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Die Privatstunden des jungen Amadeus nahmen ihren Anfang. Alle morgen um sieben Uhr stellte sich der Lehrer pünktlich ein; der am frühen Vormittag unbenutzt stehende Salon durfte als Lehrzimmer dienen. Um zehn Uhr waren die Lektionen regelmäßig beendigt und vierzehn Tage vergingen so, ohne daß Hans Almeneuer jemals die Schwester seines Zöglings auch nur einen Augenblick zu Gesicht bekommen hätte. Auch den Vater sah er selten und die Begegnung war jedesmal nur eine flüchtige, zufällige.
Dennoch beschäftigte der neue Lehrer den engen Kreis dieser Familie in ausgiebigster Weise und war denjenigen beiden, die von seiner persönlichen Gegenwart direkt nichts verspürten, dafür in desto ausgedehnterem Maße geistig gegenwärtig. Dies durch seinen Zögling.
Jedes Tischgespräch, mochte es von was immer für einem Gegenstande anheben, führte immer wieder auf Doktor Almeneuer zurück. Der Knabe war von der Persönlichkeit seines Erziehers so erfüllt, daß ihn die Dinge bald nur noch interessierten, insofern sie mit dem, was sein Lehrer sagte, in Beziehung zu setzen waren. Und dann, wie viel war direkt aus den Stunden zu melden, von der ganz originellen Art, in welcher dieser Mann den Unterricht anfaßte! Für die Erdbeschreibung zum Beispiel hatte er gleich von Anfang an die Schilderung einer Nordpolexpedition mitgebracht und erläuterte mittels des anschaulichen Reisetagebuches der Nordpolfahrer dem Knaben die wesentlichsten Begriffe sowohl der mathematischen wie der physikalischen Geographie, an die langen Tage und langen Nächte des Nordens und an die Kälteverhältnisse jener Zone alles anknüpfend, was auf die Stellung der Erdkugel zur Sonne und auf Schneegrenze unter verschiedenen Breiten usw. Bezug hatte. Und als ihm vorkam, daß dem Zögling einige Grundbegriffe zu wenig deutlich waren, weil die ursprünglichste Anschauung fehlte, da stiegen sie beide durchs ganze Haus alle Treppen empor bis auf die flache Terrasse des Daches, von wo sie einen freien Horizont gewannen über die Kamine und Türme der Stadt hinweg in die weite Umgegend.
Die lateinischen und griechischen Vokabeln waren bis dahin der Gegenstand der entschiedensten Abneigung des Knaben gewesen. Dr. Almeneuer legte die Grammatiken dieser Sprachen einstweilen ruhig beiseite und begann in Vorträgen, die aber meistens mehr die Form von lebhaften Gesprächen annahmen, seinem intelligenten Zögling die Geschichte der alten Völker einläßlich zu erzählen, wobei er auch manche gute Abbildungen vorwies, Schlachtenpläne ihm vorzeichnete, aus alten Schriftstellern in deutscher Übersetzung längere ausgewählte Stücke vorlas.
Es ging gerade damals durch die höheren Schulen der Stadt, in welcher diese Begebenheiten sich zutrugen, eine Bewegung gegen den Unterricht in den klassischen Sprachen. Aber dieselbe war aus einem grundfalschen Prinzip herausgewachsen, das wenigstens Dr. Almeneuer nicht teilte. Jene Gegner der alten Sprachen bekämpften nämlich auch den Geist der antiken Kultur und verstiegen sich zu oft sehr komisch klingenden Behauptungen, z. B. man müsse das Lateinlernen verachten, da die Römer ein sittenloses Volk gewesen seien und keine großen Erfindungen gemacht hätten, wie die Luftpumpe, oder die Elektrisiermaschine, oder die Lokomotive und das Gaslicht. Als einst auch Amadeus seinen Lehrer über diese angebliche Talentlosigkeit des altrömischen Geistes befragte, antwortete ihm dieser, indem er in die nächste Stunde ein Stück altrömischen Mörtels mitbrachte, das von einer Ausgrabung eines alten römischen Wachtturmes stammte, den man vor Jahren in einem Walde am Fluß, nahe bei der Stadt, bloßgelegt hatte. Er wies dem Zögling nach, wie sich heutzutage die Baumeister ganz Europas und Amerikas trotz allem ihrem Zement glücklich schätzen würden, wenn ihnen die Bereitung dieses altrömischen Mörtels gelänge, der noch nach Jahrtausenden eine Festigkeit zeigt, die alles Ähnliche weit übertrifft. Er wies ihm auch in Abbildungen einige jener altpompejanischen Wandgemälde, deren Farbenfrische noch heute den Malern Bewunderung abnötigt; er erzählte ihm, wie die Römer schon das Petroleum besessen, das von uns erst seit ungefähr dreißig Jahren wieder entdeckt worden sei, kurz, er lehrte ihn, derartige kindische Angriffe auf die Bedeutung eines alten Kulturvolkes, wie es die Römer gewesen, in ihrer Grundlosigkeit richtig abschätzen und bewirkte durch solche und ähnliche Unterredungen, daß Amadeus ganz von selbst in den freien Nachmittagsstunden das Lateinbuch hervorholte und für sich aus dem Übersetzungsteil Stücke zu übertragen begann, wo irgend ein geschichtlicher Name, der ihm auffiel, seine Neugier reizte.
Was Wunder, daß der Knabe voll war von dem Lobe eines solchen Lehrers und daß sein Mund überfloß von täglichen Mitteilungen über alles, was Herr Almeneuer Interessantes gesagt hatte.
Den Vater freute es, wenn Amadeus solche Themata zur Sprache brachte. Die Wärme, mit der sein Sohn von diesen Dingen sprach, war ihm ein Beweis, daß die Bildung desselben gute Fortschritte machte und eine echte war. Da war kein bloß äußerliches Anhäufen von Wissensstoff, vielmehr ein Wachsen von innen heraus; die junge Pflanze setzte ein Herzblatt ums andere an und gedieh sichtlich.
Anders wirkten diese Ausbrüche jugendlicher Begeisterung des Knaben auf Dougaldine.
