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VII

Was Dr. Almeneuer an jenem Abend seiner Rückkehr von der Bergreise erlebte, sollte sich in den nächsten Tagen und Wochen fortwährend in hundert kleinen Begebenheiten und Zwischenfällen wiederholen, die ausführlich zu schildern kaum gelingen dürfte, da diese Anlässe an sich sehr geringfügiger Natur waren und nur durch jene Vergrößerung, welche ihnen der Hohlspiegel eines liebekranken Gemütes gab, im Geiste des jungen Mannes ungeheure Dimensionen annahmen, als wären solche kleine, ihn demütigende und zurücksetzende Vorkommnisse eigentliche Ereignisse.

Sie waren es allerdings nicht für ihn allein, sondern auch für Dougaldine. Die junge Patrizierin hatte am zweiten Tage der Abwesenheit Dr. Almeneuers deutlicher als jemals vorher empfunden, wie sehr ihr dieser Mann fehle, der auf so eigentümliche Weise in ihre Lebenssphäre getreten war. Schon bei der Ankunft seiner Depesche hatte ein glühendes Rot ihre Wangen übergossen, ein verräterischer Purpur, den sie gern weggewischt hätte, als sie den Blick der Tante auf sich ruhen fühlte. Dann, da die Depesche die Verlängerung der Abwesenheit meldete, war sie erbleicht, und im nächsten Augenblick übergab sie dem Botenmädchen, das aus dem benachbarten Dorfe das Telegramm gebracht hatte und gleich auf die Antwort wartete, jene spitzen Worte ohne Unterschrift, die den jungen Mann so sehr kränkten. Hierüber war ihr der Zustand ihres Herzens immer klarer geworden, zugleich aber auch die Notwendigkeit, aus demselben herauszukommen. Denn wozu sollte das alles führen?

Die Ankunft ihrer Freundinnen konnte nur beitragen, ihr eigenes Standesgefühl gegenüber dem Abwesenden zu kräftigen. Wenn sie sich einen Augenblick vorstellte, daß sie diesen drei ahnenstolzen Fräuleins eines Tages anvertrauen sollte: Denkt Euch, ich habe mich mit Doktor Almeneuer, dem Hauslehrer meines Bruders, verlobt, – so fühlte sie, daß sie eher in die Tiefe des Sees versinken möchte, als ein solches Geständnis über ihre Lippen kommen lassen. Aber freilich, sie spürte auch ein geheimes Weh, einen unsäglichen Kummer, der ihre junge Seele zu vergiften drohte, indem sie sich zurief: Es ist unmöglich. Es muß ein Ende nehmen. Ach! gab es denn nirgends einen Stab, eine Stütze, die ihr in diesem schweren Seelenkampfe beistund? Sollte sie sich ihrer Tante entdecken? Vielleicht, ja, vielleicht, wenn die Freundinnen wieder abgereist wären; vielleicht auch nicht! Es war zu schmachvoll, dies geheime Gefühl in Worte zu fassen. Aber wer konnte ihr helfen von demselben sich loszuringen?

Da erschien am dritten Tage nach der Abreise der beiden Herr von Heinzenstorff. Auf einmal stund er vor ihr im Garten. Und wie sie an ihm emporsah und sich nicht verhehlen konnte, selten in ihrem Leben einen stattlicheren Kavalier gesehen zu haben als diesen Mann, der ihr anfänglich keine Zuneigung eingeflößt, da war es gewissermaßen eine Art Selbsterhaltungsinstinkt ihrer jungen Seele, der sie zwang, diesen Mann, wenn immer möglich, als Retter aus so schwerer Bedrängnis anzunehmen. Wenn ich ihn lieben könnte – so tönte eine Stimme in ihrem Herzen – und wenn ich durch diese Liebe jene andere unsinnige Neigung auszurotten imstande wäre, dann möchte vielleicht noch alles gut werden.

Es war also nicht Koketterie, was Dougaldinens Annäherung an Heinz von Heinzenstorff zuerst zuwege brachte; es war das Zugreifen des rettungslos Versinkenden nach dem ersten Gegenstande, der Beistand zu bringen scheint. Ihr Herz sollte, wo immer möglich, einen Gebieter erhalten, der jenen andern verdrängte und ihm den ferneren Zutritt verschloß. Die junge Patrizierin, bei aller Wärme und Innigkeit ihres Gefühlslebens, war nicht umsonst die Tochter eines in der Geschäftswelt um seiner Klugheit willen hoch angesehenen Mannes; ihr geistiges Erbteil war ein scharfer Verstand, der sie deutlich erkennen ließ, daß in einer solchen Lage nur ein neues Gefühl sie schützen würde wider ihr bisheriges, wie sie es nannte, unerlaubtes Empfinden. Und so versuchte sie, sich blindlings in eine Liebe zu dem Fremden hineinzustürzen; nur seine Vorzüge wollte sie sehen, für seine Mängel keine Augen haben. Vielleicht gelang ihr so die Befreiung ihres Herzens aus unwürdigen Ketten. Daß aber in dergleichen zarten Dingen des Gefühls auch die verständigste Berechnung immer gröbere Irrtümer begeht, als selbst die verblendetste Leidenschaft, das ahnte ihr unerfahrenes jungfräuliches Herz keineswegs.

Als dann der Hauslehrer an jenem Abend zurückgekehrt war, da wurde von Stund an ihr begonnenes Spiel ein Doppelspiel. Jetzt trat allerdings jene Koketterie hinzu, die anfänglich ihr fremd gewesen. Wohl suchte sie fortwährend gleichsam die Betäubung ihres Gefühls für Doktor Almeneuer in der Art, wie sie die Huldigungen Herrn von Heinzenstorffs annahm und ermutigte. Aber zugleich spähte sie scharf nach dem Eindrucke, den dies auf den Hauslehrer machte, und gar oft wußte sie nicht mehr, ob sie dem ebenbürtigen Liebhaber eine Gunst gewährte, nur um ihr eigenes Herz zu festigen gegen die Liebe zu dem jungen Manne niedern Standes, oder ob sie solche Huldigungen des erstern vielmehr annahm, um die eifersüchtige Leidenschaft des letzteren bis zu einem gewaltsamen Ausbruche zu steigern, dem sie vielleicht eben so sehr mit Entzücken als mit Seelenangst entgegensah.

So lange Dougaldinens Freundinnen zu Besuch da blieben, sah sich Dr. Almeneuer in jeder intimeren Annäherung an das Fräulein gehindert. Diese anmutigen, aber sehr standesbewußten Mädchen bildeten eine Art Leibgarde ihrer Freundin. Wohl waren die Mahlzeiten gemeinschaftliche; aber es ging etwas steif und gezwungen dabei her, da der junge Mann bei all seiner Bildung und seinem sonst so männlich festen Auftreten dermalen doch durch seine im stillen gehegte Leidenschaft zu sehr das innere Gleichgewicht verloren hatte, um als einziger Herr an einem Tische übermütiger junger Damen das Gespräch geistig beherrschen zu können. An den Abenden, wenn Herr Fininger aus der Stadt gekommen war, machte sich die Unterhaltung allerdings zwangloser. Sonst aber beschränkte sie sich auf kleine unbedeutende Wechselreden, die nur dazu da waren, keine Verlegenheitspausen entstehen zu lassen. Nun war freilich die Persönlichkeit des Hauslehrers derart, daß diese jungen Mädchen es trotz ihrem stark entwickelten Standesgefühl sich bis auf einen gewissen Grad wohl hätten gefallen lassen, wenn er ihnen den Hof gemacht hätte; sie würden, wie sie dachten, schon verstanden haben, den Herrn in der nötigen Distanz zu halten und sich doch dabei zu amüsieren. Namentlich die hübsche Hanna, die in ihren Bewegungen etwas von einem zierlichen Vogel hatte, wozu das kecke Näschen gut paßte, sprühte zuweilen recht herausfordernde Blicke aus ihren großen grauen Augen und hielt ihr Zünglein immer bereit zu spitzem, neckendem Wortgefecht. Aber der junge Mann sah in diesen drei schönen Geschöpfen nur feindliche Amazonen, die Dougaldine ihm entfremdeten, und da er, selbst um den Preis einer Annäherung an letztere, sich für zu gut hielt, ein Spielzeug der jungen Damen abzugeben, machte er auch nicht den mindesten Versuch, sich bei Spaziergängen oder bei andern Unterhaltungen im Park oder auf dem See als Begleiter anzubieten, auch wenn ihm dies durch anzügliche Reden nahe gelegt wurde. Die Strafe hiefür blieb nicht aus. »Es ist schade um ihn, daß er so wenig Lebensart hat,« sagten Dougaldinens Freundinnen. »Er sieht wie ein Gentleman aus, aber die bäurische Herkunft, die mangelnde Erziehung kann sich doch nicht verbergen.« Dougaldine stimmte solchen Reden bei, obschon sie in ihrem Herzen fühlte, daß ein berechtigter Stolz den jungen Mann von ihren Unterhaltungen fernhielt.

Übrigens wurde der Hauslehrer um so weniger vermißt, als Heinz von Heinzenstorff an jedem Nachmittage, meistens in einem gemieteten Schiffchen, herüberkam, wo dann immer wieder das beliebte Croquetspiel, das leicht zu einer Art Leidenschaft wird, vorgenommen wurde. Er war der rechte Mann für diesen Kreis und wußte ohne die mindeste Verlegenheit »Hahn im Korbe« zu sein. Galt auch seine tiefste ernstliche Huldigung ausschließlich Dougaldinen, so war er doch voll galanter Aufmerksamkeit für jede der jungen Damen. Seinen schwarzen, feurig blickenden Augen entging nicht die kleinste Veränderung einer Frisur oder der Toilette, und flugs war ein Kompliment auf seiner Zunge, wie das leichte blaue italienische Seidentuch Fräulein Gisela so wunderbar gut stehe zu dem hellen Blond ihres Haares und dem tiefen Blau ihrer strahlenden Augen, ob Fräulein Hanna diesen reizenden Sommeranzug direkt aus Paris habe kommen lassen, und daß dieser originelle Kamm, den Fräulein Marguerite heute im Haar trug, gewiß ein Prachtstück alten Familienschmuckes sei, wie man solchen eben nur in echten Patrizierhäusern noch besitze. Dougaldinen gegenüber war er wählerischer, feiner und vorsichtiger in seinen Galanterien, da er ihre geistige Überlegenheit bald inne ward. Aber auch ihr wußte er Artiges in liebenswürdiger Weise zu sagen, und was sein Mund verschwieg, taten Blicke kund, deren Feuer er zu bescheidener Glut mäßigte, um das jungfräuliche Mädchen nicht durch zu aufdringliche Huldigung zurückzuscheuchen.

Dr. Almeneuer wich der Begegnung mit seinem Nebenbuhler möglichst aus. Entweder saß er mit Amadeus auf seinem Zimmer und unterrichtete den Knaben, oder sie begaben sich auf eine kleine botanische Exkursion. Zog es aber Amadeus vor, am Spiel sich zu beteiligen, so ließ er ihn gewähren und versuchte, in das Studium eines Buches sich zu versenken, wobei es ihm freilich oft genug vorkam, daß er eine Seite zwei- und dreimal las, ohne zu wissen, was darauf stund.

Nach einigen frohverlebten Tagen reisten die Freundinnen Dougaldinens ab; sie begaben sich jetzt auf die Landgüter ihrer Eltern oder wollten vor der nächsthin bevorstehenden Badereise noch einige Tage in der Stadt zubringen.

Dr. Almeneuer atmete auf, als die Kutsche die muntere Gesellschaft zum Bahnhofe brachte. Aber er freute sich zu früh.

Denn Heinz von Heinzenstorff stellte auch nach der Abreise der jungen Damen seine Besuche keineswegs ein, und nun, da der Nebenbuhler häufig mit Dougaldine allein war, mußten diese Besuche den Hauslehrer doppelt beunruhigen. Er änderte daher jetzt seine Taktik und wollte, wenn es irgendwie anging, der dritte im Bunde sein. Aber dem wußte Herr von Heinzenstorff auszuweichen, indem er eines Tages Dougaldinen den Vorschlag machte, ob sie beide nicht zuweilen ausreiten wollten; die herrlichen Straßen sowohl längs dem See, als auch weiter hinein in die Täler seien ja wie gemacht für diesen herrlichen Sport. Wenn sie es gestatte, so wolle er jeweilen vom Städtchen aus schon zu Pferd anlangen.

Dougaldine war eine große Freundin des Reitens. Das eine der Wagenpferde ihres Vaters hatte eine sanfte Gangart, die es zu einem angenehmen Reittier für Damen machte. Der Kutscher konnte das andere Pferd besteigen und als Diener sie begleiten. Doch war vorerst noch ein Damensattel aus der Stadt zu beschaffen. Auch wollte Dougaldine ihren Vater fragen, ob er gegen diese Ritte nichts einzuwenden habe.

