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Gutsbesitzer August Meincke war an einem Landmanns-Sonnabend, als Knagsted noch im Söbyer Hotel wohnte, in dem Restaurant direkt auf ihn zugegangen und hatte gesagt:
»Guten Tag, Verehrtester! Stammen Sie nicht von unserm Grund und Boden? ... Ich bin Gutsbesitzer Meincke aus Abildtorpegaard.«
»Ja ...« sagte der Zöllner ein wenig befangen, »daher stamme ich allerdings.«
»Warum sind Sie dann noch nicht bei uns gewesen, um uns zu begrüssen?«
»Hm ... ja ... ich habe wohl auf eine Veranlassung gewartet.
»Eine Veranlassung ...? Es ist doch, weiss Gott, Veranlassung genug, dass es das Heim Ihrer Kindheit ist.«
»Hm ... ja ... allerdings ...«
»Sind Sie denn so formell?«
»Ach nein ...« lachte Knagsted, »doch wohl nicht.«
»Nein, das würde auch gar nicht zu dem passen, was ich sonst von Ihnen gehört habe ... Wie zum Beispiel das von da oben auf dem Kirchhof.«
»So – die Geschichte kennen Sie?«
»Die kennt die ganze Gegend! ... Wollen wir dann sagen, dass Sie morgen, Sonntag, in acht Tagen zu uns hinauskommen? Wir essen um zwölf Uhr zu Mittag; wir sind Bauern.«
»Vielen Dank! ...« nickte Knagsted, »ich komme gern ... Man kann ja ebenso gut hineinspringen wie kriechen.«
» Was kann man?«
»Ach, ich meine, eine Lustpartie wird es ja gerade nicht?«
»Das ist doch des Teufels!«
»Ja, wissen Sie, Herr Gutsbesitzer, so seine alte Liebe nach dreissig Jahren wiederzusehen ...«
Der Gutsbesitzer starrte ihn wild an; seine Glatze errötete.
»Reden Sie von meiner Frau?«
»Nein, nein ... ich habe ja nicht die Ehre, Ihre Frau Gemahlin zu kennen ... Nein, ich meine das Gut ... die Stuben ... den Garten ... das Ganze ...«
»Sind Sie Sentimentaliker?«
»Ja, an der Schwachheit leiden wir wohl alle ... mehr oder weniger ...«
»Weiss Gott! Aber Sie sollen sehen, es wird schon gehen ... c'est le premier pas qui coûte, wie der Deutsche sagt ... Sollen wir Ihnen denn einen Wagen schicken?«
»Nein, danke, ich gehe am liebsten! oder auch ich radle.«
»Sie sollen ja so ein verteufeltes Fahrrad haben ... Nun, also auf Wiedersehen!«
»Danke, danke!«
Der Gutsbesitzer, der bereits auf das Nebenzimmer zuging, wandte sich wieder um:
»Was mochten Sie als Kind am liebsten?« fragte er.
»Was ich am liebsten mochte?«
»Ja, ich meine zu Mittag?«
»Kerbelsuppe!«
»Die sollen Sie haben ... Und als Nachtisch?«
»Pfannkuchen!«
»Ja, aber was für Fleisch?«
»Aal in Karry.«
»Verdeubleter Geschmack: Kerbelsuppe. Aal in Karry und Pfannkuchen! ... Was meinen Sie, dass Catrine zu dem Menü sagen wird! ... Na ja, Sie sollen es haben!«
»Meincke!« wurde aus dem Nebenzimmer gerufen, wo die Landleute sich aufhielten. »Wo bleiben Sie nur einmal?«
»Jetzt komme ich ...! Sie sollen sehen, es wird schon gehen ...« wandte er sich an den Zöllner. »Wir wollen so recht gut gegen Sie sein ... Haben Sie übrigens nicht Lust, schon Sonnabend zu kommen? Wir haben ein Fremdenzimmer ... Sie wissen ja, das grüne nach dem Garten hinaus.«
»Grosser Gott, ist das noch grün ... Nein, lassen Sie mich lieber bis zum Sonntag warten ... so für den Anfang.«
»Wie Sie wollen ... Na, jetzt muss ich wohl zu meinen Kollegen hinein! ... Ihren ›Sohn‹ bringen Sie doch mit? ...«
»Ja, gern. Er wird doch nicht aufgefressen? ...«
»Nei–ein ...«
Der Gutsbesitzer drückte dem Zöllner die Hand zum Abschied, so dass sie noch eine gute Stunde nachher weh tat.
»Jochum,« sagte Knagsted, als er später auf sein Zimmer hinaufkam, »morgen in acht Tagen müssen wir die Ohren steif halten.«
Auf dem Hügel vor Post-Peters Haus sass sie auf einem Steinhaufen.
