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V

Die nächsten vierzehn Tage nach der kleinen Soirée bei Herrn Fininger brachten in den Verhältnissen Dougaldinens zu Dr. Almeneuer keine äußere Veränderung. Wie bisher kam er früh morgens ins Haus, erteilte den immer mit gleicher Begeisterung an seinem Munde hängenden Amadeus die Unterrichtsstunden, nahm wohl auch ab und zu seinen Zögling auf einen Spaziergang mit, um ihm, beim Frühlingserwachen der Natur, so viele kleine Wunder zu weisen, die Kopf und Herz eines Kindes ganz anders beschäftigen, wenn sie in Wald und Feld dem stauenden Auge sich darstellen, als wenn sie nur im Buche berichtet werden. Aber mit Dougaldine traf er niemals zusammen.

Als der April zu Ende ging, der diesmal reich war an schönen sonnigen Tagen, so daß schon überall das junge Grün der Buchenwälder den nahen Sommer verkündigte, da traf die Familie ernstliche Vorbereitungen zu ihrem Umzug auf das Landgut, das sie am Ufer des Sees besaß, dessen Wasserspiegel den hohen Gebirgen des Landes ihr Bild zurückgibt. Alljährlich wurde dieser Umzug so früh bewerkstelligt, als die Witterungsverhältnisse dies erlaubten. Herr Fininger wünschte dies so, da ihm die Gesundheit seiner Kinder über alles ging; er selbst freilich beraubte sich hiedurch ihrer Gesellschaft. Denn ihm gestatteten die ausgebreiteten Geschäfte seines Hauses nur einen beschränkten Genuß des Landlebens. Wohl konnte er es meistens so einrichten, daß er auf den Abend mit Benützung eines Bahnzuges aus der Stadt anlangte und wenigstens die Nacht bei den Seinigen zubrachte; auch über den Sonnabend und Sonntag freute er sich mit ihnen des köstlichen Friedens, den jene Besitzung am See seinem Gemüt gewährte. Im übrigen war seine Zeit ausgefüllt durch die Arbeit, die ihn in der Stadt festhielt, und Dougaldine wäre auf dem Landgut sehr einsam gewesen, hätte nicht eine Tante, eine unvermählte Schwester ihres Vaters, alljährlich seit dem Tode der Mutter Dougaldinens den Landaufenthalt mit der Familie geteilt. Sie war allerdings eine etwas stille Gesellschafterin, aber nicht von jener Stille, die Eiseskälte um sich herum verbreitet, sondern von jener wohltuenden Schweigsamkeit, von jener sanften Geräuschlosigkeit, die verständigen Menschen angenehm ist. Mit dem heitern Ausdruck einer zur innerer Harmonie gestimmten Seele pflegte sie neben Dougaldine ruhig die kleinen Hausgeschäfte zu verrichten, welche die Aufsicht des großen Landgutes und der zahlreichen Dienstboten mit sich brachte, und niemals hatten Tante und Nichte das Gefühl der langen Weile, auch wenn sie mit einer Handarbeit beschäftigt, ohne viel Worte einen ganzen Vormittag lang unter den Platanen unten am See saßen, wo der leise Luftzug im Uferschilf die Halme bewegte und die Welle zu ihren Füßen plätschernd anschlug. Freilich wurde dieses Stillleben durch häufige Besuche der Freundinnen Dougaldinens oder durch die Gäste unterbrochen, die der Vater zuweilen mitbrachte. Und manchmal klirrten sogar Sporen und nachschleppende Säbel auf den Kieswegen des Landgutes; denn das am untern Ende des Sees gelegene Städtchen erfreute sich seit Jahren einer großen Militärschule, die natürlich auch von männlichen Verwandten und Freunden des Fininger'schen Hauses besucht wurde, die dann gern ein paar Stunden knappen Urlaubes auf dem Landgute zubrachten und in ihren Offiziersuniformen vor der schönen jungen Herrin des Hauses jene Koketterie entfalteten, die auch Männer sich gestatten, wenn sie in zweierlei Tuch stecken. Man konnte sich eigentlich wundern, daß von diesen kriegerischen Herren, unter denen einige auch nähere oder entferntere Vettern Dougaldinens waren, noch keiner die Eroberung des Fräuleins ernstlich versucht hatte. Zweierlei indessen hielt sie zurück, erstlich ein feines, man darf beinahe sagen spöttisches Lächeln, das für ihren Geschmack etwas zu häufig um Dougaldinens Mund schwebte, wenn sie mit diesen jungen Söhnen des Mars sich unterhielt. Dieses Lächeln – ihnen schuf es ein gewisses Unbehagen; es schien eine geistige Überlegenheit der Dame anzudeuten, und im Herzen der Herren war eine Stimme, die diesen Anspruch auf Überlegenheit als einen berechtigten anerkennen mußte. Sodann aber hatten viele dieser jungen Männer die nicht nur in höheren Gesellschaftskreisen, dort allerdings aber am meisten verbreitete Ansicht, daß man die Ehe so lange als möglich hinausschieben müsse. Ein Kavalier ihres Standes sollte heiraten, so lange noch die Haare auf dem Scheitel keine Lichtung aufwiesen? Man mußte doch erst das Junggesellenleben ein wenig in größerem Stil genossen haben, als das in der Vaterstadt möglich war. Ein Jahr in Paris, vielleicht eines in London oder gar eine große Weltreise, allenfalls auch ein vorübergehender Volontärdienst in einer fremden Armee – das waren Dinge, die man abgetan haben mußte, ehe man den häuslichen Herd gründete. Darum beschränkte sich der Verkehr dieser Herren auch der begehrenswertesten Partie gegenüber einstweilen auf nichtssagende Galanterien, und Dougaldine, die das artige, aber seichte Geplätscher einer derartigen Unterhaltung auf seinen Wert hin genau zu würdigen wußte, war mit ihren Vettern und deren Freunden so heiter und freundlich, wie es diese meist schmucken und guten Jungen verdienten, fühlte aber für keinen von ihnen etwas von jener tiefen Herzensneigung, die über ein Lebensschicksal entscheidet. Wenn dann nach solchem Besuche, der meist auf Sonntage fiel, die Gäste sich wieder entfernten, dann gab sich Dougaldine mit ihrer stillen Tante der eintretenden Ruhe doppelt gern hin.