Vom ersten Augenblick an, als Hans Almeneuer in ihren Gesichtskreis getreten war, also bereits an jenem Ballabend, hatte sie ihn wider ihren Willen bemerken müssen, das heißt innerlich auszeichnen durch eine Aufmerksamkeit, die ihr seine Erscheinung abtrotzte. Doch wäre dieser erste flüchtige Eindruck ohne Wirkung geblieben, wenn dieser Mann sich ihr nicht zufällig zwei Tage später abermals aufgedrängt hätte. Aufgedrängt ohne seine Absicht, das mußte sie zugeben. Sie hatte wohl bemerkt, wie sehr er selbst überrascht gewesen, in der Schwester seines Zöglings die junge Patrizierin zu erkennen, die einen Tanz mit ihm ausgeschlagen hatte. Und nun seither in diesen vierzehn Tagen, da er täglich im Hause ein- und ausging, hatte er, sie mußte es anerkennen, auch nicht den leisesten Versuch gemacht, die Grenzen seiner Stellung zu überschreiten und sich ihr zu nähern. Drängte er sich ihr dennoch auf, so geschah es durch die reiche geistige Anregung, die von ihm auf Amadeus hinüberströmte. Nun war aber dabei das Eigentümliche, daß sie, wenn der Bruder bei Tisch alle die guten Gedanken und klugen Worte seines Lehrers erzählend hinterbrachte, nicht die Stimme des Bruders hörte, sondern gar wohl den Klang jener Stimme hindurchspürte, die bis jetzt beinahe nur laut geworden war, um ihr zu widersprechen. Ja selbst in Äußerungen, die der Bruder ganz aus sich selbst heraus vorbrachte, glaubte sie die geistige Prägung des Mannes zu bemerken, der plötzlich ihre bisher ruhige innere Welt in eine eigentümliche Aufregung setzte. Je weniger sie sich hierüber Rechenschaft geben mochte, desto bestürzter wurde sie über die Tatsache, daß sie beinahe schon innerlich zitterte, wenn der Bruder nur von fern ein Thema berührte, das wieder auf seinen Lehrer hinüberzuleiten versprach. Obwohl sonst außerordentlich klaren Geistes, hatte sie diesem ihr neuen Gefühle gegenüber nur gleichsam ein Blinzeln, ein zaghaftes nicht Hinsehenwollen, bis sie sich eines Tages einredete, ihre innere Unruhe stamme aus ihrer schwesterlichen Liebe zu Amadeus und sei nichts anderes als Eifersucht auf den übermäßigen Einfluß, den ein Fremder über das Gemüt des bisher von ihr fast ausschließlich geleiteten Bruders ausübe. Von da an deutete sie die Wallungen, die ihr jedesmal aufstiegen, sobald der Name des Hauslehrers genannt wurde, als Symptome eines sehr berechtigten Ärgers über ihre eigene Zurücksetzung in der Gunst des Bruders, und es kam ihr vor, in ihrem Gemüte wachse ein Gefühl, das nichts anderes sein konnte als Erbitterung gegen den unberufenen Eindringling.
Bald sollten sich aber diese Erfahrungen innerlicher Natur wieder um eine überraschende Entdeckung vermehren. Den Anlaß hierzu gab eine der Kaffeegesellschaften, die unter den jungen Mädchen ihres Standes üblich waren und ungefähr alle acht Tage dieselben Freundinnen an einem bestimmten Nachmittage bald im Hause der einen, bald im Hause der andern versammelten. Diesmal war Dougaldine die Wirtin und sah schon bald nach drei Uhr ihre Altersgenossinnen, die Nächstwohnenden zu Fuß, andere in den eleganten Cabs ihrer Väter anlangen, so daß nach und nach in dem Salon ein Flor liebenswürdiger Menschenblumen sich versammelte.
Man konnte sich wirklich nichts Anmutigeres denken, als diese muntern, wohlgezogenen Geschöpfe, die wie Vögel harmlos durcheinander zwitscherten. In dem Stande, dem sie angehörten, ist Mädchenschönheit schon durch Abstammung von Eltern und Voreltern, die ihr Leben unter besonders günstigen Bedingungen hinbrachten, nichts Seltenes. Im Sommer wohnten alle diese Familien auf prächtigen Landgütern, die sie erst spät im Herbst mit der Stadtwohnung vertauschten. Daß ihre Väter die bekannten nobeln Passionen bis zu jener Ausschweifung getrieben hätten, die in manchem andern Lande den Adel gesundheitlich zerrüttet und die Nachkommenschaft schädigt, kam hier in den einfacheren und gewissermaßen doch kleinstädtischen Verhältnissen viel seltener vor, so daß die blühenden Rosen auf den vollen Wangen der Töchter gleichsam das Lob guter Sitte der Ahnen verkündeten. Auch war namentlich aus einer häufigen Mischung germanischer Elemente mit französischen, da solche Ehen in diesem Stande zahlreich waren, ein feiner Typus der Gesichtsbildung hervorgegangen. Rechnet man hinzu, daß diese Mädchen von Sorgen und Mühen des Lebens mit keinem Hauch berührt wurden und als wohl geschonte Zierpflanzen ihrer Familien ein unschuldiges Dasein führten, das in der Regel nicht einmal mit großen Zumutungen angestrengten Lernens beschwert wurde, so wird man begreifen, daß eine Zwölfzahl solcher Wesen, versammelt um einen mit feinen Kuchen und Kaffee beladenen Tisch, ein kleines goldenes Zeitalter, ein vom Himmel gefallenes Stückchen Paradies vorstellte.
Freilich ihre Gespräche waren weder himmlisch noch paradiesisch, sondern irdisch wie die aller Mädchen beim Kaffeetisch, und es war auch nicht einmal der Wunsch da, sich in ideale Regionen zu versteigen. Im Gegenteil! Über einen damals in einer tieferen Höhenkurve der Gesellschaft bestehenden Damenklub, der sich auf Anraten eines Professors mit der Lektüre Dantes beschäftigte, rümpften die Freundinnen Dougaldinens ihre vornehmen Näschen, ohne natürlich zu ahnen, wie sehr sie mit ihrem Spott im Grunde Recht hatten. Sie unter sich plauderten unbefangen in den Tag hinein, was jede gerade freute und wovon sie glaubte, daß es die andern auch interessieren dürfte. Und da ging es dann allerdings ohne einigen Klatsch nicht ab, dem aber nichts Giftiges beigemischt war; denn, wenn in den Seelen kein Gift ist, woher sollte es in die Rede fließen?
Es waren jedoch in letzter Zeit Dinge geschehen, die den raschen Zünglein der bei Dougaldine versammelten Freundinnen genug zu schaffen machten. Zwei Standesgenossen, junge, »nette« Kavaliere, hatten bei der Auswahl künftiger Lebensgefährtinnen ihre Augen in unbegreiflicher Verblendung auf Mädchen geworfen, die gar nicht zur Gesellschaft, zur Welt gehörten. Einer, das war notorisch, huldigte einem wunderschönen Töchterchen einer unbemittelten Schneidersfamilie. Und als man ihm den Gegenstand seiner Werbung, wohl auf Anstiften und mit Hilfe der Angehörigen des jungen Mannes, dadurch aus dem Wege räumte, daß man die junge, etwas ausgelassene Schönheit in ein französisches Institut schickte, da wußte der durchtriebene Schalk es so einzurichten, daß er zu seiner eigenen Ausbildung in eine jenem Institut unfern gelegene Stadt reisen durfte, wo er alsobald die Beziehungen zu dem Mädchen wieder anknüpfte. Als letztere darauf wieder heimkehrte, kam auch er zurück und es hatte allen Anschein, daß seine hartnäckige Werbung zum Ziele führen würde. Noch stärker stritt wider alle Standesvorurteile der andere Fall, daß ein Sprößling eines alten ritterlichen Hauses einer Schauspielerin den Hof machte und nicht etwa in jener gewissenlosen Weise, die nur an Befriedigung eigener Lust denkt, sondern ernsthaft mit den besten Absichten. Als auch hier der Gegenstand der Neigung und Bewerbung des jungen Mannes die Stadt verlassen hatte und sogar übers Meer gereist war, folgte der treue Anbeter, und nun war aus einer Weltstadt jenseits des Atlantischen Ozeans durch das Kabel soeben die Depesche eingetroffen, daß sich der Junker mit der Theaterprinzessin ehrlich und ehelich verbunden habe.