Herr Fininger, der schon aus der Art, wie Dougaldine bei seinem nächsten Besuche ihre Frage stellte, deutlich erkannte, daß die Gewährung ihres Wunsches ihr sehr lieb wäre, willigte ein. Den Damensattel brachte er selbst andern Tages mit, schärfte aber seiner Tochter Vorsicht ein und ließ es sich nicht nehmen, das erste Mal, statt des Dieners, die beiden persönlich zu begleiten. Alles lief gut ab und nun war an Stelle des Croquetspiels ein anderer Sport getreten, dem von da an Dougaldine täglich huldigte. Welch stolzes Vergnügen gewährte es ihr, in einer Gegend, die an Lieblichkeit und auch an Erhabenheit der landschaftlichen Szenerie kaum ihres gleichen findet, auf flüchtigem Renner dahinzusprengen, in die Wette zu reiten mit dem schnellen Dampfer, der in der Mitte des Sees seine gerade Bahn hielt, oder seitwärts einzubiegen nach der Holzbrücke, die über den schäumenden Bergstrom führte, und den Ritt auszudehnen bis jenseits des malerisch gelegenen Dorfes, wo die Berge so nahe zusammentreten, daß kaum ein Durchpaß für die Straße möglich scheint. Verwundert blickten die Fußgänger, die der Kavalkade begegneten, der kühnen Amazone nach; aber auch ihr Begleiter zog Blicke des Wohlgefallens auf sich, denn seine sonst schon so martialische Gestalt gewann noch außerordentlich, wenn er zu Pferde saß. Er bot das Bild eines vollendeten Reiters, dessen untadelhafte prächtige Haltung auch durch die wildesten Seitensprünge des Rosses nicht ins Wanken kam. In dem Städtchen, welches als großer Waffenplatz im Sommer ein sehr entwickeltes militärisches Leben zeigte, konnte Herr von Heinzenstorff, der mit einigen Offizieren bekannt geworden, sich mit leichter Mühe gute Pferde verschaffen, und er pflegte mit Vorliebe die unbändigsten zu wählen, da er mit seinen Reiterkünsten Dougaldinen zu gefallen wünschte.

Eine trotzige Stimmung bemächtigte sich über alle dem des Hauslehrers und einige Male fühlte er sich versucht, mit einem gewaltigen Ruck all der Seelenqual dadurch ein Ende zu machen, daß er Herrn Fininger um seine Entlassung bitte und alsobald dem argentinischen Freunde schreibe, er nehme die ihm angebotene Stelle jenseits des Ozeans an. Aber dann kamen doch wieder Augenblicke, wo er in Dougaldinens Antlitz eine Schwermut zu lesen glaubte, die ihm sagte, all dies tolle Treiben sei nicht ihr Ernst; sie kämpfe gleich ihm selbst, und was sie jenem Fremden gönnte, das sei nichts anderes als ein Versuch, ein innigeres Gefühl zu betäuben, ein Gefühl, das vielleicht doch noch zu seinem Rechte kommen werde.

So blieb er und hielt aus und verzehrte sich in Liebe und Eifersucht, war heute voll ingrimmigen Zornes, morgen voll sanfter Wehmut und am dritten Tage nicht frei von einer Anwandlung von Selbstverachtung über den Wechsel seiner Stimmungen und über seine Schwäche.

Da führte endlich ein Ereignis, das auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens sich zutrug, eine Entwicklung dessen herbei, was sich seit vielen Wochen in den Seelen der beiden vorbereitet hatte.

In der Stadt war eine politische Abstimmung im Werke, welche voraussichtlich auf lange Zeit über die Verwaltung des Gemeinwesens und namentlich auch darüber entscheiden sollte, ob die wichtigsten Magistratstellen wie bisher vorwiegend mit Männern aus den altbürgerlichen Familien besetzt bleiben oder den Vertrauensmännern der demokratischen Partei übergeben würden. Da die weitaus größere Zahl der Einwohner der Stadt letzterer Partei angehörte, war das bisherige Verhältnis längst als eine Art von politischem Anachronismus empfunden worden. Die natürliche Billigkeit forderte, daß die Verwaltung einer in der Mehrheit ihrer Bürger demokratisch gesinnten Stadt aufrichtig demokratisch denkenden Persönlichkeiten anheimfalle. Auch Dr. Almeneuer war hierüber keinen Augenblick im Zweifel und fest entschlossen, an jenem Wahlsonntage in die Stadt zu fahren und mit seiner Stimme zum Sieg der Partei beizutragen, da er es überhaupt mit der Erfüllung seiner Bürgerpflichten genau nahm, ohne deshalb für notwendig zu erachten, sich jemals an den solchen Abstimmungen vorangehenden Agitationen persönlich zu beteiligen.

Der Sonnabend vor dem Wahlsonntage war gekommen und zufälliger Weise ein Tag von außerordentlicher Klarheit des Wetters. Es war daher kein Wunder, daß beim Frühstück, das im Freien an dem lieblichen Platze hinter dem Landhause eingenommen wurde und alle Hausbewohner versammelte, Amadeus den Vorschlag machte, nun nicht länger zu zögern mit einer grundsätzlich längst beschlossenen Besteigung der Bergpyramide, deren Gipfel als der berühmteste Aussichtspunkt am ganzen See bekannt war. Dougaldine hatte früher gelegentlich angedeutet, daß auch sie gern von der Partie sein würde. Als daher Amadeus mit seinem Wunsche herausrückte, heftete sie heimlich ihre Blicke auf das Antlitz Dr. Almeneuers, begierig, des Eindruckes gewahr zu werden, den dieser Vorschlag auf ihn machen würde.

Wie groß aber war anfänglich ihr Erstaunen und bald auch ihr Unwille, als der Hauslehrer nach kurzem Zaudern und zuerst etwas unsicher, dann aber mit schnell gewonnener Festigkeit antwortete: »Das Wetter ist wirklich das wundervollste, das man sich zu einer Bergbesteigung wünschen kann. Man müßte morgen mit dem Frühesten aufstehen und … es ist nur schade, daß ich nicht von der Partie sein kann. Ich muß morgen zur Stadt. Es tut mir leid. Aber ich darf bei der Abstimmung nicht fehlen.«

»Ach! die langweilige Abstimmung!« rief Amadeus verdrießlich. »Sie ist schon schuld daran, daß Papa über diesen Samstag und Sonntag gar nicht aus der Stadt heim kommt. Doch bei ihm begreift sich das am Ende; er ist in der Behörde und muß darum dabei sein. Aber Sie, Herr Doktor …«

»Sage nichts, Amadeus,« fiel Dougaldine mit einer vor Erregung bebenden Stimme dem Bruder ins Wort. »Der Herr Doktor muß morgen in die Stadt, um gegen unsern Papa zu stimmen.«

»Aber mein Fräulein!« sagte in verweisendem Tone der junge Mann. »Das glaube ich nicht, daß der Herr Doktor gegen Papa stimmt,« rief der Knabe.

»Es ist auch nicht so, Amadeus,« bemerkte der Hauslehrer und warf Dougaldine einen fast flehenden Blick zu, die Sache nicht weiter zu treiben.

Aber die junge Patrizierin fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, zu erproben, wie groß ihre Macht über diesen Mann war, zu dem sie sich eben so oft hingezogen fühlte, wie sie ihn in anderen Momenten zu hassen glaubte.

»Ei! Herr Doktor,« sagte sie und lächelte fein, während sie vor Erregung totenbleich wurde, »wollen Sie mich vielleicht glauben machen, daß Sie für die Erhaltung des Zustandes stimmen werden, den Ihre bisherigen Freunde das Junker- und Patrizierregiment zu nennen belieben?« Und, indem sie dies sagte, schob sie ein vor ihr liegendes Zeitungsblatt verächtlich von sich.

Fräulein Martha, die bisher schweigend zugehört hatte, erhob sich in dem unbehaglichen Gefühle, daß hier ein Meinungsaustausch auszubrechen drohte, bei dem die Zeugenschaft des Knaben unerwünscht sein müsse; auch ihrer eigenen stillen, friedlichen Natur waren Wortgefechte und nun vollends über politische Angelegenheiten innerlich zuwider. Daher ergriff sie Amadeus an der Hand und sagte: »Wir wollen zum Pächter hinübergehen und hören, ob sein Ältester, der Fritz, dich morgen auf den Berg begleiten kann, wenn der Herr Doktor verhindert ist.« So gingen die beiden dem Wirtschaftsgebäude zu.

Inzwischen hatte sich der junge Mann zu einer Antwort gesammelt und sagte jetzt: »Sie haben die Zeitung, die da vor Ihnen auf dem Tische liegt, mit einer nicht mißzuverstehenden Handbewegung zur Seite geschoben und haben ganz recht in Ihrer Geringschätzung aller der aufreizenden und einander widersprechenden Artikel, die das Blatt in seinem Sprechsaal bringt. Aber wollen Sie das eine doch nicht übersehen, daß die Partei Ihrer Standesgenossen, wenn sie morgen unterliegt, sich das fast ausschließlich selbst zuzuschreiben hat, indem sie mit merkwürdiger Ungeschicklichkeit zu Werke gegangen ist. Auch spricht das Vorgefühl der Niederlage aus jedem Worte der Kundgebungen von dieser Seite. Bittet doch heute sogar ein Einsender die Wähler, man möchte das die adelige Abkunft markierende Wörtlein ›von‹ ihm und seinen Standesgenossen nicht übel nehmen. Die letzteren nennt er selbst ›unglückliche Träger eines alten Namens‹! …«

Dougaldine ließ ihn nicht ausreden. »Also unsere Niederlage ist sicher, Herr Doktor,« sagte sie mit bebender Stimme. »Und dennoch müssen Sie in die Stadt eilen, um diese Niederlage noch empfindlicher zu machen und auch Ihrerseits die ›unglücklichen Träger eines alten Namens‹ möglichst aus allen Stellungen zu verdrängen?«

»Nein, mein Fräulein,« erwiderte in festem Tone Dr. Almeneuer. »Nicht deshalb eile ich zur Stadt. Aber es scheint mir die unabweisbare Pflicht jedes rechten Bürgers zu sein, an solchen Tagen nicht zu Hause zu bleiben, sondern durch den Gang an die Stimmurne zu beweisen, daß das öffentliche Wohl eine ernste Angelegenheit ist, die allen anderen Rücksichten vorgeht. Nehmen Sie an, zwei Freunde, die in politischen Dingen zufälligerweise entgegengesetzter Meinung wären, würden für eine solche Abstimmung einen gemeinsamen Ausflug verabreden, der beide von der Stimmurne entfernt hielte; nehmen Sie ferner an, so machte es nicht bloß ein Freundespaar, sondern eine derartige leichte Auffassung der Bürgerpflicht würde zur Regel und es zögen an schönen Sommertagen die jungen Bürger zu Hunderten aufs Land hinaus, was ja in der Tat viel angenehmer ist, als in der Stadt das Abstimmungslokal zu besuchen, – wem bliebe dann schließlich die Entscheidung über die Angelegenheiten der bürgerlichen Gesellschaft überlassen? Jenem Häuflein ehrgeiziger Wühler, jenen Agitatoren, die aus der Politik eine Sache persönlichen Strebertums machen. Und wenn man dann heimkäme von irgend einem genußvollen Ausfluge, so hätte man als häßlichen Nachgeschmack die Mitteilung hinzunehmen, daß unterdessen eine wichtige Abänderung des ganzen bürgerlichen Haushaltes hinter unserem Rücken sei ausgeführt worden von einer kleinen entschlossenen Minderheit, die wie jene geheime Maffia in Sizilien die Mehrheit der Bürger terrorisiert durch Disziplin. Möchte dann immerhin der Ausfall der Wahlen in der Sache derselbe sein, wie ich einzelner für meine Person ihn gewünscht habe, es wäre doch demütigend, dergleichen hinzunehmen als eine Tatsache, zu der man selbst in keiner Weise etwas beigetragen. Und vollends vom demokratischen Standpunkte wäre ein solches Verhalten verwerflich. Die Demokratie hat ja nur insofern Sinn, als sie wirklich der Ausdruck der großen Mehrheit der Bevölkerung ist. Sollte man darum die Herrschaft einiger weniger aristokratischer Geschlechter in früheren Zeiten gebrochen haben, um dafür die Herrschaft eines sogenannten demokratischen ›Rings‹ einzusetzen, einer kleinen Liga von Volkstribunen, die in ihrer Art auch bald Diktatoren wären, wenn nicht das Wesen der Demokratie glücklicherweise immer wieder die Berufung auf die wirkliche Mehrheit aller Stimmfähigen mit sich brächte?«

»Ein sehr schöner Vortrag, Herr Doktor,« sagte die junge Patrizierin spöttisch, indem sie ein Lachen hören ließ, das ihr doch nicht recht vom Herzen kam. »Sie werden morgen gewiß Glück machen mit dieser Rede, wenn Sie Gelegenheit haben, – was ich ja nicht weiß, – dieselbe bei den Wahlen irgendwie anzubringen. Entschuldigen Sie, wenn ich, da wir Frauen eben logisch sehr vernachlässigte Geschöpfe sind, aus allen Ihren hohen Worten nur das eine heraushöre, daß es Ihnen mehr Befriedigung gewährt, morgen eine ganz überflüssige Stimme zu einem schon entschiedenen Wahlsiege abzugeben, als mit Amadeus und mir einen Ausflug auf unsern Berg zu unternehmen. Dergleichen ist offenbar Geschmacksache. Genieren Sie sich also gar nicht. Und namentlich glauben Sie um Gottes willen nicht, ich hätte auch nur von ferne daran gedacht, gleichsam die Rolle der Valentine in den »Hugenotten« zu kopieren und Sie als Raoul zurückzuhalten vom Kampfe gegen die Partei meines Vaters. So tragisch steht die Sache nicht.«

Sie war blutrot geworden bei den letzten Worten, da ihr erst, als sie diese Anspielung machte, plötzlich zu Sinn kam, daß Valentine in der Person Raouls ihren Geliebten zurückzuhalten bestrebt ist. Sie schloß daher mit einem affektierten kurzen Lachen, erhob sich und wollte ins Haus hineingehen. Auch der junge Mann war aufgestanden. In leidenschaftlicher Erregung trat er dicht an ihre Seite und flüsterte: »Warum tun Sie mir so weh, Fräulein? Was habe ich Ihnen jemals zu Leide getan? Glauben Sie nicht, daß ich morgen tausendmal lieber als Ihr Begleiter mit Ihnen den Berg erstiege, als daß ich …«

»Nein! das glaube ich nicht!« sagte Dougaldine, indem sie einen scharfen Blick nach ihm hinüberschoß. »Das glaube ich nicht, denn sonst würden Sie es tun.«

Und, als ob sie damit viel zu viel gesagt hätte, enteilte sie hurtig ins Haus, ohne sich umzuwenden. Gleichsam im Fliehen hatte sie diesen letzten Partherpfeil ins Ziel gesendet, ins Herz des Gegners.

