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Der Baron-Direktor stand in Vormittagsanzug da: grossgewürfelte Joppe, gelbe Reithosen, Sportsmütze, langschäftige Stiefel, und »rührte« den Milchweissen, der unter anderen Altersbeschwerden auch an Kolik litt. Sein bleiches Rassegesicht sah jetzt in dem grämlichen Morgenlicht weniger adelig aus: Die Nase hing herab, der Schnurrbart war ungepflegt, die Augen hatten einen matten Blick, die Wangen waren beutelig, und der Teint scheckig ...

Draussen vor dem Zelt wimmelte die Jugend von Söby. War irgendwo in der Segeltuchwand eine Spalte, so entstand ein Kampf darum. Die Rangen schlugen darauflos, als gelte es das Leben, sie prügelten einander mit Holzschuhen, und warfen sich gegenseitig in den Schmutz. Die, so da männlichen Geschlechts waren, gebrauchten dabei ihr Mundwerk, die weiblichen Geschlechts spuckten und kreischten...

Knagsted steckte seinen buschigen Kopf zur Zeltöffnung herein:

»Guten Morgen, Herr Baron! Schon bei der Arbeit!«

»Guten Morgen, Herr Zollkontrolleur. Das liebe Brot! Das liebe Brot! ... Mich deucht, ich habe Sie gestern abend bei der Premiere gar nicht gesehen?«

»Freilich, freilich! Aber hier waren ja so viele.«

»Ja, die kleine Magei zieht gottlob. Drei vollbesetzte Häuser in jeder Stadt; und dann wieder weiter in die nächste.«

»Ein aufreibendes Leben, Herr Baron.«

»Chacun à son goût; dies ist nun einmal das meine!«

»Herr Baron würden wohl nicht die Güte haben, mir zu sagen, wo Frau ... wo Fräulein Magei wohnt?«

»Kennen Sie sie?« (Der Direktor hatte offiziell keine Ahnung von dem früheren Namen und der gesellschaftlichen Stellung seiner Primadonna.)

»Ja, ich ...« begann der Zöllner.

»Die Dame wohnt bei Maurer Andreasen in der Sögade.«

»Ach so, da! Vielen Dank ... Ja, ich wollte sie gern begrüssen und ihr für gestern abend danken.«

»Das wird sie erfreuen ... Dergleichen Aufmerksamkeiten erfreuen die Künstler stets.«

»Darf ich auch dem Herrn Baron danken? Ein vorzüglicher Schulritt!«

»Bitte, bitte! Man kommt leider allmählich zu Jahren.«

»Davon merkt man nichts.«

»Zu liebenswürdig, Herr Zollkontrolleur! ... Die kleine Magei wird übrigens diesen Augenblick wohl hier anwesend sein. Es war mir, als hätte ich vorhin unten in den Ställen einen Schimmer von ihr gesehen. Durch den Vorhang dort, please, und dann links; das ist das Ankleidezimmer der Damen.«

»Glauben Herr Baron, dass ...«

»Ja natürlich; am Vormittag ist da kein Grund, sich zu genieren.«

Der Direktor nahm die Arbeit wieder auf, knallte mit der Peitsche, so dass der Milchweisse mit einem Sprung vorwärtsstürzte, der ihm eine momentane Auslösung seines Magenklemmens verschaffte ...

Knagsted ging durch das Zelt. Als er den Vorhang zu dem Künstlereingang zur Seite zog, schlug ihm ein süsslich-saurer Duft von Pferdemist entgegen. Sofort wurde er sentimental und entsann sich des Pferdestalls seiner Jugend daheim in Abildtorpegaard...

Links hingen ein paar zusammengeheftete Decken, zerlöchert und zerrissen. Hierauf war ein gedrucktes Plakat mit dem Wort: Damenzimmer angebracht. Gerade gegenüber auf einem ähnlichen Vorhang las man das Wort: Herrenzimmer.

Der Zöllner blieb stehen. Er hörte Stimmen von der Damenseite her. Die eine war die eines Mannes.

Durch einen Riss in dem Vorhang konnte man den Raum übersehen, der ein kleines Zelt für sich bildete. Aber das Dach war flach, und ein Dreieck des Segels war da oben zurückgeschlagen, so dass das Tageslicht Zutritt erhielt. Dadrinnen standen ein Tisch und ein paar Stühle, sonst bestand das Mobiliar nur aus Koffern und Kisten.