Dougaldinens Freundinnen besprachen diese Vorkommnisse, wie gesagt, ohne Bosheit. Bitterkeit war schon durch die süßen Kuchenstücke ausgeschlossen, die sie während des Plauderns in den Mund steckten. Und keine dieser hoffnungsvollen Knospen machte sich etwa darüber gleichsam statistische Gedanken, daß durch derartige Abirrungen einzelner der ohnehin spärlich vorhandenen möglichen Freier die Aussichten für die eigene Heirat sich ein wenig verschlechterten. Denn mit siebzehn, achtzehn und neunzehn Jahren geben sich frohgemute schöne Mädchen aus gutem Hause noch keinen derartigen schwarzen Vorstellungen hin; ihr Lebensgefühl pulsiert so mächtig, daß der Zweifel in Betreff der Zukunft nirgends ein krankes Plätzchen findet, wo er die quälenden Häkchen einhängen könnte.
Um so mehr erstaunten sie, als Dougaldine, ihre Wirtin, mit einer gewissen Erregung diese Nachrichten als abscheuliche bezeichnete. »Was willst du?« entgegnete die feine Gisela, indem sie ihr blondes Köpfchen mit der hoheitsvollen Gebärde einer jungen Erzherzogin zurückwarf: »Was willst du nur, Dougaldine? Haben nicht von jeher die vornehmsten Männer, Könige und Fürsten voran, Mesalliancen geschlossen? Solche Fälle sind sogar gut, weil sie immer alle Welt in Staunen setzen und weil dann dieses allgemeine Staunen wieder für unsern Stand spricht, der also doch in der Wertschätzung aller Leute für etwas Höheres angesehen wird. Sonst würde man ja über dergleichen kein Wort verlieren.«
»Ich kann nur wiederholen, daß ich es abscheulich finde,« sagte Dougaldine mit einer Gereiztheit, deren Ursache ihr selbst noch verborgen war. »Wie kann jemand aus unserm Kreise so völlig vergessen, was er den Rücksichten auf seine jetzt lebende Familie und auf seine längst dahingegangenen Ahnen, die ihm den reinen Namen hinterlassen haben, schuldig ist?« Und, indem sie dies sagte, hatte sie eine dunkle Vorstellung, als ob sie sich selbst eindringlich das Schimpfliche eines derartigen möglichen Vergessens vorhalten und ihr eigenes Herz strafen müsse.
»Aus unsern Kreisen!« ließ jetzt mit silberhellem Lachen die Jüngste der Gesellschaft, die muntere Natalie, sich vernehmen, deren auf feinem Hälschen sitzendes, von schwarzen Löckchen umringeltes Rundköpfchen den Sinn der Worte Dougaldinens nicht ganz begriffen hatte. »Aus unsern Kreisen! Natürlich! Wir Mädchen werden doch niemals dergleichen tun! Das versteht sich von selbst!«
Da geschah das Unerwartete, daß Dougaldine auf einmal, und mit womöglich noch größerer Erregtheit als zuvor, eine solche Ungleichheit in der Liebe und Ehe nun fast zu verteidigen schien, indem sie ausrief: »Das sehe ich nun nicht ein! Wenn es denn Männern unseres Standes erlaubt sein oder ihnen doch wenigstens hingehen soll, warum dann nicht auch uns?«
Ein fröhliches, aber entschieden protestierendes Geschrei aller durcheinander folgte diesen Worten und hatte wenigstens das Gute, daß die Freundinnen die Purpurröte nicht zu sehr bemerkten, welche Dougaldinens Antlitz bei ihrer Rede auf einmal übergossen hatte. Wie junge Amazonen, denen ihre Königin Penthesilea plötzlich den Vorschlag gemacht hätte, sich mit einem rohen Skythenstamme zu vermählen, so stürmten die übermütigen Gespielinnen auf ihre Wirtin ein und lachend nannten sie, während sie im Zimmer auf und ab tänzelten, die Namen bekannter komischer Persönlichkeiten der Straße, den »Onkel Pix«, den »gestiefelten Kater« und den »Tambourmajor« als ihre Auserwählten, wenn sie denn doch einmal unter ihrem Stande eine Partie machen sollten; kurz, der Ausdruck »Kaffeeschlacht«, der bei den Mädchen der Stadt für solche Nachmittagsgesellschaften allgemein üblich war, begann in diesem lustigen Entrüstungssturm, der sich gegen Dougaldine erhoben hatte, eine ganz besondere, der kriegerischen Bedeutung der einen Worthälfte gemäße Anwendung zu finden.
Dougaldine begriff sich selbst nicht. Was alle die andern zu Ausbrüchen harmloser Lustigkeit hinriß, erregte sie ernstlich im tiefsten Gemüt und auf einmal kamen ihr diese meist jüngeren Gespielinnen unsagbar kindisch und albern vor. Wohl bezwang sie sich, mitzulachen und mitzuscherzen. Aber, was sie an diesem Nachmittage noch weiter plauderte und mit scheinbarer Teilnahme anhörte, das nahm nur die Oberfläche ihres Geistes und Gemütes in Anspruch; innerlich war eine Empfindung vorhanden, als ob ein Gegenstand, der nicht hingehörte, ihr ins Herz eingedrungen wäre. Ein dumpfer physischer Schmerz schien von ihr Besitz genommen zu haben und sie sehnte sich nach Ruhe und Einsamkeit, wie ein verwundetes Reh, das die Stille und das tiefste Dunkel des Blätterdaches aufsucht. Es war ihr, bei all ihrer Herzlichkeit für die Freundinnen, eine wirkliche Erleichterung, als bei Anbruch der Dämmerung alle gleichzeitig aufbrachen und noch unter der Tür unter Umarmungen versicherten, dies sei ein besonders herrlicher Nachmittag gewesen.