Ich bin ein Narr! So begann der junge Mann, sobald er sich allein sah, ein leidenschaftliches Selbstgespräch. Das schönste, liebenswürdigste Mädchen legt es mir auf die Zunge, morgen ihr Begleiter und Beschützer zu sein. Und nicht nur das; sie ist nicht nur die liebenswerteste, sondern sie ist die, die ich wirklich liebe, mit der ganzen Kraft meines Gemütes liebe. Und ich kann schwanken, greife nicht zu mit beiden Händen? Diese Abstimmung! – Unsere Sache ist so wie so gewonnen. Meine Stimme braucht es in der Tat nicht. Meine Freunde wissen außerdem, daß ich auf dem Lande bin. Sie werden mich nicht vermissen. Daß die Stimmkarte mir nachgeschickt worden, was tut's? Wäre ich ein so vollendeter Pedant, daß ich diesmal, wo das Glück meines Lebens vielleicht auf dem Spiele steht, einer Pflichtregel nicht einmal die Ausnahme entgegenstellen dürfte? Lassen nicht Hunderte um viel geringfügigerer Anlässe willen die Abstimmung und ihre Bürgerpflicht fahren? Freilich! Um so weniger soll es derjenige tun, der eben in solcher Nachlässigkeit des einzelnen den Ruin der Gesamtheit erkennt. Und dann – wenn ich es auch in Bezug auf die Sache selbst, auf diese einmalige Abstimmung, verantworten könnte, kann ich jetzt noch umkehren, ohne vor mir selbst und ohne – – bei Dougaldinen die Achtung zu verlieren? Wie würde sie es aufnehmen, wenn ich etwa mittags nun herausrückte mit der Ankündigung einer Sinnesänderung? Gewiß würde sie zwar äußerlich mich nur loben und von meiner Artigkeit sprechen. Aber innerlich? Welch ein Triumph über die Schwäche des Mannes! Wie müßte ihr nun erst alles lächerlich vorkommen, was ich mit solchem Ernst und meiner Überzeugung gemäß ihr auseinandergesetzt habe vom Werte bürgerlicher Pflichterfüllung. Wäre dies, wenn jemals ein gütiges Geschick unsere Wege für immer vereinen sollte zu einem gemeinsamen Lebenswege, wäre dies nicht der denkbar schlechteste Anfang für einen solchen? Ich sollte mein Glück einer ersten Verleugnung meiner Grundsätze verdanken? Und ihre Liebe zu mir sollte gegründet sein auf das Gefühl ihrer überlegenen Stärke? Nein! nein! Und wenn ich mich zehnmal einen Narren schelten muß, – ich bin vielleicht doch mehr ein Weiser als ein Narr. Wenn ein Mann sich ein Weib nicht erobern kann, ohne auch in der kleinsten Sache ein Stück seines bessern Ich, seiner idealen Überzeugung aufzuopfern, so soll er abstehen von solcher Eroberung. Denn in solchem Siege lauern noch hundert künftige Niederlagen auf ihn. So sei es! Ich bleibe mir treu. Und wenn sie so ist, wie ich sie mir denke, so kann diese Stärke meines Charakters mir nicht schaden, und es werden noch andere Tage kommen, wo ich auf ehrlichere Weise im stande sein werde, mir ihr Herz zu gewinnen.

Wo einem Entschlusse alsobald die Ausführung folgen kann, ist dem Gemüt mancher fernere harte Kampf erspart. Dies war jedoch für Dr. Almeneuer an diesem Tage keineswegs der Fall. Schon heute nach der Stadt zu reisen, dafür lag kein Anlaß vor; er kam morgen noch rechtzeitig genug zur Abstimmung. Folglich sah er sich in der verdrießlichen Lage eines Menschen, der zwar für seine Person glaubt ins reine gekommen zu sein, dem jedoch von außen an ihn gelangende Eindrücke immer wieder den Standpunkt verrücken.

Beim Mittagsmahl ergab sich, daß der siebzehnjährige Pächterssohn mit Freuden bereit war, die junge Herrschaft auf den Berg zu begleiten. Als Amadeus dies vorbrachte, bemerkte Dougaldine ganz leicht obenhin: »Dann gehe du also mit Fritz, mein Lieber. Er ist ein sehr zuverlässiger Begleiter und ein artiger Bursche, dem wir dich wohl anvertrauen können.«

»Und du, Dougaldine?« fragte erstaunt Amadeus, »kommst du nicht mit?«

»Nein! ich habe mir's anders überlegt,« gab die junge Patrizierin zur Antwort. »Es wäre mir doch zu anstrengend, an einem Tage hinauf und hinab zu gehen. Ich warte, bis nächstens Papa einmal Zeit hat und dann wenden wir zwei Tage daran. Ohnehin ist der Sonnenaufgang droben das schönste.«

Dr. Almeneuer saß wie auf Kohlen bei diesen Worten des Fräuleins. Also, da er nicht mitging, entsagte sie dem Ausfluge! Mochte sie immerhin andere Gründe vorschützen, er fühlte deutlich, daß es so sei und eine für seinen Entschluß gefährliche Rührung überkam ihn. Von ihr, der Stolzen, hätte er alles andere eher erwartet, als daß sie nun den Ausflug aufgab. Seine Stärke schmolz dahin. Und unbedachter Weise sagte er, stockend und mit Unsicherheit in der Stimme: »Mein Fräulein! … wenn ich denken sollte … wenn Sie … ich wage es nicht anzunehmen … aber in der Tat, falls Sie den Ausflug unternehmen würden, wenn ich mitkäme, so …«

Weiter kam er nicht. Dougaldine erhob ihre klaren Augen zu ihm und sandte ihm aus denselben einen Blick zu, in dem sich kalte Gleichgültigkeit, staunendes Nichtverstehenwollen und Hohn zu gleichen Elementen mischten. Dann sprach sie: »Sie werden doch nicht etwa andeuten wollen, Herr Doktor, daß Sie die wichtige Bürgerpflicht mir zum Opfer bringen würden? Das wäre ein sehr unpassend angebrachtes Opfer. Denn ich freue mich wirklich, morgen einen recht stillen, vergnügten Sonntag hier in aller Ruhe zuzubringen.« Dann als ob ihr die Strafe noch nicht genügend erscheine, setzte sie nach kurzem Zögern in nachlässigem Tone hinzu: »Übrigens kommt Herr von Heinzenstorff herüber für den Sonntagnachmittag.«

Eine Stille folgte auf diese Mitteilung, so daß die letzten Worte länger in den Anwesenden nachklangen, als es derjenigen lieb war, die sie gesprochen hatte. Dr. Almeneuer sah auf seinen Dessertteller nieder, als ob er zum ersten Male die altmodischen Guirlanden sähe, welche den Rand des kleinen Kunstgebildes aus Töpferhand verzierten. Einige Minuten später wurde die Tafel aufgehoben; der Hauslehrer verbeugte sich stumm vor den Damen und verließ das Gemach äußerlich ruhig, während in seinem Innern neue Stürme tobten.

Ewig zieht sie mich an, um mich desto erbarmungsloser von sich zu stoßen! so sprach er in sich hinein, während er in der Kastanienallee auf und nieder schritt. Er kam nicht hinaus über diesen Gedanken, der als schmerzende Empfindung sein ganzes Sein durchdrang. Auch Schamgefühl gesellte sich hinzu, da er von ihr auf bestem Wege war betroffen worden, seine Grundsätze zu verleugnen. Endlich schlug auch seine Eifersucht in hellen Flammen empor. Dieser hochmütige Fremde, daß ich an ihn heran könnte, daß ich mit ihm um sie kämpfen dürfte! dachte er. Und unwillkürlich ballten sich die Fäuste des jungen Mannes.

So verstrich der Sonnabend in unbehaglicher Stimmung. Selbst Amadeus wich heute dem Hauslehrer aus und hielt sich an den Pächterssohn, mit dem er den Ausflug für morgen vorbereitete. Bei der Abendmahlzeit wurde wenig und nur Gleichgültiges gesprochen. Nach Beendigung derselben eilte Dr. Almeneuer an den Strand hinunter und setzte sich auf eine dort stehende Bank, um noch einmal, während er schwermütig in den schönen Abend hinausblickte, das Ereignis des Tages und sein ferneres Verhalten zu bedenken.

Ganz versunken in seine Träumerei, mochte er hier wohl schon eine Stunde gesessen haben, als plötzlich der von einer Frauenstimme kommende Ruf: »Heinz! Heinz! bist du es?« an sein Ohr schlug. Erstaunt hob er den Kopf. Der Ruf tönte vom See her. Schon spann die späte Abenddämmerung ihren Schleier. Doch vermochte er jetzt ein Schifflein zu erkennen, das wohl schon lange dem Ufer sich genähert, auf das er aber nicht geachtet hatte, da das Vorüberfahren von Fischern, die ihrem Handwerk oblagen, eine gewöhnliche und häufige Erscheinung war. Im kleinen Fahrzeug saß eine Gestalt, die er nicht deutlich sah. Aber wieder ließ sich von dort der Ruf vernehmen: »Heinz! Heinz! bist du allein?« Der junge Mann erhob sich, trat an den Rand der kleinen Anlegestätte für die Nachen und antwortete, indem er sich etwas vorbeugte: »Was wünschen Sie?« Im Schifflein ließ sich ein leiser Schrei wie des Schreckens hören und die Ruder wurden hastig ins Wasser getaucht, vermutlich, um das Fahrzeug vom Ufer zu entfernen. In der Aufregung jedoch verfehlte der Insasse die hiezu zweckmäßige Bewegung. Der entgegengesetzte Druck bewirkte, daß die leichte Barke, die ohnehin schon dem Ufer sehr nahe gekommen war, dasselbe nun fast berührte, so daß Dr. Almeneuer, indem er sich bückte, den Schnabel des Schiffchens ergreifen und es vollends auf den Strand ziehen konnte, womit er dem darin sitzenden Wesen – er war im Zweifel, ob es ein Weib oder ein Knabe sei – einen Dienst zu leisten glaubte.

Aber die Gestalt im Fahrzeug rührte sich nicht. Sobald das Knirschen des Kiels im Ufersande laut geworden war und ein Ruck bewies, daß die Schaluppe festsaß, hatte der Insasse die Ruder fahren lassen, so daß sie frei in den Gabeln hingen, und nun kauerte die Gestalt, mit dem Rücken dem Ufer zugewendet, unbeweglich. Der Kleidung nach schien es ein Mann zu sein. Ein faltiger Herrenmantel von leichtem Stoff verhüllte das meiste, auf lockigem Haupt saß ein breitkrämpiger Filzhut.

Es ist der junge Mensch, den ich damals mit Herrn von Heinzenstorff auf der Wanderung in mein Heimatdorf angetroffen habe – dachte Dr. Almeneuer, und sagte, da der Insasse noch immer keine Miene machte, sich zu erheben: »Sie haben Ihren Freund, Herrn von Heinzenstorff, aufsuchen wollen? Heute war er den ganzen Tag nicht hier, auf morgen aber ist er erwartet. Haben Sie etwas an ihn zu bestellen?«

»So! auf morgen ist er hier wieder erwartet?« klang es als Antwort zurück. Und jetzt auf einmal, wie einer plötzlichen Eingebung gehorchend, erhob sich die Gestalt im Schiffe; der nur leicht übergeworfene Mantel glitt auf die Ruderbank nieder und vor dem erstaunten jungen Manne stund in einer seltsamen Zwittertracht, wie man sie etwa zuweilen an russischen Studentinnen wahrnimmt, wenn sie auf Bergreisen sich's bequem machen, ein Wesen, dessen Formen selbst in der Dämmerung des Abends das Weib nicht ganz verleugnen konnten.

Da in diesem Augenblick das Schifflein sich auf die eine Seite legen wollte, wie es bei Kielschaluppen so leicht geschieht, wenn sie etwas zu hoch am Strande emporgezogen werden, streckte Dr. Almeneuer mit unwillkürlicher Bewegung die Hand aus; eine weiche, feine Frauenhand griff darnach, hielt sich daran und im nächsten Augenblicke war die Fremde aus dem kleinen Boote gesprungen und stund nun in großer Erregung und tiefer Verwirrung vor dem jungen Manne.

»Gott! was tue ich? Und wer sind Sie? Und was werden Sie denken? O! ich Unglückliche!« Diese Worte kamen in rascher Aufeinanderfolge von den Lippen der Fremden.

»Beruhigen Sie sich,« sagte der junge Mann. »Sie haben von mir keine Indiskretion, noch sonst etwas Schlimmes zu befürchten. Ich heiße Dr. Almeneuer, bin dermalen Hauslehrer in jenem Landgute hinter den Bäumen, wo Ihr Freund ein so häufiger Gast ist …«

»Ein so häufiger Gast! Eben das hat mich hierher geführt!« rief in bitterlich wehklagendem Tone das Mädchen und schien dem Umsinken nahe, weshalb der junge Mann sie zu der Bank geleitete, wo er selbst vorhin gesessen hatte. Sie ließ sich darauf nieder, während er vor ihr stehen blieb, gewärtigend, daß sie wieder das Wort an ihn richte.