Auf einem der Stühle sass Mademoiselle Magei im Mantel und mit einem mächtigen Federhut. Ihr Gesicht schimmerte blass und klein unter der mächtigen Hutkrempe. Das Champagnerhaar hing ihr wie zwei grosse Gardinen um die Ohren.

Vor ihr, einige Schritte entfernt, stand eine völlig nackte Mannsperson und manövrierte mit ein paar Hanteln.

Er wandte dem Zöllner den Rücken zu, schwenkte von Zeit zu Zeit gymnastisch die Arme hin und her, sank, während er eins, zwei! zählte, in die Knie und richtete sich wieder auf. Er war jung und ausserordentlich wohlgestaltet.

» Glaubst du?« fragte die Magei und sah ernsthaft fragend von ihrer Näharbeit auf. (Sie stopfte ein Loch an der Wade der fleischfarbenen Trikots von gestern abend.)

»Ja,« nickte er, »ich habe einmal mit meiner eigenen Mutter gesprochen.«

»Hast du sie auch gesehen

»Ja, ganz deutlich! ... Zuerst zeigte sich oben unter der Decke gleichsam eine kleine, mattleuchtende Feuerkugel ... Sie wuchs und wuchs und nahm nach und nach die Form einer menschlichen Gestalt an, die wie Phosphor schimmerte ...«

»Konntest du erkennen, dass es deine Mutter war?«

»Ja, ganz deutlich.«

»Sagte sie etwas?«

»Ja ... Alfred! Alfred! Alfred! sagte sie dreimal langsam hintereinander, und dann verschwand sie ... Ich konnte ihre Stimme deutlich erkennen!«

»Und da wurdest du gläubig?«

»Ja, wie konnte ich wohl anders!«

»Nein ... Ach, willst du mir nicht einmal die Schere geben, die da auf dem Tisch liegt?«

Der Mann wandte sich um, nahm die Schere und reichte sie ihr. Die Hanteln hatte er mit einem Plumps fallen lassen.

Er trat dicht an sie heran, legte behutsam und zärtlich den einen nackten Arm um ihre Schulter. Sie strich ihre Wange gegen den Arm.

»Du solltest einmal zu so einer Seance mitkommen, Alvilda,« sagte er. »Das ist furchtbar interessant.«

Sie sah wieder zu ihm auf und nickte:

»Das will ich tun; da du es so gern willst ...«

Und ihre Augen waren, während sie sprach, so glücklich und zuversichtlich, dass alles Mitleid, das der Zöllner seit der Vorstellung gestern abend mit ihr gehabt hatte, durch das Loch im Dache Reissaus nahm ...

 

»Nun, haben Sie das Fräulein getroffen?«

Knagsted zögerte einen Augenblick mit der Antwort.

»Nein,« sagte er dann, »die Dame hatte Besuch ... ich wollte nicht stören.«

»War es Monsieur Alfredo?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Aber Sie haben ihn doch gestern abend gesehen ... Der Jockei, der die Sylphide fing?«

»Ach so ... ja, der war es!«

Der Direktor lächelte väterlich:

»Ja, sie sind gute Freunde, die beiden hübschen jungen Menschenkinder,« nickte er. »Und ich begünstige die Verbindung ... ginge eine von ihnen, würde nämlich der andere folgen ...« das Lächeln wurde zynisch, welterfahren – widerlich, »wenigstens vorläufig noch eine Weile. Man kennt ja den Rummel, he, he!«

Der Zöllner holte eine Visitenkarte heraus:

»Ich weiss nicht, ob ich den Herrn Direktor bitten darf, Fräulein Magei dies zu geben und ihr zu sagen, dass ich mir erlauben werde, sie heute nachmittag um vier Uhr in ihrer Wohnung aufzusuchen?«

»Ja, gern, ja, gern ... Haben wir die Ehre, den Herrn Zollkontrolleur heute abend hier zu sehen?«

»Ja, natürlich!«

»Auf Wiedersehen!«

Draussen vor dem Zelt prügelten sich die Söbyer Jungen noch immer um die Löcher und Risse in dem Segeltuch, während die elektrischen Kuppeln an ihren Schnüren melancholisch im Winde klirrten.