Die Einsamkeit der Dämmerstunde brachte jedoch keine Erlösung von dem dumpfen Zustande, in dem sich Dougaldine befand. Denn wie sehr sonst das Mädchen gewohnt war, klar zu denken und sich über alles, was sie bewegte, Rechenschaft zu geben, diesem neuen Gefühl gegenüber war ihr scharfes Sehen nur ein scheues Auf- und schnell wieder Wegblicken. Von den lärmenden Freundinnen umgeben, hatte sie Stille gewünscht, um ungestört nachdenken zu können; jetzt wünschte sie eben so sehr wieder eine Unterbrechung des sinnenden, träumenden Verweilens ihrer Gedanken vor einem Vorhang, der ein Geheimnis zu bergen schien.
Die Unterbrechung blieb nicht aus. Der Vater, der wie gewöhnlich etwas vor der Teestunde sich einstellte, hatte diesmal mit der Tochter Notwendiges zu sprechen. »Wir müssen nächstens eine Gesellschaft geben,« sagte er, »eine Herrengesellschaft, bei der ich dich zu präsidieren bitte, das heißt, bis die Zigarren und der Kaffee aufgetragen werden. Es liegt mir daran, die Gesellschaft bald zu geben, indem ich besonders einem an mich empfohlenen jungen Ausländer, einem Herrn Heinz von Heinzensstorff, der schon zweimal seine Karte abgab, ohne mich zu treffen, hiedurch eine erste Aufmerksamkeit erweisen möchte. Er hat eine Empfehlung von einem uns befreundeten Petersburger Hause und soll in Beziehungen zur Gesandtschaft seines Landes stehen.« Nach dieser Einleitung setzte Herr Fininger seiner Tochter auseinander, wer sonst noch solle eingeladen werden, wobei sich ergab, daß man, wenn man alle Rücksichten nehmen wollte, die zu nehmen waren, fataler Weise auf die ominöse Zahl 13 für die um den Tisch Sitzenden gelangte. »Wir müssen jemand weglassen,« meinte Herr Fininger, der für seine Person keinem Aberglauben Raum gab, aber als freundlicher und höflicher Hausherr das in solchen Dingen oft unberechenbare Gefühl anderer schonen wollte. Aber wie sich auch Vater und Tochter Mühe gaben, zu ermitteln, wen man für diesmal übergehen dürfte, sie kamen damit zu keinem Entschlusse. War doch diese Gesellschaft mutmaßlich die letzte, die sie vor ihrer Abreise aufs Land zu geben gedachten; sie eilten nämlich in jedem Jahre so früh als möglich, schon Ende April, wenn die Witterung es einigermaßen erlaubte, ihr schönes Landgut zu beziehen. Demgemäß sollten vorher noch alle rückständigen gesellschaftlichen Schulden erledigt werden.
Während dieses Gespräches zwischen Vater und Tochter war auch Amadeus ins Zimmer getreten und hörte ruhig von einer Fensternische aus den Verhandlungen zu. Eben deliberierten die beiden, ob man, da auch Professor Gregor eingeladen war, nicht vielleicht einen seiner Kollegen beiziehen könnte, z. B. Professor Dachsinger, den »Urkundenprofessor«, wie man ihn auch nannte, da er eine besondere Spürnase für geschichtliche Urkunden besaß und in Archiven aller Länder schon manchen guten Fund gemacht hatte, den er für sein Fach, die Spezialgeschichte des Landes, auszubeuten wußte. Er wurde zuweilen in alten Familien der Stadt als Gast eingeladen, hatte jedoch eine üble Angewohnheit, die jetzt von Dougaldine gegen ihn geltend gemacht wurde. »Sieh, Papa,« sagte sie, »dieser alte Herr ist ja recht interessant und könnte ein ganz angenehmer Tischgenosse sein, da ihm jedenfalls der Faden des Gespräches nicht leicht ausgeht. Aber man ist niemals sicher, daß er im Eifer seines urkundlichen Wissens nicht diesem oder jenem unserer Gäste erzählt: »Das war im Jahr 1473, als Ihr Ahnherr Soundso gehängt wurde, wie das auf dem und dem Pergament zu lesen steht.« Ich bin schon dabei gewesen bei solchen bedenklichen Nutzanwendungen, welche Professor Dachsinger von seinem Wissen machte, und kann versichern, daß derartige Revisionen des Stammbaumes für niemand angenehm sind. Und er hat eine wahre Manie, immer wieder auf solche Themata zu kommen. Er ist das wahre enfant terrible der Urkundenweisheit. Wer bürgt dafür, daß nicht auch unter unsern Vorfahren irgend ein Raubritter figuriert, von dem dieser gelehrte Herr ein fatales Histörchen zu erzählen wüßte. Lassen wir ihn lieber.«
Herr Fininger schwieg und es entstand eine Pause des Nachdenkens.
Da ließ sich vom Fenster plötzlich die helle Stimme des jungen Amadeus vernehmen. »Wenn Ihr einen vierzehnten braucht,« sagte der Knabe, »warum ladet Ihr denn Herrn Dr. Almeneuer nicht ein?«
Herr Fininger antwortete auf diesen unvermuteten Vorschlag mit einem »Hm«, das halb zustimmend, halb fragend klang.
In Dougaldine empörte sich einen Augenblick etwas gegen diesen Vorschlag, sie wußte selbst nicht, was es war. Aber sie spürte zugleich, daß sie sehr rot wurde und war froh, daß das Dämmerdunkel des Abends ihre Aufregung verbarg.
»Was meinst du zu dieser Aushilfe deines Bruders?« fragte jetzt geradezu der Vater.
In Dougaldine jagten sich die Gedanken mit wilder Hast. Einen davon hielt sie zuletzt fest und glaubte, es sei derjenige, der sie antrieb, diesem Vorschlag beizustimmen. Dieser Gedanke aber, hätte sie ihn geäußert, würde gelautet haben: Gut! er soll eingeladen werden, er soll kommen und in einer feinen Gesellschaft mir den augenscheinlichen Beweis seiner gesellschaftlichen Inferiorität, seines Plebejertums leisten.
Freilich, das sagte Dougaldine nicht. Sie begnügte sich, ihre Zustimmung mit den Worten auszudrücken: »O! wenn du glaubst, Papa, es gehe an, den Hauslehrer unseres Amadeus einzuladen, so tue es; wir sind dann vierzehn.«
»Er ist ein Mann comme il faut,« sagte Herr Fininger. Und damit war es beschlossen, daß Dr. Almeneuer eine Einladung erhielt.
Der junge Mann freute sich arglos, als ihm die Post in einem mittelalterlich stilvollen Umschlag ausgesucht groben Handpapiers die kleine Karte überbrachte, die ihm zu beweisen schien, daß man ihn in der Familie seines Zöglings zu schätzen beginne. Weder ahnte er, daß er die Einladung bloß dem Wunsche, über die böse 13 wegzukommen, und dazu einem Einfalle des kleinen Amadeus verdanke, noch wäre er gar auf den Gedanken gekommen, diejenige, welcher in aller Verschwiegenheit seine ernste Mannesseele huldigte, verbinde mit dieser Einladung den Wunsch und die Hoffnung, er werde in solcher Gesellschaft eine schlechte Rolle spielen.