Sie tat es nach einer kurzen Pause, in der sie mühsam nach Fassung gerungen.

»Ein unbestimmtes Etwas,« so begann sie, »sagt mir, daß ich es mit einem Ehrenmanne zu tun habe. Ach! vielleicht können Sie einer Unglücklichen raten. Ich bin ja seit vielen Wochen ohne jeglichen Beistand.«

»Ihr Freund, Herr von Heinzenstorff …« wagte Dr. Almeneuer einzuschalten.

»Mein Freund!« rief sie bitter. »Wessen Freund ist er! Sein eigener Freund, ja! Das habe ich nun erkannt, daß er der vollendetste Egoist, den es auf Erden geben kann. Nicht so viel kostet es ihn« – und sie blies bei diesen Worten verächtlich über die Fläche ihrer ausgestreckten Hand weg – »eine andere Existenz im Staub zu zermalmen, wenn nur sein begehrliches Herz dadurch Sättigung erfährt. Aber ich bin am Ende mit meiner Geduld. Ich will nun wissen, wie ich betrogen, wie ich aufgeopfert werde. Und mag ich auch untergehen in Schande und Elend, er soll zuerst seine Strafe finden.«

Erschöpft ließ sie sich zurücksinken an die Lehne der Gartenbank. Dr. Almeneuer schwieg. Er begann zu verstehen, um was es sich handle, obschon er noch nicht deutlich die ganze Tragweite der bisher gemachten und der noch zu erwartenden Enthüllungen zu beurteilen vermochte.

Die Unbekannte seufzte tief. Dann begann sie wieder: »Sie sind Hauslehrer auf diesem Landgute, haben Sie gesagt. Wohlan, dann müssen Sie in nächster Nähe beobachtet haben, was ich bis jetzt nur auf verstohlene Weise herauszubekommen vermochte, daß er sich hier um ein schönes reiches Fräulein bewirbt. Ist nicht eine solche hier, die Herrin dieses Gutes? Sagen Sie mir nur dies eine.«

»Herr Fininger, dem Seeport gehört, hat eine einzige Tochter, die den Sommer hier zubringt,« gab Dr. Almeneuer zur Antwort.

»Es ist also alles, wie ich es aus den Reden meiner Hauswirtin im Städtchen nach und nach mir zusammenzureimen vermocht habe. Bald zu Schiff, bald zu Pferd ist er hierher gekommen. Und sie wird ihm nicht zu sehr widerstanden haben! Ach! er kann so bezaubernd sein, wenn er will! Wer weiß das besser, als ich Unglückliche! Aber sie muß gewarnt werden, sie muß unterrichtet werden von allem, was mich und ihn und daher auch ihre eigene Zukunft betrifft. Als ich vorhin dem Ufer mich nahte, – ich wußte selbst nicht, was ich eigentlich hier wollte. Ich war gekommen, um zu spähen. Eifersucht hatte mein Schiff gelenkt. Er, so dachte ich, würde wieder hier sein, da er sich heute den ganzen Tag bei mir nicht sehen ließ. Daß er in die Stadt fahren müsse, hat er mir gestern gesagt. Aber ich glaubte es nicht, da er mich so oft getäuscht. Dieses eine Mal mag er nun die Wahrheit gesprochen haben. Doch, als ich mich dem Strande nahte, da hielt ich Sie für ihn. Ach! und wäre er es gewesen, wäre er zu mir in meinen Kahn gekommen, – ich wäre vielleicht der unwürdigen Schwäche abermals anheimgefallen und hätte ihm verziehen. Nun, zum Glück, habe ich Sie gefunden. Und da ich nun weiß, daß meine schlimmsten Befürchtungen Wahrheit sind, so will ich auch nicht zögern, für meine Rechte zu kämpfen. Führen Sie mich zu dem Fräulein.«

Einen Augenblick regte sich in dem jungen Manne die Neigung, den Wunsch der Unglücklichen, die zu ihm sprach, sofort zu erfüllen. Aber diese Neigung war so sehr begleitet von einem Gefühl befriedigter Rache, daß der auf seine innern Regungen aufmerksame Mann vor sich selbst erschrak und, einmal gegen sich mißtrauisch geworden, alsobald beschloß, nichts zu übereilen.

»Mein Fräulein,« sagte er in freundlichem Tone, »bedenken Sie die späte Stunde und den Eindruck, den es auf die edle und feine junge Dame machen müßte, wenn Sie so plötzlich und nicht einmal in den für Ihr Geschlecht passenden Kleidern vor sie treten würden. Stellen Sie sich vor, daß Ihre Worte unter solchen Umständen von besonderem Gewicht wären?«

»Sie würde mich für eine hergelaufene Abenteurerin halten,« sagte das Mädchen mit dumpfer Trauer. »Nein! Sie haben recht. So darf ich nicht vor die junge Dame treten, die Sie edel und fein genannt haben. Es wird dazu eine passendere Gelegenheit geben. Aber Sie – Sie sollen wenigstens wissen, daß ich nicht eine Abenteurerin bin, wenn auch schuldig, so schuldig, daß ich es mir nie, nie verzeihen kann! Wollen Sie die Geschichte meines Unglücks vernehmen?«

»Wenn es Ihnen irgendwie zur Erleichterung dienen kann, so bitte ich darum,« sagte der junge Mann.

»Ich will kurz sein,« begann die Fremde. »Sie sehen in mir die Tochter eines armen, mit vielen Kindern gesegneten – ja, man sagt so: gesegneten! – protestantischen Geistlichen einer größeren Stadt Ostpreußens. Frühzeitig hieß es in unserm Hause: Lernt, Kinder, lernt, damit ihr im Leben bald selbständig dasteht. Und das war ja recht. Nur müßte man bei der Lebensstellung, die man einem jungen Mädchen anweist, auch auf das Temperament gewisse Rücksichten nehmen. Das meinige war von Jugend auf ein leidenschaftliches. Blut ist ein ganz besonderer Saft, wohlverstanden auch bei jedem Menschen wieder ein besonderer. Wo andere kalt blieben, loderte in mir alles empor in jähen Gluten. So, wenn vor meinen Augen Unrecht geschah, oder wenn ich auch nur von solchem las. Ich las überhaupt zuviel. Aber das war meine Lust. Indem ich mich zur Lehrerin ausbildete, eröffnete sich mir durch den Unterricht selbst der Einblick in reiche Schätze der Literatur. Was meiner Phantasie Zauberbilder vorgaukelte, wählte ich daraus mit Vorliebe. Und war es ein Wunder, wenn ich aus der armseligen Wirklichkeit enger, sehr enger Verhältnisse, die mich umgaben, so gern in die Armidalustgärten der Phantasie mich flüchtete? Vermutlich hätte mir übrigens diese Lektüre nicht viel Schaden getan, wäre ich, nach Vollendung meiner Studien, Volksschullehrerin geworden, da in diesem Falle die Berufspflicht mich schon würde festgebannt haben auf den gewöhnlichen Weg, den die andern meinesgleichen auch gehen. Aber ich erhielt keine Anstellung; die Wahl, so oft ich mich auch meldete, fiel immer auf andere Bewerberinnen; es schien fast, als ob mein leidlich hübsches Gesicht, meine Locken und meine Fähigkeit, auch in ärmlichen Kleidern immer einigermaßen elegant auszusehen, mir bei den gestrengen Catos der Schulbehörden hinderlich seien. Um nun meinen Eltern nicht zur Last zu fallen, tat ich mich im Auslande nach einer Lebensstellung um. Eine adlige Familie in Livland suchte für ihre jüngern Kinder eine deutsche Erzieherin; ich schrieb dorthin, sandte mein Bild, meine Zeugnisse und wurde angenommen. Hier trat ich nun in großartige Verhältnisse ein, die in meiner alles vergrößernden und verschönernden Phantasie noch bedeutendere Dimensionen annahmen. Der Luxus des Reichtums, der die arme Pfarrerstochter auf einmal umgab, verwirrte mich. Meine Herrschaft war von jener Sorte Menschen, bei denen es heißt: leben und leben lassen. Ich nahm wie ein Glied der Familie an allen Vergnügungen teil, die sich in diesem Hause jagten. Früher war kein Tropfen Wein über meine Lippen gekommen: jetzt war es die spezielle Freude des alten Herrn, des Großpapas meiner Schülerinnen, mich zur Kennerin fremder Weine auszubilden, die das Blut mir schneller durch die Adern jagten. Es ist für Kinder des Volkes nicht gut, an den Tafeln der Vornehmen zu sitzen. Gleich den unsterblichen Göttern, von denen Goethes Parzenlied singt, thronen sie auf goldenen Stühlen und bleiben; uns aber sind die Stühle auf Klippen gestellt und der Sturz in die Tiefe bedroht uns fortwährend.«

Sie schwieg einen Augenblick, um neue Kraft zu sammeln. Auch Dr. Almeneuer schwieg, indem er, von den letzten Worten betroffen, in seinem Geiste bedachte, ob nicht auch auf ihn dieses Zitat in gewissem Sinne Anwendung finden könne.

Jetzt fuhr das Mädchen wieder fort: »In diesen Kreis trat nun als Gast der Mann, den Sie kennen. Ich will ihn nicht anklagen, daß er sich besonderer Mittel bediente, um meine Leidenschaft zu entflammen. Dieselbe loderte von selbst empor, als ich ihn sah. Das vorausgegangene Wohlleben in diesem Hause hatte in mir alles so vorbereitet, daß es wenig bedurfte, mich aus meiner mädchenhaften Zurückhaltung auf gefährliche Pfade zu locken. Es bedurfte wenig, sage ich; und hier kam mir viel entgegen. Er schien mir das Ideal eines ritterlichen Mannes. Seine militärische Haltung, sein hoher Wuchs, die nachlässige Vornehmheit seiner Bewegungen, das blitzende Auge – alles betörte mein schwaches Herz, so daß ich ihm zutaumelte wie eine Motte, die in die Flamme fliegt, die ihr den Tod bringt. Als er nun meiner Leidenschaft inne wurde und dieselbe zu erwidern schien, da war sein Sieg bald ein völliger. Es kam hinzu, daß ich ihn für sehr reich hielt und demgemäß hoffte, durch ihn, wenn ich erst seine rechtmäßige Gemahlin wäre, auf einmal allem Elend meiner Herkunft entrückt zu sein und dieser glücklichen Welt der Genießenden für immer anzugehören, zu der ich seit kurzem den mir so verderblichen Zutritt gewonnen hatte. Es brannte in meiner Seele ein Durst nach Glück, wie ihn diejenigen nicht kennen, die immer in gleichmäßig behaglichen, wenn auch vielleicht bescheidenen Verhältnissen gelebt haben. Und eben darum traf mich das Unglück! Eines Tages erklärte mir Heinz, den ich jeden Abend ohne Zeugen zu sprechen wußte, ohne daß ich ihm jedoch bis jetzt mehr gewährt hätte, als ein Mädchen gewähren darf, er sei genötigt, noch in der kommenden Nacht zu verreisen, um dem Zweikampf mit einem nahen Verwandten der Familie auszuweichen, bei der er zu Gast war und die er angeblich nicht durch ein solches Ereignis betrüben wolle. Ich sage ›angeblich‹; denn da Heinz in demselben Atemzug mich beschwor, mit ihm zu entfliehen, die Seine zu werden fürs ganze Leben, so muß ich vermuten, eine mögliche Kränkung der Familie, deren Gastfreundschaft er durch Entführung der Erzieherin doch ebenfalls verletzte, sei es nicht gewesen, was ihn zu seiner Flucht bewog. Noch bis heute weiß ich es nicht zu sagen, ob vielleicht Spielschulden – er liebte hohes Spiel mit den Kavalieren der nächsten Landgüter – oder ob gar ein Versuch falschen Spielens ihn in diesem Kreise unmöglich gemacht. Das aber muß ich nun leider vermuten, daß er mich nur entführte, um hiedurch seiner plötzlichen Entweichung vor der öffentlichen Meinung einen bessern Anstrich zu geben. Denn mit einem jungen Mädchen das Weite suchen, das halten Kavaliere seinesgleichen für einen prächtigen Einfall, der dem Entführer eher noch einen bessern Nimbus verleiht, statt ihn zu entehren. Einige Leidenschaft des Blutes spielte ja allerdings bei ihm mit. Und ich Ärmste hielt dies für Liebe! In einer mir jetzt unglaublich scheinenden Verblendung warf ich mich ihm an den Hals. Alles, was du beschließest, ist mir recht, sagte ich. Und so geschah der entscheidende Schritt, der mich für alle Zeit aus den Reihen der ehrbaren Mädchen ausschließt.«

Die Fremde verbarg trotz der nun schon eingetretenen vollständigen Dunkelheit das Gesicht in ihren Händen und schien vor Scham nicht weiter sprechen zu können. Endlich, nach einem schweren Seufzer, beschloß sie ihren Bericht folgendermaßen: »Unsere Flucht gelang, gelang besonders durch meine Beihilfe, da ich mit der Örtlichkeit sowohl des Landhauses, wie der nächsten Gegend aufs genaueste vertraut war. Vielleicht hat die Voraussetzung auch dieses Umstandes dazu beigetragen, daß Heinz meine Begleitung wünschte. Ein Schlitten, den er lenkte, – denn im vergangenen Winter ist dies alles geschehen, – brachte uns auf die nächste Eisenbahnstation, wo wir Pferd und Schlitten zurückließen, um mit dem Kurierzug der deutschen Reichshauptstadt zuzueilen. Dort war es, daß ich die Kleidung anlegte, die es mir möglich machte, auf der Straße für einen jüngern Kameraden meines Geliebten zu gelten. In Wahrheit war ich – sein Weib, das freilich bis zu dieser Stunde noch auf die rechtmäßige Anerkennung der Ansprüche warten muß, die es erheben darf.

