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II

Um elf Uhr desselben Vormittags, der auf die Ballnacht folgte, saßen einige junge Männer, Privatdozenten der Hochschule, Assistenten des Spitals und andere mehr, beim Frühschoppen zu ebener Erde in einer Wirtschaft, deren Fenster auf der einen Seite in ein Gäßlein hinausgingen, das man, träfe man es in einer italienischen Stadt, höchst merkwürdig finden würde, da es gewisse zweifelhafte Reize einer südlichen Stadt aufzuweisen hat: hohe Mauern, die keinen Sonnenstrahl bis aufs Pflaster gelangen lassen, ein wunderliches Durcheinander aller möglichen Gewerbe in den dunkeln Parterrewohnungen, infolge dessen Gedränge und viel Geschrei, besonders an Markttagen, Abfälle von Gemüse und von Fleischwaren in den Winkeln, Schmutz, Feuchtigkeit und andere Herrlichkeiten ungenierter Lebensgewohnheit.

Wie nun zufällig einer der jungen Männer den Blick durchs Fenster spazieren gehen ließ, rief er plötzlich auflachend aus: »Da! schaut! Das ist Freund Almeneuer! Der kommt erst jetzt vom Ball heim und drückt sich wie ein Missetäter die Mauer entlang, damit er in seinem Frack nicht zu sehr auffalle!« Und zugleich eilte der Sprechende ans Fenster, riß es auf und rief ins Gäßchen: »Halt da! So schleicht man nicht vorbei. Herein mit dir! Unser Dicker hat soeben ein frisches Fäßchen angestochen.«

Dr. Almeneuer, den sein Spaziergang auf den Berg weiter geführt hatte, als seine Absicht gewesen, hatte das enge Gäßchen gewählt, um möglichst unbemerkt seine Wohnung gewinnen zu können, da er, sobald er die Stadt betreten, wohl bemerkt hatte, wie sein Anzug den Leuten auf der Straße auffiel. Jetzt, so plötzlich angerufen von einem Kameraden, den er zwar recht gut leiden mochte, mit dem ihn aber doch kein eigentliches Freundschaftsverhältnis verband, fühlte er sich unangenehm berührt, auf seinem fluchtähnlichen Rückzuge aufgehalten zu werden. Er winkte daher nur mit der Hand hinüber, um anzudeuten, er habe große Eile und könne dem Rufe nicht Folge leisten. Aber so leicht gab jener die Sache nicht auf. »Du mußt einen Augenblick hereinkommen,« rief er, »ich habe dir eine Mitteilung zu machen«.

Einen Augenblick zögerte Dr. Almeneuer, dann kehrte er um, dem Rufe Folge zu leisten. Ohnehin dünkte ihn ein frischer Trunk nach dem langen Spaziergang keine üble Sache, und daß vollends nach einer Ballnacht der Frühschoppen unvergleichlich schmeckt, ist allbekannt.

So schickte er sich denn mit nicht allzuviel Bedauern ins Unvermeidliche, und im nächsten Augenblicke schon verdunkelte die hohe, kräftige Gestalt des Eintretenden die schmale, niedere Tür des Lokales, wo die Freunde am Biertische saßen. Sie hießen ihn mit Freuden willkommen, rückten zusammen, rieben ihre Gläser an seinem Humpen und wollten dann vor allen Dingen wissen, wie es komme, daß er noch in Balltoilette stecke. Die meisten von ihnen hatten ebenfalls den Ball mitgemacht, waren aber beim Morgengrauen in ihre Betten gekrochen und hatten bis tief in den Tag hinein geschlafen. Dr. Almeneuer berichtete kurz, er sei noch spazieren gegangen und komme jetzt soeben vom Berg herunter. »Nun, und deine Mitteilung?« setzte er hinzu, indem er sich an denjenigen wandte, der ihn hereingelockt.

Dieser, ein junger Jurist, war einer der wenigen, der diese Nacht nicht auf dem Ball gewesen; da er von Jugend auf am rechten Beine gelähmt war, mußte er sich dieses Vergnügen versagen. Dafür hatte er auch diesen Morgen die Vorlesung bei Professor Gregor, dem berühmten Lehrer des Staatsrechts, nicht versäumt, eine Vorlesung, die auch Dr. Almeneuer sonst zu besuchen pflegte, obschon sein eigentliches Hauptstudium Geschichte und die Literatur der modernen Sprachen war.