Als der Zöllner bis dahin gelangte, erhob sie sich und knickste:
»Guten Tag ... Sind Sie nicht Herr Zollkontrolleur Knagsted?«
»Ja, leider ...«
»Ich bin Line Meincke ... Vater sagte, ich sollte Ihnen entgegengehen.«
»Das war reizend von Ihnen, Fräulein Meincke ...«
Sie lächelte:
»Ach Gott, Sie sagen Sie und Fräulein ...«
»Wollen wir uns lieber duzen und bei Vornamen nennen?«
»Hm ... ja ... das heisst ... ich ...«
»Nein, auf keinen Fall! Soll ich du zu Ihnen sagen, so müssen Sie auch du zu mir sagen.«
»Wenn ich es kann ...«
»Das kommt mit der Übung. Sie werden schon sehen.«
Er schob seinen Arm unter den ihren.
»Warum ist deine Schwester nicht mitgekommen?«
»Sie ist von Hause, um die Wirtschaft zu lernen.«
»Wie alt ist sie?«
»Neunzehn Jahre ... Und ich bin siebzehn.«
»Wie heisst sie?«
»Mine ... Und Mutter heisst Trine ...Trine, Mine, Line! Das ist, als wenn man die Flöte spielte ... nicht?«
Sie hielt die Hände vor den Mund und bewegte die Finger.
Der Zöllner lachte.
»Ist sie ebenso lieb wie du?«
» Viel lieber und viel besser. Ich kann manchmal sehr naseweis und heftig sein ... Aber nun wollen wir nicht mehr von mir reden ... Wo ist Jochum?«
»Er war schon ausgegangen, ehe ich aufgestanden war.«
»Hat er denn Erlaubnis zu tun, was er will?«
»Absolut!«
»Der kann wohl lachen! ...«
Sie schritt taktfest neben ihm her, rank und blond. Ihr Gesicht war zart und ein wenig blass; die Augen graublau und energisch; der Mund schmal und geschlossen mit starkroten Lippen.
In dem Herzen des Zöllners stieg eine feine kleine Freude auf. Es waren offenbar ganz prächtige Menschen, diese Besitzer seines väterlichen Gutes, dass sie daran gedacht hatten, ihm den Einzug zu erleichtern, indem sie ihm ihren allerliebsten kleinen Backfisch entgegensandten!
Er sah zu ihr hinab:
»Lachst du niemals?«
Sie lächelte, so dass die Zähne schimmerten:
»Aber natürlich, weiss Gott, ich lache ...!«
»Und dann bist du so stumm.«
»Ich bin sonst sehr beredt, wissen Sie ... weisst du.«
»Nein?«
»Ja, weisst du, was Vater immer sagt?«
»Nein ...?«
»Ich danke dir, mein Gott, dass Line nicht mehr als einen Mund hat!«
»Ist es so schlimm?«
»Ja, warte nur, bis ich angefangen habe!«
»Darauf freue ich mich schon jetzt!«
Sie sah schelmisch zu ihm auf:
»Die leibhaftige Bosheit ...!« lachte sie.
» Aber ...!« sagte Knagsted unwillkürlich.
Sie errötete:
»Ja, Mutter hat eine Jugendfreundin in Gammelköbing, und die hat erzählt, dass ...« sie hielt inne und ergriff seine Hand, »du wirst doch nicht böse?«
»Nein ...« lächelte Knagsted. »Ganz und gar nicht ... Und was erzählte denn diese ... Jugendfreundin?«
»Sieh ... du bist doch böse ... Ich konnte es an dem Ton hören, in dem du ›Jugendfreundin‹ sagtest.«
»Ei, ei! Die kleine Dame gibt sich also auch damit ab, zu ›hören‹! ... Nun, aber was sagte denn die Freundin?«
»Sie sagte, du wärest so unzugänglich und so ... ironisch.«
»›Ironisch‹, nun ... Hat sie denn sonst nichts gesagt?«
»Ja ... sie sagte, du wärest ein Frauenhasser!«
»Ho, ho! So ein Biest!«
»Aber das sind Sie ja gar nicht ...«
»Na, und ob!«
»Und dass Sie uns Frauen nicht mit zu den Menschen rechneten ...«
»Das tu' ich auch nicht.«
»Bist du denn wirklich ein Frauenhasser ...?« Die Kleine wandte interessiert das Gesicht zu ihm empor. »Und warum denn?«
»Weil ich euch so schrecklich gern habe!«
»Ist das aber ein Grund ...« sagte sie mit einem so enttäuschten Gesicht, dass sich Knagsted stark versucht fühlte, sie zu küssen. Er beherrschte sich jedoch.