»Sie begreifen nun alles. Seit dem März sind wir in Ihr Land gekommen. Denn Heinz ist ein ruheloser Mann, der es nirgends lange aushält. Auch steht es bedenklich mit seinen Legitimationspapieren, so daß ihm die Polizei überall Schwierigkeiten macht, wo er sich länger niederzulassen gedenkt.«

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche,« warf hier Dr. Almeneuer dazwischen. »In diesem Punkte sind Sie doch wohl im Irrtum. Ich hörte Herrn von Heinzenstorff öfter mit seinen Beziehungen zu der Gesandtschaft seines Landes prahlen und ich habe ihn selbst in Gesellschaft eines der Gesandtschaftssekretäre auf öffentlicher Straße gesehen.«

»Das ist gerade seine Schlauheit,« sagte die Fremde. »Solche Beziehungen weiß er anzuknüpfen, indem er sich auf den kavaliermäßigen Eindruck verläßt, den seine Erscheinung macht. Und hat er irgendwo eine Anknüpfung gefunden, so beutet er dieselbe aufs geschickteste aus. Er zeigt sich dann gerne öffentlich neben Personen von Rang, um andern Leuten durch die Gesellschaft, in der man ihn sieht, zu imponieren. Gehen Sie aber selbst zum Gesandten oder zu jenem Sekretär. Fragen Sie nach, ob in den Händen jener Herren auch nur das kleinste Aktenstück oder Papierfetzchen sich befindet, das ihnen über die Persönlichkeit dieses Mannes sichere Auskunft gewährt?«

»Ich werde das morgen tun,« sagte Dr. Almeneuer.

Die Fremde schrak sichtlich zusammen. »Weh mir!« rief sie. »Was habe ich nun wieder da angerichtet! Wenn Sie diesen Schritt tun, so hetzen Sie die Polizei auf die Fersen des Mannes, der … der doch der einzige ist, der mir meine Ehre zurückgeben kann!«

»Und wenn dieser Mann ein gewissenloser Bube ist! Ein Betrüger, der überall, wo er eindringt, nur Unheil und Verwirrung anstiftet?« brauste Dr. Almeneuer auf.

»Ach! ich sehe, Sie haben Recht!« rief die Fremde. »Aber ich sehe auch, daß ich verloren bin. Mir kann niemand mehr helfen.«

Im Kiesgang, der vom Landhause zum Strande hinab führte, knirschten die Steinchen unter nahenden Schritten.

Die Fremde lauschte hin. Dann mit plötzlichem Entschlusse, sprang sie auf, eilte zu ihrem Kahn und wollte sich entfernen.

»Sie wollen fort?« sagte Dr. Almeneuer.

»Ja! fort! fort von diesem Strande und fort vom Strande dieses öden Lebens! Es gibt noch eine Ruhe für meinesgleichen.«

Mit diesen Worten trat sie in den Kahn und sank auf die Ruderbank nieder. Der junge Mann gab dem Fahrzeug einen kräftigen Stoß, so daß es flott wurde. Dann, rasch entschlossen, schwang er sich in das schwankende Fahrzeug und stieß mit einer am Boden des Schiffchens liegenden Stange vom Ufer ab.

»Was wollen Sie in diesem Schiff?« sagte das Mädchen.

»Sie nicht allein lassen auf dieser nächtlichen Fahrt, Sie sicher hinüber bringen. Lassen Sie mich gewähren.« Und mit sanftem Zwange schob er sie beiseite und ergriff die Ruder, die er nun kräftig eintauchte, so daß die Schaluppe rasch sich vom Ufer entfernte.

Da brach das Mädchen in krampfhaftes Schluchzen aus und rief dazwischen: »Also doch eine Seele, die es treu mit mir meint! Ein Herz, dem mein Geschick Mitleid einzuflößen vermocht hat! Wie danke ich Ihnen.«

Dann kauerte sie still am Steuer und rührte sich nicht mehr. Durch seine Begleitung hatte der junge Mann den Selbstmord einer Leichtsinnigen verhindert.

Am Ufer aber stund eine Gestalt an derselben Stelle, wo wenige Augenblicke vorher die beiden sich eingeschifft hatten. Draußen auf dem See war in der Dunkelheit nichts mehr zu sehen von dem Schiffe; nur das Plätschern beim gleichmäßigen Eintauchen der Ruder ließ sich vernehmen und wurde schwächer und schwächer, je mehr das Fahrzeug sich vom Ufer entfernte. Aber vorhin, als die Stimmen noch laut waren, hatte Dougaldine – denn sie war die nächtliche Spaziergängerin – deutlich gehört, daß die eine Stimme die eines Weibes gewesen, die andere die des Mannes, dem sie heute so weh getan. Aber was tat er jetzt an ihr? Ihr Herz krampfte sich zusammen; sie drückte die kleine Hand auf die schmerzende Stelle. Dann, indem es ihr unwürdig vorkam, hier länger nach einem Geheimnisse hinauszulauschen, das der Zufall ihr entdeckt hatte, richtete sie sich zu stolzer Haltung empor, wandte sich und ging den Weg zum Landhause hinauf.

Drei Stunden später – Mitternacht war längst vorüber – kehrte der Hauslehrer von seiner Fahrt zurück. Er hatte das unglückliche Mädchen ins Städtchen hinübergebracht und bis in die Wohnung begleitet, die sie mit ihrem Verführer teilte. Diesem noch heute zu begegnen, war dabei sein sehnlichster Wunsch gewesen. Doch blieb derselbe unerfüllt. Herr von Heinzenstorff war noch abwesend. Oft, so sagte das Mädchen, kam er die halbe Nacht nicht nach Hause, indem er sich nach Gutdünken in allen möglichen Gesellschaften herumtrieb. »Trennen Sie sich von ihm,« hatte er der Unglücklichen geraten, als er sich verabschiedete und sie ihm unter Tränen für sein ihr bewiesenes Mitgefühl dankte. »Trennen Sie sich von ihm. Dieser Mann, auch wenn er sein Wort einlösen und Ihre Verbindung zu einer gesetzlichen erheben wollte, kann Sie nicht glücklich machen. Benützen Sie noch diese Nacht, in der ohnehin der Schlaf Sie fliehen wird; schreiben Sie an Ihren Vater. Bekennen Sie ihm alles. Bitten Sie, daß er Ihnen den Schutz und das Obdach des Elternhauses gewähre, damit Sie ein neues Leben anfangen können. Mag es immerhin sein, daß Herr von Heinzenstorff außer der ehrlosen Handlung gegen Sie keine eigentlichen Verbrechen begangen hat, sondern einfach zur Klasse jener schwindelhaften Kavaliere gehört, die durch leichtsinniges Leben, Schuldenmacherei und dergleichen aus der Bahn anständiger Pflichterfüllung herausgeworfen werden, – so viel ist gewiß, daß er Sie nicht liebt und nicht der Mann ist, an den ein weibliches Wesen sein Geschick ketten darf. Ich werde Gelegenheit haben, dem Gesandten oder seinem Sekretär Ihre Notlage zu schildern, und Sie dürfen darauf rechnen, daß Ihre Rückkehr in die Heimat wird ermöglicht werden.«

Nachdem sie demütig versprochen, ganz nach dieser Weisung zu handeln, war Dr. Almeneuer beruhigt über ihre nächste Zukunft zurückgefahren und hatte, nach der Ankunft auf dem Landgute, leise sein Zimmer aufgesucht, wo er, angekleidet, sich aufs Bett warf und in einen kurzen Schlummer verfiel, aus dem ihn nach wenigen Stunden das Zwitschern der den Sonnenaufgang verkündenden Vögel weckte.

Rasch sprang er auf, ordnete seinen Anzug, verließ eben so leise, als er vor einigen Stunden es betreten hatte, das friedliche Landhaus und eilte, diesmal zu Fuß gehend, dem Bahnhof des Städtchens zu, um mit dem ersten Zuge nach der Stadt zu fahren, wo er nun, außer dem Wahlgeschäft, das ihm über den zuletzt erlebten Dingen in den Hintergrund getreten war, die Angelegenheit des unglücklichen Mädchens und, was damit zusammenhing, die Entlarvung Herrn von Heinzenstorffs zu besorgen hatte.

Auf einer Station, wo die Morgenzüge kreuzten, streifte sein Blick zufällig ein Coupé zweiter Klasse des landaufwärts fahrenden Bahnzuges. Ruhig schlummernd lag auf den Polstern desselben als einziger Fahrgast eben dieser Herr von Heinzenstorff. Bei diesem Anblick schlug sich der junge Mann vor die Stirn und ein Gedanke, der ihm bis dahin in aller Aufregung und in der auf diese Gemütsbewegungen folgenden Betäubung nicht gekommen war, stellte sich jetzt ein, die Erinnerung nämlich daran, daß Dougaldine für diesen Nachmittag den Besuch Herrn von Heinzenstorffs erwartete. Einer unwillkürlichen Regung nachgebend, schnellte Dr. Almeneuer von seinem Sitze empor. Hinüber in den andern Zug! den Schläfer dort drüben wecken und ihm zurufen, daß man seine Heimlichkeit nun wisse! Dann zu Dougaldinen eilen, ihr alles erzählen und sie verhindern, daß sie künftig diesen Elenden bei sich empfange, – das war es, was Dr. Almeneuer auszuführen vorhatte, als er sich erhob. Aber schon setzten beide Züge sich in Bewegung. Ein Hinübersteigen war nicht mehr möglich und mit einem Seufzer des Unmutes sank der junge Mann auf die hölzerne Bank des Waggons nieder. Er machte sich die lebhaftesten Vorwürfe, daß er diesen Morgen gleichsam automatisch gehandelt habe in mechanischer Vollziehung eines Gedankens, den er gestern, als die Umstände noch ganz andere waren, gefaßt hatte. Wie hatte er das Wichtigste übersehen können? Die Verhinderung eines nochmaligen Zusammentreffens Dougaldinens mit einem Menschen von so anrüchigem Lebenswandel! Wo so viel auf dem Spiele stund, durfte wahrhaftig die Abstimmung, was die Beteiligung seiner Person anbetraf, diesmal zurücktreten. Und die Erkundigung auf der Gesandtschaft? Sie konnte auch einen Tag später stattfinden. Die Hauptsache war doch gewiß, daß Dougaldine rechtzeitig gewarnt wurde.

Indem aber die Räder des Bahnzuges sich unaufhaltsam drehten und den jungen Mann seinem Ziele entgegentrugen, das ihm nicht mehr sein Ziel zu sein schien, stellten sich Gedanken ein, die seine ihm nun aufgedrängte Handlungsweise zu beschönigen suchten. Am Ende war es doch wichtig, in erster Linie bei der Gesandtschaft sich zu erkundigen, ehe man nach der Aussage eines eifersüchtigen Mädchens gegen einen Mann auftrat, der sich in der vornehmen Gesellschaft mit solcher Sicherheit zu bewegen schien. Und dann schien es ebenso rätlich, in erster Linie Herrn Fininger von allen diesen Vorfällen zu verständigen. Er mochte dann seine Tochter telegraphisch anweisen, Herrn von Heinzenstorff diesen Nachmittag nicht zu empfangen. Endlich, – die Abstimmung war um Mittag vorüber. Wenn ich den ersten Nachmittagszug nehme, – so sagte sich Dr. Almeneuer, – so bin ich frühzeitig zurück auf der Villa und komme eben zurecht, um den Elenden angesichts Dougaldinens zu entlarven. Diese letztere Vorstellung hatte etwas seiner Phantasie besonders Zusagendes, so daß er sich bei ihr beruhigte und einen Zwischengedanken verwarf, der ihm geraten hatte, noch am Vormittag, Abstimmung und alles andere im Stiche lassend, nach Seeport zurückzueilen.

Der Zug langte so früh in der Stadt an, daß Dr. Almeneuer zunächst nichts anderes vorzunehmen wußte, als sich in der Restauration des Bahnhofs durch ein Frühstück für die bevorstehenden Aufgaben des Tages zu stärken. Dann, als eben die Glocken an den Kirchtürmen der Stadt das erste Zeichen zum Besuch des Morgengottesdienstes gaben, verfügte er sich auf eine der über dem Südabhang der Stadt gelegenen Promenaden, von wo man, unter herrlichen alten Linden lustwandelnd, des Ausblickes nach den Bergen genoß. Wohl verdeckte ein vorgelagerter Höhenzug den See, wohin die Gedanken des jungen Mannes unablässig eilten; aber er sah von hier aus doch wenigstens die Gegend, die er diesen Morgen in solcher Hast verlassen hatte, er sah die Bergriesen, die hinter Seeport emporstiegen, auch jene kühne Pyramide, auf deren luftiger Höhe er heute mit Dougaldine hätte stehen können, wenn er weniger willensstark oder weniger eigensinnig gewesen wäre. Auch das glänzende Schneefeld erblickte er, an dessen Fuß sein fernes Heimatdörfchen lag. Und über all dem spannte sich ein blauer rechter Sommertagshimmel aus, wolkenlos heiter und erfüllt von den wärmenden Fluten des Sonnenlichts, in denen mit schwirrendem Gezwitscher Lerchen ihr Liebesspiel trieben.