Und sah es im Herzen der jungen Patrizierin wirklich so aus? Sie glaubte es. Aber die ungewohnte Aufregung, mit der sie einem gesellschaftlichen Anlasse entgegensah, der sie sonst nur wenig würde interessiert haben, konnte nicht wohl einzig und allein einem so unfreundlichen Wunsche entspringen. Während sie als Hausfrau alle nötigen Vorbereitungen traf, die dem Ansehen und Reichtum des Hauses entsprachen, ertappte sie sich immer wieder auf der Frage: Was wird er sprechen? Wie wird er in diesem ihm fremden Kreise sich bewegen? Und diese Fragen, die sie selbst für den Ausdruck einer feindseligen Regung hielt, sahen einer freundlichen Besorgnis, er möchte sich bedauerlicher Weise diese oder jene Blöße geben, merkwürdig ähnlich.
Zur festgesetzten Abendstunde stellten sich die geladenen Gäste ein und wurden im Salon von Herrn Fininger und seiner Tochter mit jener ruhigen Höflichkeit begrüßt, die in diesem Hause Normaltemperatur war. Es waren meistens ältere Herren, Witwer und Junggesellen, die sich heute einfanden. Nur die beiden zuletzt und gleichzeitig Eintretenden, jener an Herrn Fininger empfohlene Fremde und Dr. Almeneuer, repräsentierten eine jüngere Generation.
Der erste Blick Dougaldinens galt demjenigen, der ihr in den letzten Tagen so viel zu schaffen gemacht. Sein Gesellschaftsanzug war tadellos, seine Verbeugung zwar etwas weniger geschmeidig als die der andern Herren, wie die eines Mannes, der nicht frühzeitig gelernt hat, den Rücken zu beugen; aber sie war achtungsvoll und würdig. Er dankte mit ein paar Worten ihr und ihrem Papa, daß man so freundlich gewesen, ihm die Ehre dieser Einladung zu erweisen; dann ließ er sich mit dem ebenfalls anwesenden Staatsrechtsprofessor Gregor, der sogleich freundlich auf ihn zugetreten war, in ein halblaut geführtes Gespräch ein, wie ja auch die andern Herren, in Erwartung des Soupers, in kleinen Gruppen beisammen stunden.
Dougaldine jedoch war jetzt ausschließlich von dem Fremden in Beschlag genommen, den ihr Vater als Heinz von Heinzenstorff ihr und allen Anwesenden vorgestellt hatte. Er war ein hoher, stattlicher Mann, von jener etwas brutalen Schönheit, die man in Offizierskreisen stehender Heere am häufigsten antrifft. Man mußte unwillkürlich, wenn man ihn ansah, an den feurigen Rappen denken, den er gewöhnlich wohl reiten mochte. Wohl ist das Geschlecht der fabelhaften Centauren ausgestorben; aber es gibt noch immer in der Gesellschaft Männer, die man nicht sehen kann, ohne den Pferdeleib zu vermissen, der ihre Erscheinung eigentlich ergänzen müßte. Den schwarzen Schnurrbart trug der Fremde so herausfordernd gedreht und zugespitzt, daß einige Anwesende, die vor Jahren bei seinem Besuche in Europa den Schah von Persien gesehen hatten, jetzt wieder an dessen martialische Physiognomie erinnert wurden. Glänzende schwarze Augen und die Adlernase stimmten gut überein mit dieser exotischen Erinnerung und gaben dem Antlitz einen stolzen Ausdruck, der freilich momentan in ein süßliches Lächeln sich auflöste, da der Ausländer mit einer hier zu Lande ungewöhnlichen Geschmeidigkeit sofort begonnen hatte, dem »gnädigen Fräulein« den Hof zu machen.
Dougaldine empfand im ersten Augenblick eine gleichsam instinktive Abneigung gegen den Fremden, obschon sie seiner auffallenden Gestalt und seinem hübschen Gesicht in ihrem stillen Urteil vollkommen gerecht wurde. Sie bemeisterte jedoch diese in ihr aufsteigende Abneigung und zwang sich, Herrn von Heinzenstorff mit besonderer Freundlichkeit auszuzeichnen, was ohnehin ihrer Pflicht gegenüber einem Ausländer entsprach, der zum ersten Male den Salon ihres Vaters betrat. Von Dr. Almeneuer schien sie nicht im mindesten Notiz zu nehmen. Uebrigens wurden die Flügeltüren, welche nach dem anstoßenden Speisezimmer gingen, soeben von einem Diener geöffnet und die Gesellschaft begab sich hinüber. An den beiden schmalen Enden der länglichen Tafel, einander gegenüber, präsidierten Vater und Tochter. Letztere hatte zu ihrer Rechten den Fremden, zur Linken einen alten Obersten, während Hans Almeneuer als der letzte der linksseitigen Reihe neben Herrn Fininger seinen Platz erhielt; so war es von Dougaldine angeordnet worden.
Der alte, etwas kurzatmige Oberst war sonst ein gemütlicher Gesellschafter, der aber erst nach Tisch aufzutauen pflegte; so lange das Essen dauerte, beschäftigte er sich, schwer keuchend, fast ausschließlich mit den ihm vorgesetzten Delikatessen. Dougaldine hatte daher seine Nähe nicht aus freier Wahl gewünscht, sein Alter und sein Rang hatten ihm diesen Platz angewiesen. Von dieser Seite war also nicht viel Unterhaltung zu erwarten.
Aber auch Herr Heinz von Heinzenstorff hielt anfänglich nicht, was sein gesellschaftlich sicheres und feines Auftreten zu versprechen schien. Er hatte bei der ersten Begrüßung im Salon seinen Vorrat von galanten nichtssagenden Redensarten bald erschöpft, und da er, nach erst neulich erfolgter Ankunft in dieser Stadt, noch so gar keine Beziehungen zu deren Einwohnern und vielleicht seine Gründe hatte, über die eigene Heimat und seine persönlichen Verhältnisse nicht zu sprechen, so entstund trotz allen Bemühungen Dougaldinens, ein heiteres Tischgespräch anzuknüpfen, an ihrem Tafelende bald eine gewisse peinliche Stille. Ihr schöner Nachbar schien hinter seiner kurzen Stirn mit Unruhe und ohne Erfolg nach einem Gegenstande der Unterhaltung zu suchen; als ihm nichts einfiel, begnügte er sich, mit Blicken achtungsvoller Bewunderung der Tochter des Hauses zu huldigen und schien sie gleichsam mit den Augen um Verzeihung zu bitten, daß ihm nichts in den Sinn komme, was er sprechen könnte.
