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Der »alte« Paul Aron Birk bewohnte selbst das Erdgeschoss neben dem Laden in dem Hofmannschen Kaufmannshaus am Kirchenplatz.
Er war erst fünfundsechzig Jahre alt, aber seine Kurzsichtigkeit und zunehmende Gicht hatten ihn vor fünf Jahren gezwungen, das Geschäft (Kohlen, Korn und Häute) an seinen Schwiegersohn, den finnischen Konsul und Bankdirektor Hagbart Wäver abzutreten, der zu jener Zeit schon sieben Jahre sein Kompagnon gewesen war.
Der Konsul war der Sohn eines reichen Kornhauses in der Hauptstadt. Das Haus war während der Verlobungszeit des jungen Paares zusammengestürzt und zwar mit einem Getöse, das man in weitem Umkreise vernahm; der alte Birk wollte, dass die Verlobung sofort aufgelöst würde. Aber die Tochter wollte nun einmal ihren grossen und flotten Bräutigam haben, und die Hochzeit hatte mit viel Pomp und allerlei rituellem Hokuspokus stattgefunden.
Fünf Jahre war Hagbart Weingrosshändler in der Hauptstadt, dann machte er Bankrott und wurde nun in die Firma P. A. Birk als Kompagnon aufgenommen, damit der Schwiegervater ihn unter Aufsicht haben konnte.
Und seitdem war auch nicht ein Tag friedlich zwischen ihnen zu Ende gegangen.
Die Luft wurde gelb vor ihren Augen, wenn sie nur im Zimmer zusammen waren ...
Das junge Paar hatte die Wohnung im ersten Stockwerk bewohnt, bis der Konsul Bankdirektor und alleiniger Inhaber der Firma wurde. Da baute er sich eine Villa (das »Palais« nannte P. A. sie) vor der Stadt nach Norden zu; und die Wohnung im ersten Stockwerk wurde zu Kontoren eingerichtet.
Der Laden im Erdgeschoss wurde vermietet.
Wieder und wieder hatten der Konsul und seine Frau versucht, den alten P. A. zu bewegen, aus dem Haus am Kirchenplatz auszuziehen und in einer entlegeneren Gasse Wohnung zu nehmen. Aber erfolglos.
Birk wollte sterben, wo er bald ein halbes Jahrhundert gelebt hatte. (Er hatte als Ladenlehrling angefangen und sich mit der Tochter aus dem Geschäft verheiratet.)
Und es trugen sich seiner Ansicht nach die wahnsinnigsten Dinge zu.
Aber sein Privatvermögen (eine runde halbe Million, sagte man) hatte er weder in der Bank des Schwiegersohns noch in dessen Geschäft angelegt, sondern in sicheren Papieren ...
Und nun sass er dort also in seinem Stuhl, mehr und mehr von der Gicht und seinem schwachen Gesicht geplagt und schwelgte förmlich im voraus in dem Ruin, der, wie er meinte, aus » des Konsuls« amerikanischen Milliardärmucken entstehen musste.
Draussen vor der Haustür lärmte das Automobil der Konsulin.
Der alte Birk »kanonierte« ingrimmig in seinen Spion hinein.
»Lustkutter und Automobil, wie, Zöllner, heh!« sagte er. »Er glaubt wohl, dass er ein ganzer Rattenfänger ist, ›der Konsul‹!«
»Das ist er auch nach flachländischen Begriffen,« nickte Knagsted. »Alle Menschen sagen, dass er ein ausserordentlich tüchtiger Mann ist.«
»Ein Jahrmarktsgaukler ist er!« murmelte der Kaufmann. »Ein Taschenspieler! Ein Augenverblender, genau so wie sein Bankrottspieler von Vater! ... Aber ich werd' mich schon hüten, ihm wieder aus der Patsche zu helfen ... Prost Mahlzeit! Er kann selbst sehen, wie er da herauskommt. Er wird noch im Zuchthaus am Spinnrocken enden, dann hat er wenigstens den Verdienst.«
»Aber Kaufmann!«
P. A. beugte sich zu Knagsted nieder; sein Sehauge blitzte:
»Das Geschäft kann nicht abwerfen, was er gebraucht,« fauchte er. » Das kann es nicht, verstehen Sie! Ich sollte es doch wohl kennen! Und wo kriegt er das Geld her? ... Aber ich rühre keinen Finger, das sag' ich Ihnen!«
»Dann hat er ja doch auch sein Gehalt in der Bank ...« meinte Knagsted.