»Ha! Flüchtling!« hörte er sich auf einmal angesprochen, als er sinnend in all die Herrlichkeit des schönen Morgens blickte. Und als er rasch sich umwandte, sah er seinen argentinischen Freund vor sich stehen.

»Kommst du endlich einmal wieder zur Stadt von deinem Eiland, wo gewiß eine Kalypso – oder ist es gar eine männerverwandelnde Circe? – dich zurückhält?« Als Dr. Almeneuer, der dem Freunde nur mit stummem Gruße die Hand gereicht hatte, auf dieses Scherzwort nicht einging, fuhr der andere fort: »Im Ernst, ich bin froh, dich zu treffen. Andernfalls hätte ich dir heute oder morgen mit einem Briefe zu Leib gehen müssen. Nämlich – daß du es nur weißt. Ich war so frei, damals sofort nach Buenos Ayres zu schreiben und dich in Vorschlag zu bringen. Seit gestern habe ich die Antwort in der Tasche. Mein Vorschlag ist ohne weiteres angenommen worden; ein so gutes Andenken habe ich drüben hinterlassen. Es hängt also nur von dir ab. Du gibst deine Zusage und das Anstellungspatent wird dir vom hiesigen Vertreter der argentinischen Republik im Namen seiner Regierung ausgefertigt. Jetzt ist die schönste Zeit zur Reise; und es ist allerdings ratsam, daß du dich schon ein wenig in die dortigen Verhältnisse eingelebt habest, bevor du deine eigentliche Lehrtätigkeit mit dem Herbst beginnst.«

»Ich danke dir,« sagte Dr. Almeneuer und drückte die Hand des Freundes mit Wärme. »Du weißt selbst nicht, wie sehr ich froh sein muß über diese Möglichkeit, aus den hiesigen Verhältnissen herauszukommen. Aber dennoch – es ist seltsam – die Annahme oder vielleicht auch die definitive Ablehnung kann ich jetzt noch nicht aussprechen.«

»Zauderer! Frisch gewagt ist halb gewonnen!« erwiderte der Freund. »Die Sache drängt einigermaßen.«

»Gut! aber auf vierundzwanzig Stunden mehr oder weniger kann es nicht ankommen. Bist du zufrieden, wenn du morgen eine bestimmte Antwort hast?«

»Das ist ein Manneswort,« sagte der Argentinier, und damit war diese Angelegenheit erledigt. Doch ließ sich's der Freund nicht nehmen, dem eventuellen Amtsnachfolger nun eine Menge Mitteilungen zu machen über die Verhältnisse in Buenos Ayres, an sich sehr wissenswerte Aufschlüsse; nur daß Dr. Almeneuer viel zu sehr von andern Gedanken in Anspruch genommen war, um denselben die gehörige Teilnahme zu schenken.

Lange spazierten sie in den Anlagen umher und oft zog Dr. Almeneuer die Uhr hervor, um zu sehen, ob es endlich Zeit sei, einen seiner Besuche vorzunehmen. Zuletzt setzte er alle Rücksicht beiseite und erklärte dem Freunde, er müsse Herrn Fininger aufsuchen. »Gut,« sagte der Argentinier, »aber wir speisen doch zusammen?« – »Wenn ich zu Mittag noch hier bin,« gab Dr. Almeneuer zur Antwort. Und nachdem sie für diesen Fall das Hotel bestimmt hatten, verabschiedeten sie sich und der Hauslehrer eilte nach der Wohnung Herrn Finingers.

Sein Gang war umsonst. Schon war Herr Fininger, der dem Wahlausschusse angehörte, ausgegangen und nun für den Vormittag jedenfalls nicht mehr privatim zu sprechen. Dr. Almeneuer schlug den Weg zur Gesandtschaftskanzlei ein; dieselbe war, wie ein Anschlag besagte, an Sonntagen nur gegen Mittag für eine halbe Stunde geöffnet. Da war einstweilen nichts zu machen.

In mißmutiger Stimmung durchstreifte der junge Mann die Straßen der sonntäglich stillen Stadt und las an den Torgängen und den Eckenpfeilern die Wahlproklamationen, eine Lektüre, die seine Laune nicht verbesserte. Denn, wenn der Aufruf der aristokratischen Partei nur schlecht das Vorgefühl der kommenden Niederlage hinter farblosen, matten Worten versteckte, so war der Anschlagezettel seiner eigenen Gesinnungsgenossen in unsagbar plumpen und gehässigen Ausdrücken abgefaßt, ein Machwerk, dessen sich Dr. Almeneuer für seine Partei in die Seele hinein schämte. Selten war für eine gute Sache so würdelos gewirkt worden, wie in diesem Falle, und der junge Mann, der alle die persönlichen Eindrücke Revüe passieren ließ, die er, seit er in Herrn Finingers Hause lebte, im Verkehr mit fein gebildeten Aristokraten gewonnen hatte, fragte sich kopfschüttelnd, ob denn Roheit und Tölpelhaftigkeit wirklich für alle Zeit zu den Merkmalen demokratischer Gesinnung gehören müsse. Konnte nicht dermaleinst ein Idealzustand eintreten, wo politischer Fortschritt und Freisinn mit den feinen Formen des gesellschaftlichen Anstandes und der wahren Bildung eine Allianz schließen würden? Das würde auch ein friedlicheres und harmonischeres Zusammengehen aller Parteien im Volke ermöglichen. Freilich – da fiel ihm ein, daß die angeblichen Ritter, dieselben Aristokraten, die sich so gern als feine Leute geben, in den Mitteln der Presse nicht anständiger waren als ihre demokratischen Gegner, ja dieselben in diesem Punkt noch übertrafen. Denn in einem größeren Dorfe des Landes hielten sie sich eine Zeitung, wie sich etwa ein mit aller Welt zerfallener einsam wohnender Bauer einen besonders bösen Hund hält, den er auf jedermann losläßt, der ihm über den Weg läuft. Dieses Blatt leistete an gemeiner Beschimpfung der Gegner das Unglaublichste. Und doch war bekannt, daß verschiedene jener feinen Herren in der Stadt, welche sich auf gesellschaftliche Bildung so viel zugute taten, gerade dieses Blatt durch geistige und namentlich durch materielle Beiträge unterstützten. Da verblaßte dann freilich wieder der schlechte Eindruck, den ihm der plumpe Wahlaufruf der demokratischen Partei gemacht hatte. Hier war wenigstens alles aus einem Gusse. Man gab sich bäurisch, wie man war. Dort aber versteckte sich hinter heuchlerischer feiner Außenseite Seelengemeinheit, ein widerwärtiges Doppelspiel.

Von solchen Gedanken erfüllt, ging Dr. Almeneuer zur Kirche hinab, die als Wahllokal dienen mußte, und schrieb mit fester Hand die Namen der von der freisinnigen Partei aufgestellten Wahlkandidaten auf seinen Zettel. Herrn Fininger sah er mit anderen Herren an einem grünbehangenen Tische amten, wo die Behörde Platz genommen hatte. Er konnte sich ihm in dem Gedränge nicht bemerkbar machen, geschweige hoffen, mit ihm sprechen zu können. So verließ er die Kirche und eilte die Straßen der Stadt aufwärts nach dem Sekretariat der Gesandtschaft.

Hier endlich gelang es ihm wenigstens teilweise, seine Angelegenheit zu fördern. Ein junger, hübscher Mann, der Sekretär der Gesandtschaft, empfing ihn mit kalter Höflichkeit und fragte in etwas nachlässigem Tone, womit er dienen könne. Dr. Almeneuer nannte zuerst seinen Namen und bemerkte hierauf, daß er, unliebsamer Weise, genötigt sei, sich um die Privatverhältnisse eines dritten zu kümmern, eines Herrn von Heinzenstorff. Kaum hatte er diesen Namen ausgesprochen, als die bisher gleichgültige Miene des Sekretärs den Ausdruck straffer Spannung annahm. Auch in Worten trat der angehende Diplomat sofort aus aller Zurückhaltung heraus, die sonst zu seinem Berufe gehört. »Sie wollen sich über Herrn von Heinzenstorff erkundigen?« rief er. »Ich sehe Ihnen an, daß Sie viel eher noch über diesen Herrn mir etwas mitzuteilen haben. Und Sie verbinden mich im höchsten Maße, wenn Sie mir alles sagen, was Sie wissen.«

»Hiezu bin ich allerdings verpflichtet durch das an Herrn von Heinzenstorff teilweise gebundene Schicksal einer Unglücklichen,« sagte Dr. Almeneuer. Und nun erzählte er dem fast atemlos aufhorchenden jungen Diplomaten alles, was am gestrigen Abend das fremde verlassene Mädchen ihm anvertraut hatte; auch fügte er bei, daß Heinz von Heinzenstorff im Hause Herrn Finingers als häufiger Gast verkehre.

Der junge Diplomat hatte dieser Geschichte mit immer wachsender Aufregung zugehört. Jetzt fuhr er vom Stuhle auf und rief im Tone des größten Verdrusses: »Das ist eine höchst fatale Angelegenheit. Für mich ganz besonders fatal! Ihnen, mein Herr, bin ich zu größtem Dank verpflichtet und will Ihnen auch offen sagen, weshalb. Dieser Herr Heinz von Heinzenstorff, der ein eigentlicher Glücksritter zu sein scheint, hat es vermocht, sich die kameradschaftliche Vertraulichkeit mehrerer junger Männer in hiesigen höheren Kreisen zu erwerben, leider auch die meinige. Ich sehe nun klar, wie er es angefangen hat. Gesellschaftliche Zugeständnisse, die der eine ihm machte, hat er immer wieder beim andern ausgebeutet. Daß er z. B. bei Herrn Fininger verkehren durfte, wußten meine Freunde und ich, und dieser Umstand allein schon hat seinen Kredit ungemein gehoben. Dort aber, bei Herrn Fininger, wird er wiederum mit seinen Beziehungen zu den Repräsentanten ausländischer Staaten geprahlt haben, und so im Kreise herum hat er jede zufällige Annäherung einer irgendwie in der Gesellschaft hochgestellten Persönlichkeit zur Anknüpfung ähnlicher Beziehungen bei anderen einflußreichen Leuten benützt. Nun aber ist dieser Herr von Heinzenstorff ohne jegliche Legitimationspapiere und die Polizei hat ihm schon im März, bald nach seiner Ankunft, deshalb gewisse Schwierigkeiten gemacht. Damals nun kam er auf unser Büreau und bat mich persönlich, nachdem wir bereits von der Reitbahn her uns kannten, wo ich ihn sehr bewundert hatte um seiner verwegenen Kunststücke willen, ich möchte ihm eine Art Interimspaß ausstellen, indem er mir versicherte, seine Papiere seien in Livland zurückgeblieben und es liege nur an der zufälligen Krankheit eines dortigen Freundes, daß er sie nicht sofort erhalte. Unter anderm ließ er, während er so mit mir sprach, auch, wie zufällig, eine Visitenkarte auf den Boden fallen. Als ich mich darnach bückte und sie ihm zustellte, sagte er in nachlässigem Tone: ›Ah! das ist gut, daß die Karte mir noch einmal zu Gesicht kommt. Das ist eine Einladung zu einem Souper bei Herrn Bankier Fininger auf diesen Abend.‹ Ich sehe jetzt deutlich ein, daß diese Karte aus der Westentasche herausfallen mußte, um zu rechter Zeit ihm mein Zutrauen zu erwerben. Wirklich dachte ich bei mir, ich dürfe einem so ganz als vornehmer Kavalier auftretenden Herrn, der in einem so angesehenen Hause wie das Fininger'sche verkehre, die Gefälligkeit nicht verweigern. Und so stellte ich ihm, allerdings nur auf vier Wochen, eine Art Interimspaß aus, der eigentlich keine gesetzliche Vollkraft hat, da er vom Gesandten selbst nicht visiert wurde. Es war einfach ein Papier, mit dem er sich bei der städtischen Polizei auf meine persönliche Autorität hin eine Stündigung erwirken konnte, so daß man ihm den Aufenthalt einstweilen gestattete.«

»Jetzt ist auch klar, weshalb er die Stadt nach vier Wochen verließ und in das Städtchen am See hinaufzog,« warf hier Dr. Almeneuer ein. »Er machte wohl die richtige Rechnung, dort zunächst um so eher von der Polizei unbelästigt zu bleiben, als das Städtchen in jedem Sommer vielen Fremden Unterkunft gewährt, die, als Touristen betrachtet, selten um ihre Papiere befragt werden.«

»Jetzt aber ist es doch geschehen,« ergriff wieder der junge Diplomat das Wort. »Gestern war Herr von Heinzenstorff bei mir und bat mich, ihm abermals einen solchen Interimspaß auszustellen. Sein kranker Freund in Livland sollte gestorben sein, die Papiere desselben lagen angeblich unter Siegel, folglich auch sein eigener Heimatschein. Sobald die Behörde die Siegel löse, werde er denselben erhalten. Er drang sehr in mich und ich war so schwach, ihm abermals ein solches Schriftstück auszustellen, nur um ihn endlich loszubekommen, was mir erst spät abends gelang.«

»Mit dem Frühzug diesen Morgen ist er an mir vorübergefahren,« schaltete Dr. Almeneuer ein.