Nun hätte Dougaldine es gleichwohl vermocht, aus eigenen Mitteln ihres gebildeten und beweglichen Geistes ein Gespräch in Gang zu bringen, wären nur ihr Ohr und ihr Geist nicht unwillkürlich beschäftigt worden durch die am andern Ende der Tafel immer animierter werdende Unterhaltung, aus der die Tenorstimme Dr. Almeneuers bald in hellen, vibrierenden Akzenten mit klarer Rede, aber frei von jedem Pathos, hervortönte. Ein neben ihm sitzender Patrizier hatte vorher im Salon bei der Vorstellung den Namen des jungen Gelehrten überhört und bat jetzt, da dieser sein Tischnachbar geworden, mit höflicher Entschuldigung um nochmalige Nennung des Namens, damit er wisse, mit wem er sich zu unterhalten die Ehre habe. Als Almeneuer sich hierauf genannt, fühlte der artige Herr ein gewisses aus Wohlwollen hervorgehendes Bedürfnis, einen offenbar plebejischen Namen gleichsam zu verbessern dadurch, daß er diesen Namen als einen interessanten bezeichnete. »Ja,« sagte Almeneuer unbefangen, »der Name ist insofern interessant, als er wahrscheinlich die von Generation auf Generation in meiner Familie ererbte Beschäftigung andeutet.«
»Von Generation auf Generation ererbt« – »Familie« – das waren Worte, die in diesem Kreise immer Aufmerksamkeit erregten. Jeder horchte hin und mit besonderer Erwartung Dougaldine.
»Ich denke mir,« sagte der junge Doktor, »daß einfach mit der Zeit ein Buchstabe in Verlust gekommen ist; es wird ein ›h‹ hinter ›Almen‹ gestanden haben, so daß wir ursprünglich Almenheuer hießen und das bedeutet offenbar Leute, die in den Alpen Heu machen. Sie kennen ja aus dem ›Tell‹ wenigstens, das ›elende und erbärmliche Leben‹ wie Rudolf der Harras das Dasein eines solchen Wildheuers nennt, der an den schroffen Felsenwänden, wohin das Vieh sich nicht getraut zu steigen, das freie Gras überm Abgrund wegmäht. Das haben nicht nur meine Vorväter, das habe ich selbst als Knabe getan. So heißt's bei uns wirklich nomen est omen.«
Dieses fröhliche Eingeständnis geringer Herkunft aus einer Bauernhütte mußte in einer Gesellschaft, wo fast alle Anwesenden gewöhnlich darauf aus waren, das Ansehen ihrer Familie durch Ableitung ihres Ursprunges von alten Rittergeschlechtern zu heben, einen eigentümlichen Eindruck hervorrufen. Die weniger Klugen fühlten sich völlig beklommen, daß jemand in ihrer Gegenwart seine obskure Geburt so wohlgemut zugab; die Gescheiteren jedoch spürten gar wohl den ihrem Patrizierstolz ebenso bewußt sich entgegenstellenden Plebejerstolz aus dieser Rede heraus, so auch Dougaldine. Zugleich aber entging ihrem scharfen Geiste nicht, daß Almeneuer bei aller scheinbaren Selbstherabsetzung seines Ursprunges gar wohl verstanden hatte, seine Herkunft doch mit einem gewissen poetischen Schimmer zu bekleiden. Nicht die armselige Hütte hatte er vor die Phantasie seiner Zuhörer gebracht, sondern den luftigen Bergesgipfel und die Gefahr, die immer den Mann, der sich ihr aussetzt, mit einer Glorie umgibt. Wäre er wohl ebenso offenherzig gewesen, wenn er auf jenen Beisatz von Gebirgsromantik hätte verzichten und gestehen müssen, der nächste beste Flickschneider in einem dunkeln Hinterhause der Stadt sei sein Vater? Es überkam sie eine grausame Begier, die Probe sofort anzustellen, wozu sie das Mittel besaß, da sie von ihrem Bruder Amadeus gelegentlich Näheres über die dürftigen Umstände erfahren hatte, in denen Almeneuers Vater lebte.
Scheinbar mit dem Tone des Bedauerns fragte sie daher über den ganzen Tisch weg: »Und Ihr Vater, Herr Doktor? Setzt er sich noch immer einer so gefahrvollen Tätigkeit aus?«
Die Frage schwirrte wie ein Pfeil durch die Stille des Gemachs und der junge Mann empfand sie auch wie einen Pfeil, der zwar vom silbernen Bogen eines Mädchens abgesandt wurde, dem sein Herz huldigte, der aber doch ein erbarmungsloses Geschoß war.
Er erhob seine Blicke zu der schönen Fragerin, die in plötzlicher Verwirrung seinen Augen auswich. Dann sagte er ruhig: »Mein Vater hat daneben den Schuhmacherberuf gelernt, was ihm in den beschwerlichen Tagen seines Alters gut kommt. Er steigt nicht mehr auf die Berge.«
»Bravo!« sagte ganz leise vor sich hin der Staatsrechtsprofessor Gregor, der sich immer freute, wenn ein Mann in irgend einer Lage moralischen Mut zeigte.
Dougaldine bereute. Sie fühlte, daß sie den Gast, den geliebten Lehrer ihres Bruders unnötigerweise zu einer Selbstdemütigung herausgefordert hatte. Aber es tat ihr zugleich auch wohl, – sie wußte nicht recht warum, – daß er der Herausforderung nicht ausgewichen war und die Probe bestanden hatte.
Plötzlich ließ sich die Stimme des fremden Kavaliers zu ihrer Rechten vernehmen. »Da habe ich wohl die Ehre,« rief Herr Heinz von Heinzenstorff, »in dem Herr Doktor einen echten hierländischen Demokraten kennen zu lernen, was ich mir längst gewünscht habe.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er bei: »Sie denken gewiß ziemlich schlimm von Adelswappen und alten Stammbäumen?«
Das kam alles ziemlich unfein und provokatorisch hervor, so daß Dougaldine in ihrem Herzen die Taktlosigkeit des Fremden mit Ärger empfand. Indessen war sie zugleich sehr begierig zu vernehmen, wie Dr. Almeneuer es nun anfangen werde, ohne seine wahre Gesinnung zu verleugnen, doch das ihm bekannte Standesgefühl der anwesenden Herren zu schonen.
Der junge Gelehrte sah Herrn von Heinzenstorff, den seine Sprache deutlich genug als Ausländer kennzeichnete, scharf an und sagte dann: »Ich stelle mir vor, daß Sie diese Frage nicht stellen, um die zufällige individuelle Meinung eines Ihnen Unbekannten über Adel der Geburt zu vernehmen, sondern daß Sie wohl zu Ihrer Belehrung erfahren möchten, wie man hierzulande in demokratischen Kreisen über dergleichen denkt?«
»Das eine und das andere,« gab Heinz von Heinzenstorff zurück. »Mich interessiert auch Ihre persönliche Meinung, da Sie vorhin so scharf zu markieren beliebten, Sie selbst seien ein Sohn des Volkes.«
»Söhne des Volkes sind wir wohl alle,« antwortete lächelnd Dr. Almeneuer. »Das wäre schade, wenn es eine ganze Klasse gäbe, die sich von dem Begriffe ›Volk‹ ausschließen und dadurch ihrer Rechte am Ausbau des Staates sich begeben wollte.«
»Nun, Sie wissen schon, was ich mit ›Volk‹ sagen wollte,« erwiderte in nachlässigem, aber doch zugleich auch etwas gereizt klingendem Tone der Fremde.