In dem nun anhebenden Sommer sollte es anders werden. Amadeus, der, solange er die öffentliche Schule besuchte, nur einen Teil des Sommers auf dem Landgute hatte zubringen können, durfte nun gleich von Anfang an mitziehen, da Herr Fininger schon bei der ersten Unterredung, nachdem er Dr. Almeneuers Wert als Hauslehrer und Erzieher des Sohnes erkannt, diesem das Anerbieten gemacht hatte, den Zögling auf das Land zu begleiten. Und Dr. Almeneuer hatte damals zugesagt. Die Einladung war bei jener Soirée wiederholt worden; allerdings hatte diesmal der junge Gelehrte mit der Antwort gezögert und etwas von Studien gemurmelt, zu denen er die Bibliothek der Hochschule notwendig habe. Aber Herr Fininger war gleich dazwischen gefahren mit den Worten: »Das ist ja längst ausgemacht, wie Sie sich erinnern werden. Und die Bücher, die Sie zu Ihren Privatstudien brauchen, können Sie sich gewiß alle kommen lassen. und werden dort in der ländlichen Stille viel besser studieren als in der Stadt.« Der junge Mann, der diesen Einwand nur vorgeschützt, weil er einen andern geheimen Abhaltungsgrund nicht nennen durfte, widerstrebte nicht länger, obschon er sich innerlich der Schwäche zieh. Was ihn abhielt, einer Einladung freudig zu folgen, die ihn doch in gewisser Hinsicht so sehr beglückte, war die vorahnende Furcht vor einem bittern Leid, das seinem Herzen gewiß sei, wenn er nun täglich in der Nähe Dougaldinens leben und mit jedem Tage tiefer in eine leidenschaftliche Liebe zu ihr sich verstricken werde. Diese Liebe – wohin konnte sie führen? Wohl gab es Augenblicke, wo er an Gegenliebe Dougaldinens und an die Möglichkeit glaubte, allen Widerstand der äußeren Verhältnisse besiegen zu können. Aber dann wieder gestand er sich die Torheit solcher Hoffnungen. In dieser jungen Patrizierin lebten neben einander zwei Mächte, – ein guter sanfter Geist echt weiblicher Hingebung, der sie zu einem Wesen machte, das durch Liebe einen Mann unsagbar beglücken konnte; doch da lebte auch ein Dämon des Stolzes, um so mächtiger in diesem Falle, wo sich dem Standesbewußtsein das edle jungfräuliche Gefühl gesellte, das sich gegen die ersten Fesseln sträubt, die Liebe ihm auferlegen will. Und dann – das hatte er ja bereits erprobt – dieses ihr Standesbewußtsein war bei ihr nicht gewöhnliche Eitelkeit auf ihre Geburt. Es war Überlegung dabei. Dieses junge Mädchen hatte über derartige Dinge nachgedacht und glaubte mit voller Überzeugung an den sittlichen Wert adeliger Abstammung. Sicherlich empfand sie auch alle die Verpflichtungen, die ihr durch eine solche grundsätzliche Würdigung des Geburtsadels auferlegt wurden. Und sie hatte ohne Zweifel die Seelenstärke, ja, wenn nötig, die Härte und Grausamkeit, sich und andere ihrem Prinzip zu opfern. Das alles gestand sich Dr. Almeneuer und schalt sich einen kopflos ins Unglück Rennenden, daß er sich gleichwohl in die gefährliche Nähe dieses Mädchen wagte. Aber der Zug zu ihr hin – mochte geschehen, was da wolle – war stärker als seine Überlegung, und so hatte er an jenem Abend zum zweitenmal eingewilligt, seinen Zögling auf das Landgut zu begleiten.