Die Gardinen in Knagsteds Wohnstube waren vorgezogen; die Lampen waren angezündet. Das Feuer prasselte im Ofen; und auf dem Rost war »eine Idee« Räucherpulver gelegt ...

»Thorwald« kam mit dem Fünf-Uhr-Tee.

»Aber Guten Tag, Thorwald!« grüsste Mademoiselle Magei wiedererkennend und klopfte das Mädchen auf den Arm. »Es ist doch gut, dass es noch einige treue Menschen gibt.«

Thorwald errötete, stellte das Teebrett hin, zeigte ihre weissen, frischen Bauernzähne in einem verlegenen Lächeln und eilte wieder hinaus.

Alvilda sah ihr nach:

»Sie ist allerliebst ...!« sagte sie. »Sie haben sie jetzt schon ganz lange gehabt, Herr Knagsted?«

»So lange, wie ich hier in der Stadt wohne ... Wollen gnädige Frau mir die Ehre erweisen, den Tee einzuschenken?«

»Gern ...! Wie gemütlich es doch hier ist! Gut, dass wir nicht bei mir geblieben sind ... Wann haben Sie meine kleine Rigmor zuletzt gesehen?«

»Das ist nicht länger als zwei Tage her.«

»Und sie war gesund?«

»Ja! und froh und munter!«

»Sprechen Sie mit ihr von mir?«

»Nein–n ... nicht mehr.«

»Es ist gewiss auch richtiger, es zu unterlassen.«

»Entbehren Sie sie?«

»Nun, – das will ich eigentlich nicht sagen; was kann das nützen? Jetzt habe ich ja auf sie verzichtet, und ich weiss, dass sie es gut hat ...«

Mademoiselle sass schlank und mädchenhaft in die Sofaecke zurückgelehnt da. Sie trug ein einfaches, dunkelblaues Strassenkleid und sah reizend und damenhaft aus.

Aber da war ja dies kanariengelbe Champagnerhaar und dies gemalte und gepuderte Gesicht!

»Sie sehen mein Haar an?« lachte sie.

»Ja,« lächelte Knagsted, »es geht damit wohl wie mit Elfenbein; es wird gelber mit den Jahren ... Ihr eigenes kleidete Sie besser.«

»Hm ja, vielleicht. Aber das sah man nicht. Und da hatte der Direktor den Einfall, dass ich es färben sollte ... Etwas muss man ja fürs Geschäft tun! ... Noch ein Tässchen Tee?«

»Ja, bitte! ... Wollen gnädige Frau rauchen?«

»Haben Sie Zigaretten?«

»Selbstredend ...!«

»Dann rauche ich gern!«

Die Unterhaltung war ein wenig gezwungen. Knagsted wusste nicht recht, welchen Ton er anschlagen sollte. Auch die Dame war unsicher.

Jetzt erhob sie sich und ging im Zimmer umher:

»Das ist doch ein reizendes Bild, das Sie da haben, Herr Knagsted ... Ich kenne es noch so gut!«

Es war ein Gemälde von Frank Neumann, ein Porträt von den Kindern, die nackend am Strande sassen und einen »Garten« in den Sand gepflanzt hatten ...

»Wie traurig mit dem ältesten Sohn, ... der starb!« sagte Frau Alvilda dann.

»Ja ...«

»Was kann nur der Grund gewesen sein?«

»Nun ... Überspanntheit, denke ich ... Er war ja im Pubertätsalter.«

»Was ist Pubertätsalter ...?«

»Die Übergangsjahre ...«

»Ach so! ... Ja, ich habe geweint, als ich es hörte. ... Wissen Sie vielleicht, ob Michael dort im Hause verkehrt?«

»Michael ...? Ihr, wenn ich mich so ausdrücken darf: Ex-Mann?«

Frau Alvilda lachte:

»Mein ›Ex-Mann‹, ja!«

»Nein, sicher nicht! ...«

»Also nicht ... Ja, denn ich habe erzählen hören, dass er den Jungen beeinflusst haben soll ...« Sie wandte sich plötzlich eifrig an Knagsted. »Ach, er ist ein gefährlicher Mensch, Michael!« sagte sie. »Es ist nichts Böses in ihm; im Gegenteil! Aber er glaubt, dass er der einzige ist, der die Wahrheit gepachtet hat, der einzige, der das Recht hat, der einzige, der Bescheid weiss. Und wer sich ihm nicht beugen will, den zerbricht er ... falls man nicht davonläuft, so wie ich ... Sie wissen doch, dass er mich gezwungen hat, ihn zu heiraten?«