»Ich weiß es,« sagte unerschütterlich Dr. Almeneuer, »ich weiß es, was Sie sagen wollen, aber ich lasse es nicht gelten.«
»Sie weichen mir aus,« versetzte eben so hartnäckig Heinz von Heinzenstorff, der eine instinktive Abneigung gegen den jungen Gelehrten empfand, über dessen Anwesenheit in solcher Gesellschaft er sich im stillen überhaupt wunderte. »Sie sollen uns als Demokrat, der Sie offenbar sind, einmal Ihre innerste Herzensmeinung über den Adel sagen. Das wird uns alle gewiß sehr interessieren.«
»Ja wohl! Ja wohl!« ließen sich einige Stimmen der Gäste vernehmen, während feiner Fühlende, unter ihnen vor allem der Hausherr, die Wendung bedauerten, welche die Unterhaltung genommen hatte.
»Aber ich fürchte zu langweilen,« warf Dr. Almeneuer ein und zauderte.
»Nein! nein!« hieß es wieder von mehreren Seiten. »Sie langweilen uns nicht.« Die Sprecher waren Herren, welche ahnten, daß eine Antwort auf solche Herausforderung in dieser Gesellschaft dem jungen Manne eine schwere Aufgabe zumute und die gleich Dougaldinen begierig waren, zu vernehmen, wie er dieselbe bewältige.
»Nun, meine Herren,« sagte Dr. Almeneuer, »da Sie es so wollen, so müssen Sie schon entschuldigen, wenn ich ein wenig in den dozierenden Ton verfalle und mit ›erstens‹, ›zweitens‹ und so weiter aufrücke. Ich habe also erstlich eine historische Wertschätzung für den Adel. Aber die entwickle ich hier nicht. Was einst die Ritterschaft für die Kultur der europäischen Völker zu bedeuten hatte, welche Blüte der Poesie, welche Veredlung der Sitten, welchen Schutz auch gegenüber der Tyrannei absoluter Monarchen man dem Adel des Mittelalters verdankt, das möchte ich am wenigsten in Gegenwart meines hochverehrten akademischen Lehrers auseinandersetzen,« – hier verbeugte er sich gegen Professor Gregor, – »da er es Ihnen viel schöner und besser sagen könnte. Auch wissen manche von Ihnen es wohl aus Ihren eigenen Familientraditionen, die Sie mit vollem Recht pflegen.« Er machte hier eine kleine Pause. Wohlwollende Blicke der sich geschmeichelt fühlenden Gäste ruhten auf ihm. Auch Dougaldinens Auge sah mit Wärme nach ihm hin.
»Nun ist aber eine andere Zeit gekommen,« fuhr Dr. Almeneuer fort. »Noch nicht für alle Völker, das gebe ich zu. Große monarchische Militärstaaten, am meisten der preußische – ja! ja! dieser Idealstaat des Junkertums viel mehr als Rußland – haben trotz dem auch dort in die Massen gedrungenen Geiste der französischen Revolution das Adelswesen beibehalten als einen Grundpfeiler der Monarchie und des Heeres. Vom Standpunkte der Erhaltung eines so beschaffenen Militärstaates würde auch ich, wenn ich dort an der Regierung wäre, den Adel in allen seinen Rechten so lange aufrecht erhalten, als es nur einigermaßen anginge; dies um so mehr, als z. B. der preußische Adel prächtige Geschlechter aufzuweisen hat, die sich durch Jahrhunderte bei aller Roheit ihrer Sitten, – das kann ich nicht verschweigen, – um das Land und um das Königtum sehr verdient gemacht haben. Ich mache kein Hehl daraus, daß ich prinzipiell das Aufhören aller Monarchien in Europa wünsche, weil die sozialen Ideale, von denen ich träume, in Monarchien von vornherein undurchführbar sind. Aber ich achte die Gegner, diese letzten Ritter, die uns der preußische Junkerstaat entgegenstellt, was mich übrigens nicht abhält, mir den einzelnen aus dieser Klasse erst wohl anzusehen, ehe ich ihm meine Achtung persönlich gewähre.« Heinz von Heinzenstorff zuckte nervös mit den Augenlidern, schwieg jedoch und Dr. Almeneuer fuhr fort: »Anders ist es in Staaten, wo, wie bei uns, das Prinzip der großen Revolution vollständig zur Durchführung gelangt ist. Daß die Vorrechte des Adels da alle erloschen sind, das wissen Sie so gut wie ich. Aber es ist noch mehr geschehen. Da sich der Adel seinem Wesen nach im Gegensatz befindet zur ganzen sozialen Entwicklung des Volkslebens eines solchen Landes, so ist er denjenigen, die ihn noch durch den Namen zur Schau tragen, mehr und mehr ein Hindernis geworden, das sie vom politischen Leben ausschließt, ohne daß darüber ein Gesetz zu bestehen braucht. Ich persönlich bedauere es, da so viele vortreffliche Elemente, die gemäß ihrer feineren Erziehung dem öffentlichen Leben jene gefälligen Formen geben könnten, die man oft schwer vermißt, hiedurch verloren gehen. Und das ist in unserer Stadt mehr der Fall als in andern Städten unseres Landes, indem in letzteren die alten Familien sich längst entschlossen haben, wenigstens das so viele Wähler kopfscheu machende und den Instinkten eines Teils des Volkes zuwidere Wörtchen ›von‹ abzulegen. Hier behält man es bei und ich sage gewiß nichts Verletzendes, sondern teile einfach eine Tatsache mit, wenn ich versichere, daß dieses ›von‹ bei uns nun meistens nur noch zu sagen hat, die Träger desselben seien von aller Teilnahme an der Leitung der Staatsgeschäfte wie von selbst ausgeschlossen. Daß selbst in der Stadtverwaltung Ähnliches sich vorbereitet, wissen Sie ebenfalls.«
Der Hausherr, der für seine Person längst nach dem soeben vorgetragenen Rate gehandelt hatte und niemals seinem Namen jenes Unterscheidungszeichen voranstellte, das auch ihm rechtlich zugestanden hätte, nickte beistimmend. Der alte Oberst aber, der neben Dougaldinen saß und jetzt endlich das angenehme Geschäft des Essens beendigt hatte, rief dem jungen Manne zu, indem er die einzelnen Worte mit asthmatischem Keuchen unterbrach: »Aber – zum Kuckuck – man hat doch – parpleu – eine gewisse Verpflichtung, einen schönen Namen – noblesse oblige – den man von den Vorfahren überkommen, intakt zu bewahren!«