»Hahaha! sein Gehalt in der Bank! Die Bank wird ihm schon den Hals brechen ... Aber sie stecken ihn sicher eines schönen Tages ein, und dann wasche ich meine Hände!«
»Aber Kaufmann, Kaufmann!« sagte Knagsted wieder und schüttelte den Kopf.
Es entstand eine Pause ...
Durch das geöffnete Fenster hörte man das Stöhnen des Automobils.
Dann tutete es zur Abfahrt und setzte sich in Bewegung.
Die Konsulin winkte holdselig lächelnd, als sie vorübersauste:
»Adieu! Adieu!«
» Halt's Maul!« murmelte der Kaufmann und schlug das Fenster zu.
Wie lächerlich es auch klingen mag: Zollkontrolleur Knagsted war verliebt ...
Das Unglück geschah, als er aus der Hauptstadt nach Söby zog.
Der Gegenstand war siebzehn Jahre alt; er war fünfmal zehn und ein wenig darüber. Aber er sah so aus, als sei er nur einige vierzig ...
Früher hatte er nämlich sein unregelmässiges rotes Haar und seinen Bart wachsen lassen, wie es wollte. Jetzt trat er hingegen gestutzt, geputzt, rasiert und frisiert auf.
Ausserdem war er grauhaarig geworden. Was ihm stand.
Nur diese unglückseligen »Onkel-Büschel«, die ihm aus Nase und Ohren herauswuchsen!
Aber die konnten ja im Zaum gehalten werden.
Und sie wurden im Zaum gehalten.
Ausserdem hatte er angefangen, seine Nägel zu polieren, so dass sie wie zehn Wasserlachen bei Mondschein glänzten.
»Ehre der Liebe!« nickte er sich selbst im Spiegel zu, während er davorstand und sich jung machte. »Ehre der Liebe!«
Er war also, Zöllner Knagsted, wie es in der Chronik von Gammelköbing aufgezeichnet steht, alldort eine Reihe von Jahren Zollkontrolleur gewesen. Als aber sein Freund und Jonathan, Konsul Mörch, nach den grossen Jagdgefilden abging, und ihm unvermutet einen Haufen Geld hinterliess, legte er spornstreichs sein Amt nieder und zog als freier Mann in die Hauptstadt ... damit möglicherweise das helfen könne.
Aber es half nicht.
Das grosse Lampenfieber des Lebens sass ihm nach wie vor im Blut.
Gleich dem Schuhmacher von Jerusalem war er seit seiner frühesten Jugend von Ort zu Ort gezogen. Nie aber hatte er den Frieden gefunden, der, wie es heisst, über allen Verstand hohnlächelt ... Sass er in Blaaby, so meinte er, Grönby sei das allein Seligmachende; und zog er dann nach Grönby, so winkte ihm Rodby...
Und als er dann plötzlich und unerwartet ein reicher Erbe geworden war, glaubte er, das Glück zusammen mit der Freiheit zu finden und liess sich in der Hauptstadt nieder, dem Nabel der Welt, dem Ziel und der Sehnsucht aller flachländischen Männer und Frauen ...
Aber auch das sollte nur eine Enttäuschung für ihn werden, und zwar die grösste. Denn nun war da ja nichts mehr.