Dougaldine ihrerseits, wenn es noch möglich gewesen wäre, würde diese vom Vater getroffene Einrichtung hintertrieben haben; dies vollends seit jenem Gesellschaftsabend, wo sie, einsam im Salon träumend, den Zustand ihres Herzens endlich erkannt hatte. Aber welchen annehmbaren Grund einer Auflösung des Verhältnisses zwischen Lehrer und Zögling hätte sie ihrem Vater nennen können? Sie hätte geradezu gestehen müssen, daß sie sich vor ihrem eigenen Herzen fürchte. Und ein solches Geständnis, das sie kaum sich selbst in verschwiegener schlummerloser Nacht zu machen wagte, wäre niemals über ihre Lippen gekommen. Dann fühlte sie auch, welches Unrecht sie begehen würde, wenn sie dem Bruder alle die Vorteile entzöge, die ihm der Unterricht eines Erziehers gewährte, an dem seine junge Seele mit solcher Hingebung hing. Sollte um ihrer Schwachheit willen Amadeus zu Schaden kommen? Nein! da hieß es eben, stark sein, sich wappnen zum Kampfe mit ihrer Neigung. Und – wer weiß! – vielleicht entdeckte sie bei näherem Zusammenleben mit dem jungen Gelehrten Charakterzüge oder sonstige Eigentümlichkeiten in seinem Wesen, die ihr mißfielen und eher dazu beitragen konnten, das ideale Bild zu zerstören, das nun bereits Kraft in ihr gewonnen hatte, wenn sie an ihn dachte. Freilich – bei der Einladung zu jener Gesellschaft war auch gerade dieser Gedanke ein Hauptmotiv gewesen, und doch war gerade das Gegenteil von dem geschehen, was sie erwartet hatte. Es war also ein gefährlicher Versuch, den sie noch einmal und in viel ausgedehnterer Weise anstellte. Aber, da nun einmal ihr freier Wille dabei nicht mehr in Frage kam, da dieser Versuch ihr durch die Umstände aufgedrängt wurde, so sollte alles seinen Lauf nehmen, wie es der Vater angeordnet hatte. Und endlich, in der verborgensten Tiefe dieser Dornhecke von fast feindseligen Anschlägen und Gedanken über ihr Verhältnis zu Dr. Almeneuer zwitscherte ganz leise, so daß sie selbst es kaum ahnte, ein Singvögelchen das Lied der Liebessehnsucht, und hoffnungsvolle Rosenknöspchen horchten auf dieses Lied. Ein Mädchenherz ist ein Labyrinth. Wer kennt alle seine Wege! Dougaldine glaubte unglücklich zu sein über den Zwang des bevorstehenden Zusammenlebens mit dem Manne, der ihre Gedanken erfüllte; sie redete sich ein, daß sie mit Verdruß die Unmöglichkeit erwäge, diesem Zwang auszuweichen, und dabei war alle die Tage, da sie den Umzug aufs Land vorbereitete, in ihrer Seele ein Gefühl von Glück und auf ihrem lieblichen Antlitz eine strahlende Heiterkeit, als ob der Frühling, der das Land mit seinen Reizen schmückte, ihr diesmal etwas ganz Besonderes schenken sollte. Herr Fininger, der diese erhöhte Stimmung seiner Tochter wohl bemerkte, freute sich darüber und fand sich bestärkt in seiner Meinung, daß das Landleben schon durch den frohen Vorgenuß seiner bevorstehenden Freuden günstig einwirke.