»Ich könnte mir,« sagte Dr. Almeneuer, »eine Kultur solcher Traditionen innerhalb der Familie denken, ohne daß deshalb nach außen irgend welches Gepränge damit müßte getrieben werden. Ja, ich wünschte sogar, daß alle Familien, auch die von einfachster Herkunft, ihre Erinnerungen pflegen möchten. Die Chinesen möchte ich nicht in vielen Dingen als ein Vorbild für Kaukasier empfehlen. Aber die Pietät, mit welcher bei ihnen in jedem Hause der Ahnenkultus betrieben wird, ohne daß deshalb äußerer Prunk damit verbunden wäre, scheint mir unendlich wichtig für die sittliche Zucht im ganzen Volke. Da könnten wir Demokraten viel bei Ihnen lernen, meine Herren.«
Dieser artige Schluß stellte auch diejenigen zufrieden, welche mit einzelnen Aussprüchen des jungen Mannes in ihrem Herzen nicht ganz einverstanden waren. Nur Heinz von Heinzenstorff schien eine mehr oder weniger harmonische Erledigung des etwas riskierten Gesprächsthemas nicht zu wünschen und warf daher die Bemerkung hin: »Dergleichen paßt vielleicht auf hiesige Verhältnisse, die ich noch nicht kenne. Was sollten aber beispielsweise bei uns wir Adeligen treiben, wenn dereinst der Militärstaat, der, so Gott will zwar noch lange bestehen wird, sein Ende hätte?«
»Darauf ließe sich ja sehr viel antworten,« erwiderte, etwas gereizt durch die immer wieder ansetzenden lästigen Fragen des ihm unsympathischen Fremden der Hauslehrer. »Adeligen Ihres Landes, wenn sie etwas gelernt haben, stehen so gut und wohl noch besser als anderen Leuten alle Wege zur Betätigung ihrer Talente offen. Indessen hat ein berühmter deutscher Theologieprofessor, der große Ethiker Richard Rothe, seiner Zeit diese Frage in dem Hauptwerke seines Lebens etwas eigentümlich, man möchte fast sagen satirisch, dahin beantwortet, daß Adelige vermöge ihrer feineren Erziehung, und da ihnen der Umgangston für die Konversation und gefälliges Benehmen selbst in der Körperhaltung durch Abstammung schon eigentümlich sei, vornehmlich berufen seien, treffliche Schauspieler zu werden.« Heinz von Heinzenstorff erblaßte vor Zorn. Dr. Almeneuer aber fuhr ruhig fort: »Das, wie bemerkt, sagt Richard Rothe; ich sage es nicht, weil ich jene Verhältnisse nicht genugsam kenne. Für unser Land gilt es nicht, wo, was immer für sonstige Unterschiede zwischen Leuten höherer Geburt und der übrigen Bevölkerung bestehen mögen, das Talent für das Theater überhaupt nicht sehr verbreitet ist.«
»Und denken Sie,« fuhr Heinz von Heinzenstorff in seinem Aerger heraus, »doch habe ich gerade Sie, mein Herr, als wir gemeinsam das Haus betraten, für einen Schauspieler gehalten.«
»Doch hoffentlich für einen, der kein Stichwort schuldig bleibt,« warf der junge Mann hin, indem er sich nicht bemühte, ein verächtliches Lächeln zu verbergen.
Schon vorher war der Kaffee hereingetragen worden und Dougaldine hatte noch die Tassen eingeschenkt. Jetzt erhob sie sich, während die Zigarren herumgeboten wurden, und sprach die Hoffnung aus, die Herren später im Salon wieder zu sehen. Eine Verneigung und sie verschwand.
Die Unterhaltung wandte sich mit dem Weggang der Dame andern, gleichgültigeren Dingen zu, so daß es beinahe den Anschein hatte, als ob die Gegenwart Dougaldinens, etwa wie einst im Turnier die Gegenwart einer Fürstin, der die Kämpen huldigten, diesem Wortgefechte seinen eigentlichen Reiz gegeben. Vor ihr hatte Heinz von Heinzenstorff den jungen Gelehrten demütigen wollen und dieser wiederum wäre vielleicht dem Gespräch ausgewichen oder hätte es mit kürzeren Antworten rascher beendigt, wenn er nicht gefühlt hätte, wie ihre Blicke an seinen Lippen hingen.
Sie war jetzt allein im Salon, wo sie auf den Teppichen, die ihren Schritt lautlos machten, unruhig auf und ab ging. Das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte, war geschehen. Der plebejische Eindringling hatte sich als ein Mann von rechtem Herzenstakt ausgewiesen; wenn Unpassendes war gesprochen worden, so war es von andern geschehen. Ihn hatte man herausgefordert, und auf dem glatten Terrain, unter besonders verfänglichen Umständen, hatte er sich mit ruhiger Sicherheit bewegt, die er seiner Bildung und seinem männlich festen Charakter verdankte. Nicht mit einer Silbe hatte er seine niedere Herkunft, noch seine demokratischen Grundsätze verleugnet, und hatte anderseits die Standesgefühle der Anwesenden geschont, einen einzigen ausgenommen, der aber die erhaltene Zurechtweisung wohl verdiente. Wäre er doch einer der unsern! sagte sich Dougaldine mit einem Seufzer, über den sie ebenso erschrak wie über den Gedanken selbst, der ihn veranlaßt hatte. Dann, diesen Gedanken festhaltend, fragte sie sich: Und wenn er einer der unsern wäre? Und in ihrem Herzen tönte die Antwort: Dann würde ich ihn lieben! So aber – nie! nie! … Und sie verbarg die in ihrem Antlitz aufsteigende Röte mit den Händen. Still saß sie da, unbeweglich in einen Lehnstuhl am Kamin geschmiegt, während von drüben ein dumpfes Gewirr der Männerstimmen und zuweilen auch fröhliches Lachen herübertönte.
Als später die Herren in den Salon traten, geschah es nur noch, um sich von der Tochter des Hauses zu verabschieden. Mit überschwänglicher Artigkeit tat dies Heinz von Heinzenstorff; sie durfte ihm die Hand nicht weigern zum Handkusse, der bei ihm zu Hause Sitte war. Ganz zuletzt von allen trat auch der Hauslehrer vor sie hin. Der Gute-Nacht-Gruß, den er murmelte, klang fast unverständlich. Aber indem sie ihm in die Augen blickte, las sie in denselben eine Mischung von bewundernder Huldigung und wehmütigem Ernst, die mehr sagte als ein Handkuß und ihr lange zu denken gab, ehe sie in jener Nacht die Augen zum Schlummer schloß.