»Von unserm Professor habe ich dir etwas auszurichten,« sagte der angehende Jurist. »Er hat mich heute nach der Vorlesung nach dir gefragt und wünscht, daß du ihn noch diesen Nachmittag besuchen möchtest. Er habe mit dir zu sprechen.«

Dr. Almeneuer antwortete nur mit kurzem Kopfnicken, womit diese Angelegenheit erledigt war. Darauf wandte sich das Gespräch, wie natürlich, zu den Ereignissen der gestrigen Ballnacht. Hiebei brannte dem jungen Manne fortwährend die Frage nach seiner aristokratischen Schönen auf der Zunge. Aber immer wieder hielt ihn eine ihm unerklärliche Scheu ab, direkt zu fragen, wie sie eigentlich heiße. Er hätte sie ja zu diesem Zwecke beschreiben müssen. Auch wäre vielleicht erwähnt worden, daß sie ihm, da er sie zum Tanz aufforderte, einen Korb gegeben. So mochte er von ihr nicht zu sprechen anfangen. Aber um so mehr hoffte er, die andern würden von selbst im Gespräch auf sie kommen. In dieser Hoffnung bestellte er ein zweites, ja selbst ein drittes Glas; vergebens! Fast von allen andern Mädchen und jungen Frauen war die Rede, man spottete über den wunderbaren indianischen Kopfputz einer etwas welken Dame, die durch extravagante Toiletten bekannt war, mit denen sie ihre magern Reize etwas zu wenig bedeckte, man erzählte über das purpurrote Sammetkleid einer andern Dame eine ziemlich pikante Historie, man lachte über die Naivitäten eines rotwangigen Backfisches, der nach Überwindung des ersten Ballfiebers sich mit einer hier zu Lande ungewohnten herzlichen Natürlichkeit frei hatte gehen lassen. Kurz, es fehlte nicht an richtigem Klatsch, der eine Pflanze ist, die eben so häufig mit Bier als mit Kaffee begossen wird und ebensoviele männliche Staubgefässe als weibliche Griffelnarben hat. Aber auf die aristokratische Unbekannte wollte das Gespräch nicht kommen. Und das war zuletzt dem jungen Manne lieb, da ihm eine zynische Bemerkung, die vielleicht auch dieses Mädchen getroffen hätte, eigentlich weh getan hätte. Als daher das Gespräch mehr im allgemeinen auf eine gewisse Damenkleidermode hinüberspielte, von der einer der Anwesenden behauptete, daß man sie nach der Venus Kallipygos die kallipygische nennen sollte, erhob sich Dr. Almeneuer plötzlich, dem es jetzt beinahe eben so sehr bange war, etwas über seine Schöne zu hören, als er dies vor kurzem noch dringend gewünscht hatte. Sein Aufbruch gab auch den andern das Signal, an ihr Mittagessen zu gehen. Die Genossen trennten sich und Dr. Almeneuer suchte seine Wohnung auf, die mitten in der Stadt im vierten Stocke eines alten Bürgerhauses lag.

* * *

Schon brannte die Lampe im traulichen Studierzimmer Professor Gregors, und der arbeitsame Mann, der in allen Kreisen der Gesellschaft hohen Ansehens sich erfreute, saß über seinen Heften, als das Stubenmädchen zur Tür hereinsah und die stereotype Frage tat, ob der Herr Professor zu Hause seien; ein Herr Dr. Almeneuer sei da, der ihn zu sprechen wünschte.

»O ja! natürlich! Lassen sie den Herrn gleich eintreten,« sagte der Professor, indem er mit einer gewissen Hast, die seinen Bewegungen eigentümlich war, vom Schreibtische aufstund und dem Eintretenden mit wohltuender Herzlichkeit entgegeneilte.

»Sie wünschen mich zu sprechen,« begann der junge Mann.

»Seien Sie mir bestens willkommen,« erwiderte der Professor, indem er seinen Gast zu einem Divan geleitete, auf dem sich beide Männer niederließen.