»Nein, das weiss ich nicht.«

»Ja! ... Und zwar, obwohl da ein anderer war, den ich liebte ...« Sie setzte sich wieder aufs Sofa und ergriff eine von Knagsteds Händen. »Stellen Sie sich vor, dass wir, der andere und ich, Hand in Hand zu Michael gegangen kamen und vor ihm nieder knieten und ihn baten, mich freizugeben, weil wir uns so unsagbar liebten ... Aber Michael sagte nein!«

Knagsted streichelte beruhigend ihre Hand.

»Er hat Sie wohl selbst sehr geliebt ...«

»Vielleicht ... Aber das war es nicht allein ... Ja, ich kann es Ihnen wohl gern sagen: Er hatte mich verführt, als ich noch ein Kind war, und nun sagte er, es sei Gottes Wille, dass wir uns heirateten; wir sündigten wider den Heiligen Geist, wenn wir es nicht täten ... Ach, es ist so leicht, ein junges Mädchen in seine Gewalt zu bekommen, namentlich für einen Theologen; ich glaubte ja jedes Wort, das er sagte ... Und als wir dann verheiratet waren, fing er an, mir Askese zu predigen ... er und Askese! Er, der mich selbst gelehrt hatte ... Aber dann lief ich davon, wie Sie ja wissen ... Ach, aber ich bin so fest, so felsenfest davon überzeugt, dass, wenn er mich meinen kleinen Apotheker hätte heiraten lassen, ich ein ganz anderer und besserer Mensch geworden wäre ...!« Die Tränen rollten ihr an den Wangen herab und bildeten Rinnen im Puder. » Ach, Zöllner, Zöllner!« sagte sie, »wie glücklich wäre ich geworden, wenn ich damals meinen kleinen Apotheker gekriegt hätte!«

»So, er war also Apotheker?«

»Ja ...« schluchzte sie.

»Und wie hiess er?« fragte der Zöllner.

»Bloss Nikolajsen ... Ivar Nikolajsen ... Wo in aller Welt glauben Sie, dass er nun wohl sein mag?«

»Er wird wohl in seiner Apotheke sitzen ...«

Frau Alvilda trocknete vorsichtig Augen und Wangen.

»Ja, das tut er wohl ... Kennen Sie etwas vom Spiritismus, Zöllner?« fragte sie dann.

»Nein, nicht das geringste.«

»Glauben Sie, dass es Humbug ist?«

»Nun – wohl nicht mehr als so vieles andere.«

»Ich kenne einen, der daran glaubt ... und er will mich bekehren.«

»Lassen Sie sich getrost von ihm bekehren, liebe Frau Alvilda! ... Das, worauf es hier im Leben ankommt, ist ja nämlich, dass man etwas hat, woran man glaubt.«

Sie wurde wieder eifrig:

»Ja, nicht wahr! Das sagt er auch! ... Und er hat mit seiner verstorbenen Mutter geredet!«

»Nach ihrem Tode?«

»Ja!«

»Nun, dann ist da ja gar kein Grund, sich noch lange zu bedenken!« sagte der Zöllner sehr bestimmt.

»Nein! Nicht wahr? ... Ach, ich freue mich so dass Sie das auch sagen; denn Sie sind der klügste Mann, den ich gekannt habe, und so gut! ... Aber warum haben Sie Ihr Haar und Ihren Bart wachsen lassen? Sie waren früher viel hübscher ...«

»Meinen Sie? Ach, das ist so eine Art Schutzmittel.«

»Aber wogegen doch nur?«

»Im Grunde gegen mich selbst.«

Sie lachte laut:

»Ha, ha, ha! Ich glaubte, es wäre ›Thorwalds‹ wegen!«

»Ach nein,« lachte der Zöllner zurück. »Wir haben uns längst dahin geeinigt, dass wir nicht voreinander bange sind.«

Und dann lachten sie beide, und der Ton war gefunden ...


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