Und er stand deswegen auf dem Sprung, sich von neuem nach Blaaby einzuschiffen und den Kreislauf wieder von vorne zu beginnen, als er an drei aufeinanderfolgenden Tagen und in drei verschiedenen Zeitungen auf den Namen Söby stiess!
Söby ... die heilige Stadt seiner Kindheit, seiner Schulzeit Eldorado, seiner Jugendsiege oder -niederlagen »Jemen oder glückliches Arabien«!
Söby ... das er aus der ganzen Fülle seiner gläubigen Knabenseele geliebt hatte ... das er aber immer geflohen war, und das er nicht wiedersehen wollte, weil die Zeit der Kindheit und Jugend das versunkene Atlantis ist, das verlorene Paradies, der entschwundene Traum der Menschheit, wohin man nicht zurückkehren kann ...
Und also zog er gen Söby, baute sich dort ein Haus, pflanzte sich einen Garten ... und fühlte sich ärmer und friedloser denn je zuvor.
Abildtorpegaard hiess das väterliche Gut Knagsteds ... »der Hof mit den vielen Äpfeln«.
Es lag eine Meile nördlich von Söby ...
Gleich am selben Morgen, als Knagsted in die Stadt gekommen war, nahm er einen Landauer, brachte sich selbst und Jochum im Fond an und rollte auf der breiten, blumenumränderten Landstrasse dahin ...
Aber die Landstrasse war schmäler geworden, und die Blumen waren verblasst.
Der Zöllner sagte:
»Jochum,« sagte er, »hierauf hätten wir uns gewiss nicht einlassen sollen!«
Aber Jochums Schwanz wedelte seelenvergnügt; seine Ohren waren halb in die Höhe gezogen, seine Augen spähten wachsam ringsumher ... denn er lebte in der Gegenwart und pfiff auf Vergangenheit und Zukunft.
Oben vom Hügel, vor Post-Peters Hause, sah man auf die zum Gut gehörigen Felder hinab.
»Wie heisst das Gut dort?« fragte Knagsted.
»Abildtorpegaard ...« nickte der Kutscher.
»Sind da so viele Äpfel?«
»Gewesen!« sagte der Kutscher. »Aber die Bäume sind gefällt.«
»Jochum, hörst du: Die Bäume sind gefällt!«
»Wau!« sagte Jochum. (Eine Kröte strich am Weg vorüber.) ... »Was schert mich das!«
»Wer wohnt auf dem Gut?« fragte Knagsted.
»Gutsbesitzer Meincke.«
»Ist der ein tüchtiger Mann?«
»Ja ... Das sagen sie ja.«
»Ist er verheiratet?«
»Ja.«
»Sind da Kinder?«
»Ja ... zwei Töchter.«
Und dann rollten sie weiter ...
Der Wagen fuhr über eine schmale, weissangestrichene Brücke, die Abildtorpebrücke. Und gleich zur Rechten führte eine Allee von breitkronigen und hochstämmigen Pappeln nach dem Hause hinauf.
Aber die meisten von den Bäumen waren jetzt weg; und junge schattenlose Stecklinge waren an ihre Stelle gepflanzt.
»Wollen wir da hinauf?« fragte der Kutscher.
»Nein!« sagte Knagsted schnell. »Fahren Sie aussen herum!«
»Jawohl! ...«
Und der Landauer fuhr die Dorfstrasse entlang, an dem Garten des Gutshauses vorüber.
Die ehemals so reichtragenden Obstbäume waren verschwunden. Die Steige waren umgelegt.
Die Flaggenstange war versetzt.
»Dadrinnen lief ich als kleiner Junge in unschuldsreinen Hosen und Matrosenkragen ...« sagte Knagsted.
Aber Jochum hörte ihn nicht: Auf der Gartenmauer sass eine Katze und schleckte Sonnenschein.
»Wohin nu?« fragte der Kutscher.