»Ich habe einen eigentümlichen Auftrag bekommen,« so eröffnete der Professor seine Ansprache. »Eine Familie unserer Stadt sucht für ihren etwa dreizehn Jahre alten Sohn einen Hauslehrer. Das heißt, verstehen Sie recht, einen wissenschaftlich gebildeten Mann, der täglich auf ein paar Stunden ins Haus käme, um den jungen Menschen so ziemlich in allen möglichen Disziplinen zu unterrichten. Die Familie ist eine der ersten der Stadt, sehr reich, das Salaire daher ein für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich hohes. Ich habe an Sie gedacht, Herr Doktor, was meinen Sie? Sie würden gewiß die Lehrstunden des Knaben so legen können, daß Sie an Ihren eigenen wissenschaftlichen Studien nicht zu sehr behindert würden, und da könnten vielleicht die sonstigen, mit dieser Stelle verbundenen Vorteile Ihnen angenehm sein, so daß Sie …«

»Ich danke Ihnen,« fiel der junge Mann dem Professor in die Rede, da dieser die letzten Worte etwas zaudernd vorbrachte. »Sie haben an meine Armut gedacht.«

»Bitte, bitte!« sagte der Professor, »ich habe vor allen Dingen an Ihre hohe geistige Befähigung gedacht, die ich schon aus der Preisschrift kenne, mit der Sie im vorigen Jahre so glänzenden Erfolg hatten.«

Dr. Almeneuer verneigte sich schweigend.

»Sie sind einer der wenigen,« fuhr der Professor fort, »die in dieser unserer materiellen Zeit den Zug nach dem Idealen nicht verleugnen. Sie wissen noch, was Universalität der Bildung besagen will. Obschon gerade Ihnen vielleicht durch Ihre Verhältnisse ein rascher Abschluß des Berufsstudiums nahegelegt wäre, wollen Sie doch lieber materielle Opfer bringen und sich dafür eine enzyklopädische Übersicht und Einsicht ins ganze wissenschaftliche Leben verschaffen. Sie dürfen das oft mißbrauchte Wort getrost aussprechen: nil humani – Sie wissen, ›nichts Menschliches bleibe mir fremd‹. Und zwar verstehen Sie höchste Menschlichkeit darunter, nämlich die Höhe der wahren menschlichen Bildung.«

Der Professor, der mit diesen Worten weniger beabsichtigte, seinem jungen Freunde ein Kompliment zu machen, als vielmehr sich gehen ließ in der Entwicklung gewisser, ihm persönlich lieber Gedanken über die richtige Erfassung des Universitätsstudiums, bemerkte nicht, daß er, ohne es zu wollen, der Bescheidenheit seines Zuhörers doch eine ziemlich harte Zumutung machte, indem er Herrn Almeneuer so ins Gesicht hinein lobte. Er fuhr daher unbefangen fort: »Ich sehe immer mehr und mehr mit Bedauern, wie unsere Studenten ganz nur im Brotstudium aufgehen. Das Strebertum ist auf allen Gebieten eine unerfreuliche Erscheinung, am unerfreulichsten aber da, wo es die Jugend ergriffen hat. Unwillkürlich fragt man sich: Wenn das am grünen Holze geschieht, wie soll es kommen, wenn diese Herren im späteren Philisterium dürr werden? Ohne Idealität hat ein kleiner Freistaat wie der unsrige gar keine Existenzberechtigung und wird auch nach und nach materiell der Mittel verlustig gehen, seine Unabhängigkeit zu behaupten. Es fehlt uns an Opferfreudigkeit, der lange Friede hat alle Welt bei uns egoistisch gemacht. Ein Krieg wäre in mancher Beziehung für uns ein Segen … Doch, wo gerate ich hin? Gerade Sie, Herr Doktor, bedürfen dieser meiner Vorlesung am wenigsten. Ich mache es beinahe wie der Pfarrer, der den Braven, die noch in die Kirche gehen, den schlechten Kirchenbesuch der andern zum Vorwurf macht.« Und freundlich schloß er: »Nun, mein lieber Herr Doktor, was ist Ihre Ansicht, wollen Sie die Stelle annehmen?«

Lächelnd erwiderte Dr. Almeneuer, daß er noch gar nicht den Namen der betreffenden Familie vernommen habe.