Sie gingen nun eine Weile stumm nebeneinander her; dann sagte sie plötzlich:
»Wo ist Jochum hingegangen?«
»In die Kirche.«
»In die Kirche?!«
»Ja – das tut er jeden Sonntag.«
»Ach was! ... Und Ihr Rad haben Sie ... hast du auch nicht mit ...«
»Nein, das sollen Sie ... das sollst du ein andermal zu sehen bekommen ... radelst du?«
»Ja ...«
»Dann wollen wir einige Ausflüge zusammen machen?«
»Ja! Mit unserm Frühstück in der Tasche!«
»Und Schokolade ...!«
Sie waren über die Abildtorpebrücke gelangt und bogen in die Allee ein.
Da stand Gutsbesitzer Meincke und wartete. Neben ihm sass auf einem »kupierten« Schwanz ein alter, braungefleckter Hühnerhund.
»Na, da seid ihr ja endlich!« sagte der Gutsbesitzer. »Grossartig, wie euch das Mundwerk gegangen ist! ... Ja, reden, das versteht sie!«
Line fuhr auf ihn ein:
»Ach, neck' mich doch nicht gleich wieder!«
Er nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und küsste sie auf die Stirn.
»Langaufgeschossenes, verhätscheltes Frauenzimmer!« sagte er.
Der Hund sprang an ihr in die Höhe.
Sie wehrte ihn ab:
»Aber Pardautz! Aber Pardautz!«
»Pardautz?« fragte Knagsted. »Das ist doch ein sonderbarer Name für einen Jagdhund.«
»Ja, so haben ihn die Kinder genannt, als er noch ganz klein war und kopfüber in alle Gräben tründelte; und dann hat er den Namen behalten ... Im übrigen heisst er Hektor.«
Line schob ihren Arm unter den des Vaters und zog ihn mit sich:
»Komm jetzt!« sagte sie. »Mutter wartet!«
Knagsted folgte ihnen solo ...
Und in ihm stieg die Erinnerung an einen Sommerabend vor vierzig Jahren auf, wo ihm hierauf dieser selben Stelle etwas Ähnliches begegnet war:
Eine Familie aus Söby, ein Bankdirektor mit Frau und Kindern war auf dem Gut zu Besuch. Knagsted war lange glühend verliebt in die älteste Tochter gewesen, die zwölf Jahre alt war und Sophie hiess. Man gab der Familie das Geleite auf dem Heimweg. Er und die Geliebte hatten sich absichtlich ein wenig hinter den andern verkrümelt. Er hatte still seinen Arm in den ihren geschoben, und sie liess es geschehen. Sein Herz hatte selig gepocht ... Draussen über den Feldern ging die Sonne unter, die Lerchen hingen in der goldenen Luft; er erinnerte sich noch ihres Gesangs und spürte wie in einem Vorüberstreifen den süssen Duft der Kleeblüten ... Ein zweischneidiges Schwert hätte er sich in dem Augenblick quer durch den Leib jagen können ... in die Brust hinein und durch den Rücken wieder hinaus! ... falls Sophie es verlangt hätte, so schrecklich liebte er sie ...! Aber plötzlich hatte ihr Vater, der elende Bankdirektor (er wurde dann auch wegen Bankbetrügereien eingesteckt) sich umgewendet und gerufen. Und sie hatte schonungslos ihren Arm aus dem des Ritters gezogen, war zu ihrem Vater hingelaufen und hatte sich während des ganzen übrigen Weges zu ihm gehalten.
Knagsted lachte laut:
Und bei Gott in seinem höchsten Himmel, wenn er nicht in diesem Augenblick etwas von demselben dumpfen Trübsinn jenes Abends in sein einsames Herz herabfallen fühlte!
»Worüber grinsen Sie?« fragte der Gutsbesitzer.
» Ach, mir fiel etwas ein, was sich hier in der Allee vor vierzig Jahren zugetragen hat.«
»Etwas Gemeines?«
»Nein, nein,« lachte Knagsted.
»Aber Vater ...!« sagte Line.
»Was denn?«
»Ach – hm ...«
»Vor vierzig Jahren!« wiederholte das junge Mädchen mit einem Ausdruck in den Augen, als habe sie nie eine so enorme Zahl nennen hören. »Wie alt bist du denn jetzt?«
»Hundertunddreiundsechzig!«
»Ach was ...!«
Sie lief hin und rüttelte ihn am Arm.
Und sie blieb bei ihm.
Und der Trübsinn verflüchtigte sich ...