»Und hat nun den Schein, der mich kompromittiert. Denn jetzt, nach allem, was Sie mir mitgeteilt haben, kann ich nicht zweifeln, daß wir es mit einem Schwindler zu tun haben. Ich will nicht behaupten, daß er ein eigentlicher Strauchritter und Bauernfänger sei, noch auch, daß ihn die Polizei irgend eines Staates verfolge. Offizier ist er gewesen, das ist ganz sicher. Wahrscheinlich sind ihm die Schulden so über den Kopf gewachsen, daß er sein Land und seine militärische Stellung aufgeben mußte. Dann hat er da und dort sein Glück probiert und sucht sich mit Hilfe seines imponierenden Auftretens womöglich eine neue, sichere Lebensstellung zu gründen. Auf keinen Fall aber darf er hiezu sich länger hinter unserer Gesandtschaft verschanzen. Hätte ich nur das verwünschte Papier wieder!«

»Und nun das arme Mädchen!« bemerkte Dr. Almeneuer. »Können Sie ihr zur Heimreise behilflich sein?«

»Ich bin in einer Patsche drin,« sagte kleinlaut der Diplomat und strich sich ärgerlich über die Haare. »Es geht nicht anders, als daß ich meinem Chef ehrlich alles beichte. Er wird dann ohne Zweifel sofort diejenigen Verfügungen erlassen, die ich von mir aus anzuordnen nicht imstande bin. Es handelt sich darum, die Ortspolizei droben im Städtchen am See sofort, vielleicht telegraphisch, zu benachrichtigen. Aber das muß vom Gesandten selbst ausgehen. Ich speise heute bei ihm. Wollen Sie sich nachmittag um drei Uhr nochmals hierher verfügen? Dann kann ich Ihnen bestimmte Nachricht geben.«

Dr. Almeneuer überlegte. Wenn er bis zu jener Stunde in der Stadt blieb, so konnte er erst mit dem Abendzug im Oberland anlangen und Seeport nicht vor Sonnenuntergang erreichen. Dies war ihm sehr unlieb. Anderseits war es doch auch wichtig, daß in dieser Angelegenheit bestimmte Maßregeln getroffen wurden, die von der Entscheidung des Gesandten abhingen. Er beschloß daher, sich nachmittags zur festgesetzten Stunde hier wieder einzufinden und verabschiedete sich von dem jungen Diplomaten, der ihn bis an die Tür begleitete.

Im Gasthof, wo sein argentinischer Freund ihn erwartete, wurde über Tisch weg viel über die heutige Wahlschlacht verhandelt, deren Ergebnis zwar erst in später Nachmittagsstunde bekannt werden konnte, aber nicht zweifelhaft war. »Die Niederlage unserer Patrizier,« rief ein dicker Herr, der an der Wirtstafel das große Wort führte, »diese Niederlage ist ganz ähnlich dem, was drüben jenseits des Atlantischen Ozeans längst den Indianern passiert ist. Auch die Indianer nehmen für sich eine gewisse Legitimität in Anspruch. Sie waren zuerst da. Dann kamen die Einwanderer. So sind es auch hauptsächlich die von auswärts Eingewanderten, die allmählich unsere Patrizier in ihrer eigenen Stadtburg besiegt haben. Aber warum ist es den Indianern so ergangen? Weil sie sich andern Verhältnissen nicht anpassen konnten. Weil sie glaubten, ohne Büffeljagd gebe es kein Leben. Es gibt aber ein Leben des Ackerbaus und der Industrie. Und, wenn die Zeit einmal dazu da ist, muß man verstehen, zu rechter Stunde Pfeil und Bogen aus der Hand zu legen. Die Lokomotive ist auch eine schöne Waffe. Aber unsere Patrizier verstehen ihre Zeit beinahe so wenig, als ein Sioux oder Schwarzfußindianer sie versteht. Sie bleiben bei Pfeil und Bogen und ihrer ganzen alten Armatur. Und so verlieren sie mit jedem Tag mehr Boden unter den Füßen. Es ist ein tragisches Geschick. Wer historischen Sinn hat, muß es bedauern. Es handelt sich schließlich doch um die Nachkommen alter Heldengeschlechter, die den Namen unserer Stadt zu einem ansehnlichen gemacht hatten. Aber der moderne Mensch hat zu Sentimentalitäten nicht mehr Zeit. Knaben beweinen etwa das Schicksal der aussterbenden Indianer. Das unserer Patrizier wird wenigstens dadurch gemildert, daß die meisten noch auf hübschen Gütern sitzen, wo sie eine Weile fortfahren mögen, in ihrer Art Büffel zu jagen und Präriestrohfeuerchen anzuzünden, um sich dafür zu trösten, daß sie fortan von dem letzten Posten der städtischen Verwaltung ausgeschlossen sind.«

Obschon in diesen Worten des dicken Herrn viel Wahres lag, fühlte sich Dr. Almeneuer doch durch den etwas rücksichtslosen Ton, in dem sie gesprochen wurden, innerlich geärgert. Doch enthielt er sich jeder Gegenbemerkung. Auch wäre zu einer solchen sein Geist dermalen nicht frei genug gewesen. Eine Unruhe erfüllte sein Inneres. Immer wieder schweiften seine Gedanken nach Seeport, zu Dougaldinen, und beinahe hätte er die zweite Unterredung mit dem Gesandtschaftssekretär fahren lassen und den frühen Nachmittagszug benützt. Doch hiezu war es nun schon zu spät geworden.

So fand er sich pünktlich um drei Uhr auf dem Bureau der Gesandtschaft ein. Der junge Diplomat empfing ihn mit heiterer Miene. »Es ist alles geordnet,« sagte er. »Die Polizeibehörde droben im Städtchen am See ist bereits telegraphisch verständigt, daß Herr von Heinzenstorff kein Recht hat, sich auf den von mir ausgestellten Schein zu berufen. Mein Chef war gnädig; ich bin mit einer kleinen Nase davongekommen. Und was das arme Fräulein betrifft, so möge sie nur vertrauensvoll sich an uns wenden. Wir werden ihr zur Heimreise behilflich sein. Wollen Sie ihr dies mitteilen?«

Dr. Almeneuer versprach, spätestens am andern Tage das verlassene Mädchen aufzusuchen und ihr auszurichten, was ihm hier aufgetragen wurde. Wir dürfen schon hier einschalten, – da der fernere Gang der Ereignisse uns für diese Mitteilung nicht mehr den Anlaß gewährt, – daß Dr. Almeneuer diese Pflicht erfüllte und daß die Verlassene später ihre Heimat erreichte, wo sie von einem Vater aufgenommen wurde, der zu oft schon das Gleichnis vom verlorenen Sohne seinen Zuhörern in Erbauungsstunden ausgelegt hatte, um die Nutzanwendung desselben nicht auch seinem eigenen verlorenen Kinde gegenüber zu machen.

Für den Augenblick aber war alles Sinnen Dr. Almeneuers auf die Heimkehr nach Seeport gerichtet. Er hätte dorthin fliegen mögen und in seiner Ungeduld ging er zu Fuß zwei Stationen weit, bis der von der Stadt um fünf Uhr nachmittags abfahrende Zug ihn erreichte und nach dem Städtchen am See brachte. Ein Schiff erst zu mieten, schien ihm zu langsam für seinen Zweck. Was der Weg um das untere Ende des See's durch Krümmung länger war als die gerade Linie über den See, das hoffte er durch schnelles Gehen einzuholen.

Die Landstraße qualmte vom Staub schnellfahrender Wagen, auf denen frohgelaunte Menschen von ihrem Sonntagsausfluge heimkehrten. Die rote Abendsonne schien quer hinein in die am Boden wandelnden Wolken, die bis in die grünen Wiesen ihren Puder ablagerten. Wildes Jauchzen ertönte manchmal von einem Fuhrwerk oder aus einem Wirtshause seitwärts der Straße. Dem hastig Dahinschreitenden kam es vor, der Tumult seines Innern erfülle ringsum die ganze Landschaft. Mit jedem Schritt wuchs seine Unruhe und ein nagendes Vorgefühl, er werde in irgend einer Beziehung zu spät eintreffen.

Endlich sah er die großen Silberpappeln am westlichen Ende des Landgutes und die Platanen des Ufers und die andern Baumkronen alle, die das Haus dem Blicke entzogen. Auch einen Teil des Gartens vermochte er zu überschauen, nicht jedoch den Strand und den Hafen.

Wenige Minuten später trat er durch das Gittertor, dessen künstliches Schloß er mit gewohntem Handgriff zu öffnen wußte, in den Kiesweg, der von der Straßenseite her zur Villa führte. Am Tor lehnte im Gespräch mit dem Kutscher Juliette, die den erhitzten und bestaubten jungen Mann mit etwas spöttischen Blicken ansah. Er hatte schon die Frage auf der Zunge, wo das Fräulein sei, unterdrückte dieselbe jedoch, indem er das Unpassende derselben noch zur rechten Zeit einsah. »Ist Amadeus vom Berge zurückgekehrt?« fragte er bloß. » Non, Monsieur,« antwortete Juliette, die soeben noch mit dem Kutscher deutsch gesprochen hatte. › Monsieur Amadée n'est pas encore de retour.« Er ging an dem schnippischen Ding vorüber und eilte auf seine Stube, von wo er den Ausblick nach mehreren Seiten des Gutes hatte und also selbst nach Derjenigen Umschau halten konnte, die er suchte. Mit einem Sprung war er am Fenster. Dort – dort unten am Hafen stund sie. Ganz in ein weißes Sommerkleid gehüllt, ragte ihre hohe Gestalt am Ufer. Und sie schien allein zu sein. Ein Seufzer der Erleichterung löste sich aus der Brust des jungen Mannes. Rasch entfernte er den Staub aus seinen Kleidern und kühlte Gesicht und Hände im Wasserbecken. Dann, den Hut wieder aufsetzend, eilte er die Treppe des Hauses hinab und durch den Speisesaal nach der Veranda, wo Fräulein Martha, Herrn Finingers Schwester, gedankenvoll am Gitter der Brüstung lehnte. Ein Buch, das sie in Händen hielt, – es waren Geroks »Palmblätter«, – schien ihr Stoff zu Betrachtungen überirdischer Art geboten zu haben. Der junge Mann wollte sie in ihrer Sonntagsabendandacht nicht stören, grüßte stumm und stieg die Stufen hinab, den Weg nach dem Strande einzuschlagen. Immerwährend behielt er dabei die weiße Gestalt im Auge, die dort am Ufer weilte. Weshalb nur stund sie an jener Stelle, unbeweglich, einer Statue gleich oder jener Iphigenie, »das Land der Griechen mit der Seele suchend?« Ha! jetzt – eben hob sie den Arm und in der Hand flatterte das Taschentüchlein und winkte – winkte nach einem fernen Gegenstände draußen im See.

Ein Schwindel drohte die Blicke des jungen Mannes zu verdunkeln und die zwei nächsten Schritte tat er wie ein Taumelnder. Dann nahm er sich zusammen und war in wenigen Augenblicken drunten am Strande.

Der Kies knirschte unter seinen Tritten. Da wandte sich die weiße Gestalt des Mädchens dem Ankömmling zu. Wem winken Sie? hätte er ihr am liebsten statt jedes Grußes zugerufen. Aber er beherrschte die Wallung und verbeugte sich förmlich, indem er ein leises »Guten Abend, Fräulein!« hören ließ. Sie gab den Gruß mit Kopfnicken zurück und sagte bloß: »Ah! da sind Sie zurück von Ihrem Siege?« Er suchte sich zu fassen und erwiderte, indem er nach dem leichten Konversationston rang: »Wenn Sie die Abstimmung in der Stadt vielleicht meinen Sieg zu nennen belieben, so muß ich Ihnen doch melden, daß man offiziell noch kein Resultat kennt.« Sie schwieg und wandte sich wieder nach dem See, indem sie mit aller Sehkraft ihrer klaren Augen nach einem sehr fernen Gegenstände zu suchen schien. Dr. Almeneuer tat dergleichen, letzteres nicht zu bemerken. Und, um nicht wortlos hier neben ihr zu stehen, versuchte er abermals, ein Gespräch anzuknüpfen und sagte klopfenden Herzens: »Und – mein Fräulein …. wie, wenn ich fragen darf, ist Ihnen der Tag vergangen? Daß Amadeus noch nicht zurück ist, habe ich bereits vernommen.«

Sie wandte sich ihm wieder zu und diesmal in einer Weise, die ihn alsobald ahnen ließ, sie gedenke ihm etwas Besonderes zu sagen. Denn voll kehrte sie das Antlitz ihm zu, hob es langsam, richtete die Augen wie zwei zum Absenden von Geschossen bereite Bogen wider ihn, verzog dann den Mund zu jenem unsagbar spöttischen Lächeln, das ihn so oft schon verwundet hatte, und dann, dann sprach sie langsam, fast nach jedem Worte absetzend, durchweg aber in einem angenommenen nachlässigen Tone: »Wie mir der Tag vergangen ist? Nun – ein schöner Sonntag war's. Ein etwas langer Sommertag. Man hat sehr viel Zeit an solchem Tage. Fast mehr als gut ist. Ich habe Croquet gespielt – zu zweien. Herr von Heinzenstorff war auch da. Wir sind auch ein wenig aus dem See gewesen. Und dann …« – eine Pause – »dann habe ich mich auch verlobt.«

Die letzten Worte kamen so ganz beiläufig und gleichsam nebensächlich heraus.

