz des Messers immer unsicher, solange man nicht zugleich im Besitz der Scheide war.

Die schöne Philoklea hielt sich, diese Zeit über, noch immer am Hofe ihres Vaters auf, wo die Mühe, alle die Anträge und Bewerbungen, die ihre Schönheit ihr zuzog, von sich abzuhalten, das einzige war, was ihre geheime Glückseligkeit verbitterte, wiewohl im Grunde sie nur desto reizender machte. Sie allein erhielt sich immer im Glanz einer unverwelklichen Jugend, während alles um sie her unvermerkt alterte; aber eben dieses Umstandes wegen wurde sie endlich eines Aufenthaltes überdrüssig, wo sie selbst, ihrer ewigen Jugend ungeachtet, zuletzt etwas Altes zu werden anfing. Sie verließ also ihr Vaterland, um in Begleitung ihres unsichtbaren Liebhabers in fremden Ländern neue Entdeckungen zu machen. Sie besuchte Ägypten, Afrika, Persien und Indien und brachte verschiedene Jahrhunderte mit diesen Reisen zu, die an einer Menge merkwürdiger Zufälle und Abenteuer fruchtbar waren. Als sie endlich nach Europa zurückkam, fand sie es überall von dem Ruhm des weisen Merlins erfüllt. Die Neugier, durch sich selbst zu erkundigen, ob die Wunder, die man von seiner Wissenschaft erzählte, eines so großen Ruhmes würdig seien, bewogen sie, nach Britannien überzugehen und, unter einer unkenntlichen Gestalt, am Hofe des Königs Artus zu erscheinen, wo Merlin sich aufzuhalten pflegte. Wie gut sie sich auch verborgen zu haben glaubte, so konnte sie doch nicht verhindern, daß der schlaue Zauberer Verdacht bekam. Er bot allen seinen Künsten auf, sich bei ihr einzuschmeicheln; aber sie war zu scharfsichtig, um nicht bald zu merken, daß seine Freundschaft die Maske geheimer Absichten war und daß er auf nichts Geringers ausging, als sie des Messers zu berauben, von dessen Scheide er sich durch ein Geheimnis, das ihm allein bekannt war, zum Besitzer gemacht hatte. Sie erhielt die Bestätigung dieser Vermutung von dem Messer selbst, von welchem sie, sobald sie es mit der Spitze auf einen dichten Körper setzte, über alles, was sie zu wissen verlangte oder nötig hatte, ein immer zuverläßliches Orakel erhielt. Da sie sich mit aller ihrer Wissenschaft vor den Kunstgriffen eines so geschmeidigen und vielgestaltigen Menschen nicht sicher hielt, so verließ sie Britannien wieder und zog sich an den Fuß des Apenninischen Gebürges zurück, wo sie, um desto weniger entdeckt werden zu können, die Gestalt annahm, unter welcher sie euch bekannt ist. Aber alle ihre Vorsicht war vergebens. Eines Tages, da ihr der Zauberer Merlin, und was sie von ihm zu befürchten hatte, ganz wieder aus dem Sinne gekommen war, sah sie, auf einem ihrer Spaziergänge, einen glänzenden Wagen von dem Gipfel des Berges herabsteigen. Aus diesem Wagen stieg ein Zauberer von so ehrwürdigem Ansehen, daß es unmöglich gewesen wäre, ihm etwas Arges zuzutrauen. ‹Schon lange›, sagte er, indem er ihr die Scheide ihres Messers darbot, ‹suche ich die ehrwürdige Besitzerin des Messers, für welches diese wundervolle Scheide gemacht ist, um ihr einen Schatz einzuhändigen, der ihr angehört und mir unnütz ist, wiewohl ich der einzige Sterbliche bin, der das Messer in die Scheide stecken kann.› Die Freude der Prinzessin beim Anblick eines Kleinods, dessen so lange schon gewünschter Besitz das einzige war, was ihre Glückseligkeit unzerstörbar machen konnte, war so groß, daß sie auf einen Augenblick ihre Klugheit überwog. Sie reichte dem Unbekannten ihr Messer hin, um es in die goldne Scheide zu stecken; aber er hatte es kaum in der Hand, als er damit aus ihren Augen verschwand. Ihre Verzweiflung über diesen Verlust und über die Art, wie sie sich um das Kostbarste, was sie besaß, hatte bringen lassen, ist mit keinen Worten auszudrücken; aber sie fühlte erst die ganze Größe ihres Verlustes, da sie bei ihrer Zurückkunft ihren geliebten Narzissus nicht mehr fand. Vergebens suchte sie ihn viele Jahre lang auf dem ganzen Erdboden. Endlich kehrte sie wieder an den Ort zurück, wo sie alles, was ihr das Liebste war, verloren hatte. Das Verlangen, das nun ihre einzige Leidenschaft ist, ihr verlornes Messer, wenn auch Jahrhunderte darüber hingehen sollten, wiederzubekommen, brachte sie auf den seltsamen Einfall, überall, wo sie sich sehen läßt, eine Art von Buden zu errichten, die mit Scheiden angefüllt sind, und von allen, die etwas bei ihr zu suchen haben, das Geschenk eines Messers zu verlangen: in Hoffnung, daß unter so vielen Messern endlich einmal das rechte in eine von diesen Scheiden werde gesteckt werden. Das Schlimmste war indessen, daß der Verlust des Messers, ohne welches sie keine Hoffnung hat, mit ihrem geliebten Narzissus wieder vereiniget zu werden, ihre sonst äußerst sanfte und wohltätige Sinnesart so vergällte, daß sie, um die Menschen in den Fall zu setzen, ihrer Hülfe recht oft vonnöten zu haben, sich ein ordentliches Geschäfte daraus machte, unerhörte und abenteuerliche Zufälle und Schicksale zu erfinden, in welche sie die Leute verwickelte. Vornehmlich war sie ebenso sinnreich als unbarmherzig, diejenigen zu quälen, die eine gegenseitige Sympathie dazu bestimmt hat, nur durch ihre gegenseitige Liebe glücklich sein zu können. Sie schien in den Qualen, so sie diesen Unglücklichen zubereitete, eine Erleichterung ihrer eigenen zu finden; und wiewohl sie zu gutherzig war, sie am Ende nicht dafür zu belohnen: so können doch Pertharit und Ferrandine mit ihren Geliebten bezeugen, daß sie ihnen das Glück, womit ihre Liebe endlich bekrönt wird, teuer genug verkauft hat.»

Hier endigte die Statthalterin ihre Erzählung, mit der Versicherung, daß sie die Scheiden-Mutter von nun an um so gewisser als ihre Freundin betrachten könnten, da sie große Hoffnung habe, in kurzem wieder zu ihrem Messer und seiner Scheide, und mit beiden zum Besitz ihres Geliebten und ihrer vormaligen Zufriedenheit, zu gelangen. Dieser Versicherung zufolge endigten sich nun die Abenteuer des ganzen königlichen Hauses so glücklich, daß sie versucht waren, sowohl ihre vormaligen Leiden als ihr jetziges Glück für ein Märchen zu halten. Der König wurde geheilt; der Erzherzog fand seinen Verstand wieder, und mehr als er jemals gehabt hatte; der schöne Pertharit und seine Prinzessin erhielten die bezauberte Insel, die Badegrotte und das ganze Land umher zum Hochzeitsgeschenke; und die schöne Ferrandine machte den Prinzen der Lombardei zum glücklichsten aller Longobarden seiner Zeit.


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