»O! es wäre bei Herrn Fininger, einem unserer gebildetsten Patrizier. Er ist sogar so gebildet, daß er das ›von‹ vor seinem Namen beharrlich wegläßt, obschon seine Familie unzweifelhaft eine der ältesten der Stadt ist. Der Name weist entschieden auf fines hin, auf ein Geschlecht also, das in alten Zeiten wohl mit dem Schwert Grenzhut zu halten, die Landmarken zu verteidigen hatte. Herr Fininger ist Kaufmann im großen Stil, wie Sie vielleicht wissen.«

»Ich kenne ihn nicht,« erwiderte der junge Mann. »Wenn er aber so gebildet ist, warum begreift er dann nicht, daß sein Söhnchen am meisten Gewinn davontragen wird, wenn es die öffentlichen Lehranstalten der Stadt besucht? Dieselben gelten ja mit Recht für gut und er hat sogar die Auswahl. Will er das Staatsgymnasium vermeiden, das ihm vielleicht zu demokratisch vorkommt, so bleibt ihm die bekannte, auf sehr konservativer Basis ruhende große Privatanstalt des Herrn …«

»Die ihm aber zu pietistisch frömmelnd ist,« fiel hier der Herr Professor ein. »Er hat seinen Knaben von Anfang an nicht dorthin geschickt; warum er ihn jetzt aus dem Staatsgymnasium nimmt, das weiß ich wirklich selbst nicht. Hingegen soll der Junge ein sehr nettes, aufgewecktes Bürschchen sein, das Ihnen Freude machen würde.«

»Und haben Sie dem Herrn Fininger meinen Namen bereits genannt?« fragte Dr. Almeneuer.

»Ich war so frei, ihm zu sagen, daß ich mit Ihnen sprechen würde.«

Der junge Mann dachte nach und es entstund eine Pause des Gesprächs.

»Noch diese Nacht auf dem Ball sprach ich mit ihm,« schaltete der Professor ein.

Dr. Almeneuer überhörte diese Bemerkung, er überlegte ernstlich, ob es sich mit seinen sonstigen Grundsätzen vertrage, zur Erziehung eines jungen Menschen Hand zu bieten, den man wahrscheinlich bloß aus aristokratischer Vornehmtuerei den guten öffentlichen Schulanstalten entzogen habe.

Endlich sagte er: »Haben Sie meinen besten Dank, Herr Professor, daß Sie an mich gedacht haben. Aber es kommt mir vor, daß unsereins Unrecht tut, solches Privatschulwesen, das ohnehin in unserer Stadt zu sehr gedeiht, noch persönlich zu unterstützen.«

»Sie geben mir einen Abschlag?« rief der Professor, fast mit schmerzlichem Ausdruck in der Stimme. »Überlegen Sie sich's doch, Herr Doktor. Sie wissen ja gar nicht, was die Gründe sind, weshalb der Junge von nun an zu Hause soll unterrichtet werden.«

»Krankheit wird es doch nicht sein?« erwiderte der junge Mann.

»Ich glaube wohl nicht,« sagte der Professor. »Aber wer kann es wissen? Ich möchte Sie wirklich bitten, diese Sache nicht so schroff abzutun. Hören Sie meinen Vermittlungsvorschlag. Sie gehen morgen hin zu Herrn Fininger und stellen sich ihm vor, indem Sie ihm mitteilen, Sie wüßten noch nicht bestimmt, ob Ihre Zeit Ihnen erlaube, diese Arbeit zu übernehmen. Bei diesem Anlasse erfahren Sie den wahren Grund, weshalb der Knabe der Staatsschule entzogen worden. Je nachdem Sie nun einen persönlichen Eindruck erhalten, können Sie zusagen oder ablehnen.«

Dr. Almeneuer schwankte in seinem Entschlusse. Das Honorar für die Stunden konnte er nur zu gut brauchen. Auch war es ihm unangenehm, dem Professor, der ihn in Vorschlag gebracht hatte, sich ungefällig zu zeigen. Als daher dieser noch einmal in ihn drang, wenigstens einen Besuch in dem Patrizierhause zu machen und dabei dem jungen Manne der Gedanke durch den Kopf fuhr, er könne vielleicht bei dieser Gelegenheit etwas dazu beitragen, ein offenbar bestehendes Vorurteil jener Leute zu überwinden und den jungen Menschen der Staatsschule wieder gewinnen, gab er endlich nach und versprach dem Professor, anderen Tages hinzugehen und sich Herrn Fininger vorzustellen.


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