Dr. Almeneuer glaubte zu erstarren. Er fühlte sich tödlich getroffen. Weh mir! nun ist alles aus! tönte es in seinem Herzen. Und seinem Geiste stellte sich auch auf einmal klar vor, warum alles aus war. Nicht, weil diese Verlobung, von der er ja wußte, wie leicht sie mit einem Worte rückgängig zu machen war, sie ihm durch ein mit einem andern geknüpftes Band hätte rauben können. Aber, daß sie so zu handeln vermocht hatte, daß es ihr möglich gewesen war, aus Ärger, aus Lust ihm weh zu tun, ihn zu strafen, den Mann, von dem er nicht glauben konnte, daß sie ihn liebe, ihm selbst vorzuziehen, daß sie so ihr eigenes besseres Gefühl mit Füßen getreten, ihre Seele verleugnet hatte, – das, er fühlte es, trennte sie von ihm auf ewig.

»Warum erstaunen Sie?« sagte Dougaldine, der sein starrer Blick und sein Schweigen unerträglich wurden. »Wie? kein Glückwunsch? Ah; ich habe Ihnen den Namen meines Auserwählten nicht einmal genannt. Doch Sie erraten ihn ohnehin. Dort fährt er auf dem See.«

Dr. Almeneuer schwieg noch immer. »Also wirklich keine Gratulation?« sagte das Mädchen mit der hartnäckigen Grausamkeit, die dem Weibe eigen ist, wenn es einmal dazu kommt, sich zu rächen, und in der es dann am rücksichtslosesten schwelgt, wenn es sich selbst mit jedem Stiche verwundet, den es dem Gegner beibringt.

»Ich werde …. Ihrem Herrn Vater meinen Glückwunsch … darbringen,« sagte endlich Dr. Almeneuer und wollte gehen.

»Und warum nicht mir?« nahm Dougaldine wieder das Wort. »Da bin ich weniger zurückhaltend.« Sie hielt einen Augenblick inne; ihre mädchenhafte Keuschheit sträubte sich, das zu sagen, was ihr im Sinne lag. Aber es hatte sie zu sehr gequält, es mußte endlich heraus. Und so schloß sie: »Ich beglückwünsche Sie zu der angenehmen nächtlichen Fahrt, die Sie gestern abends gehabt mit ….«

»Mit! mit! vollenden Sie!« rief der junge Mann. »Aber Sie können es nicht. Sie ahnen nicht, wie nahe diese Fahrt Sie anging und diese Ihre Verlobung. Gott! was rede ich? ich verrate, was ich Ihnen nicht sagen darf. Ihre Ohren sind zu rein, das zu hören …«

»Was Sie tun!« sprach sie wie außer sich und bereute im nächsten Augenblicke schon das böse Wort.

»Was ich tue?« gab der junge Mann zornig zurück. Wäre er welterfahrener gewesen, erfahrener besonders im Verständnis der Frauenseele, er hätte nicht in Zorn auflodern können. Er würde auf einmal begriffen haben, daß nur die falsche Deutung seiner gestrigen nächtlichen Fahrt mit einem weiblichen Wesen in Dougaldine diese übereilte Rache an ihm, die Verlobung mit Herrn von Heinzenstorff bewirkt hatte und Jubel über diese Entdeckung hätte seine Seele erfüllen müssen. Denn, wer sich so furchtbar zu rächen versuchte für vermeintlichen Unglimpf und Abfall, der liebte, liebte leidenschaftlich. Aber der junge Mann dachte in diesem Augenblicke an nichts anderes, als an die Ungerechtigkeit, die in Dougaldinens Vorwurf lag und deshalb rief er erzürnt: »Was ich tue? Wenn etwas schmachvoll Unwürdiges in diesen letzten vierundzwanzig Stunden hier auf Seeport geschehen ist, von mir wenigstens geschah es nicht.«

Jetzt loderte auch das Mädchen empor. »Von mir vielleicht?« fragte sie heftig.

»Wenigstens sind Sie das Opfer eines unwürdigen Betruges. Und – o! daß ich es sagen muß – das nicht schuldlose Opfer!« Dumpf sprach er diese Worte.

Sie trat ihm einen Schritt näher. »Jetzt verlange ich die volle Wahrheit,« sagte sie mit feierlichem Ernst. »Nicht länger diese halben Andeutungen. Sie sind mir Aufklärung schuldig.«

Er besann sich einen Augenblick, dann brach er los: »Wohlan! Erfahren Sie es, da Sie es durchaus wissen wollen. Der Mann, mit dem Sie sich heute verlobt haben, ist ein Unwürdiger, den vielleicht heute noch die Behörde zur Rechenschaft zieht, wenn auch nicht für Verbrechen, so doch wegen ungenügenden Ausweises über seine mehr als zweifelhafte Persönlichkeit. Dies ist jedoch nicht das Schlimmste. Er hat ein eigentliches Verbrechen – in meinen Augen wenigstens – dadurch begangen, daß er ein armes, allzu vertrauendes und allerdings auch zu leichtsinniges Mädchen, die Gouvernante einer russischen Familie, verlockte, mit ihm zu entfliehen. In Männerkleidern ist sie ihm gefolgt und hat bei ihm gewohnt. Ihr und ihm sind Amadeus und ich auf jener Bergreise begegnet, wo Herr von Heinzenstorff das seltsame Zwitterding, das er bei sich hatte, uns als einen jungen Reisekameraden vorstellte. Dort drüben, wohin ihn jetzt sein Schiffchen getragen, dort lebt sie. Von dort kam sie selbst zu Schiffe gestern hieher, die arme, von wahnsinniger Eifersucht betörte, die vernommen hatte, Herr von Heinzenstorff huldige hier einem andern Wesen ihres Geschlechts. Nach ihm wollte sie ausspähen. Zufällig kam ich mit ihr ins Gespräch. Und – als sie mir ihr Herz ausgeschüttet hatte und ich befürchten mußte, die Verzweifelnde möchte auf einsamer nächtlicher Rückfahrt ihr Leid in den tiefen See versenken wollen, da habe ich sie hinübergefahren und bewacht.«

»Mein Gott! mein Gott! was sagen Sie mir da?« hauchte Dougaldine. Und plötzlich ergriff sie, wie im Nebel umhertastend, mit letzter Kraft die Hand des jungen Mannes. Dann versank ihr die Welt in Dunkel; der Anfall einer Ohnmacht schloß die Augen des sonst so starken Mädchens und warf es willenlos in die Arme dessen, der diese köstliche Last jetzt – und dann niemals wieder – umschloß. Sie lag an seinem Herzen. Halb geöffnet waren die Lippen ihres von Schmerz verzogenen Mundes. Seiner selbst nicht mehr mächtig, schloß er diesen Mund, der ihm so unsagbares Leid zugefügt, mit einem heißen, leidenschaftlichen Kusse der Liebe und zugleich des herbesten Schmerzes.

Da erwachte sie aus ihrer Betäubung. Fragend, aber nicht zürnend, sah sie ihn an. Beinahe schien es, als ob sie darauf warte, daß der Kühne den Beweis seiner Liebe erneue. In diesem Augenblicke schallte jenseits des Landhauses von der Straße her ein jauchzender Ruf des heimkehrenden Amadeus. Dougaldine richtete sich auf. Sie stund wieder frei. Dr. Almeneuer hatte seinen Arm zurückgezogen, sobald er bemerkte, daß sie seiner Hilfe nicht bedurfte. Jetzt trat er aus die Schaluppe zu, deren Eisenkette nur leicht um den Uferpflock geschlungen war. Er löste die Kette.

»Was tun Sie? wohin wollen Sie?« fragte das Mädchen mit bebender, unsicherer Stimme.

»Fort!« gab der Mann zurück. »Ich sende Ihnen den Kahn durch einen vertrauten Fischer zurück. Ihrem Herrn Vater werde ich schreiben. Umarmen Sie Ihren Bruder und grüßen Sie ihn von mir. Sagen Sie ihm, was Sie wollen.«

»Was haben diese Abschiedsworte zu bedeuten?« fragte Dougaldine. Sie zitterte am ganzen Leibe. Und hätte der harte Mann den Blick ihrer jetzt von Tränen verschleierten Augen gesehen, – aber er wich ihren Blicken aus, – es wäre ihm unmöglich gewesen, seinen Vorsatz auszuführen. So aber sprach er mit einer Stimme, die desto rauher klang, je mehr er noch mit sich selbst zu kämpfen hatte:

»Dieser Abschied bedeutet, daß ich unter einem Dache nicht schlafen kann, wo ich den höchsten Schmerz meines Lebens erfahren habe. Ich Tor! ich Tor! ich wähnte mich gewürdigt. Und ein Streit um nichts, eine Laune, ein böser Verdacht dazu haben genügt, daß, nur damit mein Herz bluten müsse, ein Anderer, ein Nichtswürdiger, alles das für sein ganzes Leben zugestanden erhalten sollte, wonach ich kaum in der tiefsten Heimlichkeit meiner Seele als nach dem höchsten Erdenglücke zu trachten gewagt hatte. Jetzt – jetzt sehe ich ein, zu spät, daß jener kalte Blick, mit dem Sie einst, auf jenem Balle, meine Aufforderung zu einem Tanze abwiesen, mich hätte warnen sollen! Er enthielt mein ganzes Schicksal. O! warum bin ich in Ihre Bahn gezogen worden, aus meiner glücklichen Dunkelheit in diese Sonnennähe? Doch das ist nun vorbei. Dem Schlechtesten haben Sie das Himmelskleinod hingeworfen und ich ziehe als abgewiesener Bettler von dannen.«

Bei diesen letzten Worten hatte er dem Schiffe einen leichten Ruck gegeben, war dann ins Fahrzeug gesprungen und stieß ab, ohne Dougaldine mehr anzusehen, auch ohne zu sprechen. Denn nun rollten Tränen, denen er nicht zu wehren vermochte, über seine Wangen. Wütend über diese Zeichen unmännlicher Schwäche legte er sich mit aller Kraft in die Ruder und das Schiff entfernte sich vom Ufer.

Hätte sie ihn jetzt zurückgerufen! hätte sie ihrem armen Herzen Luft gemacht mit dem ehrlichen Aufschrei des Schmerzes, hätte sie ihm gestanden: Du böser, harter Mann! Nur aus übergroßer Liebe zu dir und aus übergroßem Leid über die vermeinte Untreue ist es geschehen, daß ich so töricht mein Leben an jenen Unwürdigen wegwerfen wollte. Und nun ich dir die Erlösung, die Rettung danke, so nimm dieses Leben, nimm es hin und sei glücklich, wie ich es mit dir sein werde – hätte sie so zu ihm gesprochen, er würde nicht widerstanden haben, er wäre zurückgekehrt. Sein Zorn über ihre Selbstwegwerfung an einen von ihm gehaßten Menschen würde vor dem beseligenden Vollglück ihrer Liebe hingeschmolzen sein.

Das Herz in ihr schrie. Aber keine Silbe kam über ihre Lippen. Wohl glaubte sie zu erstarren in ihrem Jammer, als er ins Schiff getreten war und vom Lande abstieß. Aber mächtig stund in ihr auf der Stolz der Jungfrau und der Stolz der Patrizierin.

Wie? sie – sie sollte diesen Mann zurückrufen, der sich von ihr lossagte, wenn auch freilich mit Worten, die ein glühendes Geständnis seiner Liebe waren, aber auch zugleich Worte ewiger Trennung? Nimmermehr! Wohl trug dieses Schifflein ihr ganzes Lebensglück und jeder Ruderschlag ging mitten durch ihr Herz und ihre Seele. Aber er floh vor ihr; so mußte es sich erfüllen, wie er es in seinem harten Mannesstolze wollte. Ihre Seele durfte nicht niedriger gemutet sein als die seinige.

Das jedoch konnte sie nicht hindern, daß sie in starrer Selbstvergessenheit dem kleinen Boote nachblickte aus weit geöffneten Augen. Und er, das Antlitz dem Lande zugewandt, aber es gesenkt haltend, ruderte unaufhaltsam, als ob es dem größten Glück entgegenzueilen gälte. Und ging doch die Fahrt ins Elend!

Jetzt flog das Schiff um die Landzunge und entschwand; erst viel später mochte es ganz fern draußen im See wieder sichtbar werden. Da erst, als alles zu spät war, war ihr Stolz gebrochen. Heiß atmend und in eine Flut von Tränen ausbrechend, warf sie sich auf den Rasen am Strande; aber ihr feines Taschentuch, das sie von vorhin noch in der Hand hielt, das drückte sie in den Mund, auf daß kein Laut ihres schluchzenden Jammers zum Verräter ihres Gemütszustandes werde.

So lag sie, bis Bruno, das treue Tier, sie plötzlich mit Liebkosungen überfiel. Schnell richtete sie sich auf, denn sie vernahm auch die Schritte ihres Bruders, der jetzt an den See hinabeilte, um nach der Bergfahrt mit einem kühlen Bade sich zu erfrischen. Er hatte sie von fern auf dem Rasen liegen sehen und fragte sie, indem er sie begrüßte: »Hast du hier geschlafen Schwester?« »Ja,« antwortete sie gefaßt, »geschlafen und auch geträumt.«

Es war der Traum ihres Lebens gewesen, der an diesem Abend ein Ende nahm.

* * *

Eine Woche später stund ein junger Mann auf dem Verdeck des nach Argentinien bestimmten Steamers »Neptun« und sah um die Abendstunde die Küste Europas in grauer Dämmerung verschwinden. Es war das Kap Finisterre. »Finis terræ!« sagte der junge Mann melancholisch vor sich hin. Ja! Das Ende des Landes meiner Jugend, meiner Liebe, meiner seligsten Hoffnung! »Finis terræ!«

* * *


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