»Den Kirchweg hinauf ... Wir halten vor der Kirche.«
»Jawohl ...«
Am Kirchweg entlang lagen noch die alten Bekannten: Floh-Heinrichs Haus, Weber-Marens Hütte und die Häuser von Rademacher Rasmus und Ole Stöds. Aber sie waren alle kleiner geworden.
Und die einst so gewaltige, weissgetünchte Kirche mit ihrem turmhohen Dach lag klein und ducknackig hinter der niedrigen Mauer ...
Knagsted und Jochum gingen durch die Pforte nach dem Familienbegräbnis, wo die beiden kleinen Geschwister, Olga und Axel, nun bald vierzig Jahre »geruht« hatten, wie es heisst.
Dichtes Unkraut wucherte auf dem Grabe, die Marmorplatte war gesprungen und die Buchstaben waren kaum mehr zu lesen.
Und plötzlich erhob Jochum ein Hinterbein und machte sich daran, seine Notdurft an der Buchsbaumhecke zu verrichten.
Da schnitt der Zöllner eine Grimasse und lachte gezwungen.
»Das ist recht!« sagte er, »piss du nur zu! Das Leben gehört dem Lebenden! ...«
Draussen am Wege war der Kutscher vom Wagen gestiegen und hatte sich eine Zigarre angezündet. Der Rauch ringelte sich munter über seinem Kopf in der Luft.
Die Totengräberfrau, eine lange, blasse Person, mürrisch und unzugänglich, weil sie so viele Begräbnisse mit angesehen hatte, kam aus dem gegenüberliegenden Hause.
»Wen fährst du da, Niels Peter?« fragte sie.
»Das weiss ich nich! ... Er ist heute morgen mit dem Zug gekommen und wohnt im Hotel.«
»Denn is das wohl einer von diese Probenreiters. ... Heda! Sie da!« rief sie wütend über die Mauer hinüber. »Wissen Sie denn nich, dass man keine Hunde mit auf den Kirchhof nehmen darf?«
Die mürrische Erscheinung der Frau wirkte belebend auf Knagsted. Er richtete sich kampfbereit auf und ging zu ihr hinaus:
»Wessen Grabstätte ist das da mit den beiden Namen?« fragte er sanft.
»Das hat einem von den früheren Besitzern von Abildtorpegaard gehört.«
»Und wie hiess denn der?«
»Das weiss ich nich mehr; da sind so viele gewesen ...
Aber wissen Sie denn nich, dass man keine Hunde mit auf den Friedhof nehmen darf?«
»Das Grab sieht ziemlich vernachlässigt aus, liebe Frau: ..« fuhr der Zöllner fort.
»Die Mietszeit ist zum Herbst abgelaufen ...«
»Welche Mietszeit, meine Zuckerpuppe?«
»Die Mietszeit für das Grab, natürlich!« fauchte die Frau. »Glauben Sie vielleicht, dass dem Toten die Erde in alle Ewigkeit gehört?«
»Nein, genau dasselbe habe ich vorhin zu Jochum gesagt ...«
Die Frau trat einen Schritt zurück:
»Jochum ...? Heisst der Hund Jochum?«
Knagsted ergriff das eine Schürzenband der Madame:
»Das ist kein Hund, meine Liebe,« sagte er sanft. »Das ist mein Sohn.«
»Ihr Sohn ...!«
Der Kutscher löschte still seine Zigarre aus und rettete sich auf den Bock.
»Mein Sohn, ja ...« nickte der Zöllner geheimnisvoll. »Mein unehelicher, verstehen Sie, natürlich ... Ich hab' ihn mit einem Foxterrier bekommen ... Sagen Sie das aber keinem Menschen!«
Die Madame fiel hintenüber gegen die Mauer des Hauses.
»Mensch! ...« sagte sie und die Finger standen ihr steif auseinander vor Entsetzen.
Knagsted aber stieg neubelebt mit dem Sohn in den Wagen und fuhr nach Söby zurück.