Am festgesetzten Tage reiste die Familie in dem bequemen Landauer, den zwei feurige Rosse zogen, nach dem etwa sechs Fahrstunden von der Stadt entfernten Landgute ab. Da dasselbe allen Hausrat besaß, der für eine bequeme Sommerhaushaltung genügte, wurden nur wenige Koffer und Kisten auf einem besondern Spannwagen, der schon am frühesten Morgen abgefahren war, nach »Seeport« geführt, wie das Landgut hieß. Die Eisenbahn, die bis zu dem am untern Ende des Sees gelegenen Städtchen ging, wurde für diesen Umzug niemals benutzt. Im Wagen befanden sich Dougaldine, ihre Tante und ihnen gegenüber Herr Fininger mit Amadeus. Man hatte auch Dr. Almeneuer einen Platz angeboten und Amadeus würde sich in diesem Falle gern neben den Kutscher gesetzt haben. Aber der junge Mann, der noch in der Stadt einiges zu erledigen hatte, versprach gegen Abend mit der Eisenbahn nachkommen und sich vom Städtchen aus nach »Seeport« hinüber rudern zu lassen. Ihn hielt besonders ein Stelldichein zurück, das er einem aus Argentinien heimgekehrten ehemaligen Studienfreunde hatte bewilligen müssen. Dieser hatte in jenem fernen Weltteil die Stellung eines Lehrers an einer öffentlichen Unterrichtsanstalt bekleidet, war jedoch genötigt gewesen, sein Amt niederzulegen, da seiner etwas schwächlichen Gesundheit das Klima nicht zusagte. So sehr aber hatte er zur Zufriedenheit der dortigen Regierung gewirkt, daß dieselbe ihm freie Hand ließ, nach der Rückkehr in die Heimat einen Ersatzmann auszusuchen, der jenen gut besoldeten Posten übernehmen könnte. Wen immer er senden würde, der Betreffende würde gut aufgenommen sein; denn man verließ sich mit vollem Vertrauen darauf, daß der bisherige Inhaber der Stelle eine geschickte Wahl treffen werde. Nun konnte dieser sich keine geeignetere Persönlichkeit für diese Stelle denken als seinen einstigen Freund Hans Almeneuer, der mit allen geistigen Vorzügen auch die wesentliche Bedingung einer eisernen Gesundheit vereinigte. Er hatte ihn deshalb zu einer Besprechung eingeladen, die auf der Terrasse des größten Gasthofes der Stadt und angesichts des in vollem Sonnenglanz daliegenden fernen Schneegebirges stattfand.

»Es ist schwer,« sagte der Argentinier, nachdem er dem Freunde alle Vorteile der Stellung beschrieben, aber auch gewisse Schattenseiten nicht verschwiegen hatte, »es ist schwer, dir gerade an diesem Orte, wo alle Herrlichkeit unseres Landes einem zuzurufen scheint: Bleibe in der Heimat, dich zur Übernahme einer Stellung zu überreden, die dich auf Jahre hinaus von diesen Bergen trennt. Aber wenn du bedenkst, welch ein Glücksfall es doch eigentlich für einen jungen, gesunden, unternehmungslustigen Mann ist, am Ende seiner Studienzeit Gelegenheit zu erhalten, die weite Welt zu sehen und für alle Zukunft einen Schatz wundersamer Lebenserfahrungen zu sammeln, dies in ehrenvollem und vorzüglich bezahltem Amte, dann solltest du, finde ich, doch zugreifen.«

Dr. Almeneuer schwieg. Er ließ den Blick zu den noch im winterlichen Kleide schimmernden Bergen hinüberschweifen. Dort, rechts, sah er auch den Gipfel, an dessen Fuß im Hochtal droben das Dörfchen lag, wo noch sein Vater in bescheidener Hütte lebte. Dann zeigte sich ihm in der perspektivischen Verschiebung der Fernsicht, unterhalb dieses hohen Gipfels vorgelagert, die weithin sichtbare Pyramide eines näheren, niedrigeren Berges. An ihm blieb Almeneuers Blick länger haften. Zu Füßen dieses Berges, der sein Haupt im See spiegelte, lag jenes Landgut, dem jetzt, während sie beide hier saßen, der Wagen entgegenrollte, der Wagen, der Dougaldine auf das Besitztum der Fininger'schen Familie führte. Drüben links auf der Landstraße erhob sich, vom Ostwind des frühen Vormittags aufgewühlt, eine leichte Staubsäule, und der junge Mann bildete sich ein, dort fahre der Wagen, in dem auch für ihn ein Platz war vorgesehen worden.

»Nun?« fragte der Freund, als Almeneuer ganz in Träumen zu versinken schien.

»Ich kann dir heute die Antwort nicht geben,« sprach er endlich.

»Es ist auch nicht notwendig,« versicherte der Freund. »Wenn du mir nur gestattest, einstweilen an meine Auftraggeber zu schreiben, daß ich Aussicht habe, einen geeigneten Mann ihnen zu senden, so genügt dies. Die Stelle braucht vor dem Herbst nicht angetreten zu werden.«

»Bis dahin weiß ich es längst,« versetzte Almeneuer und ein schwermütiger Ausdruck lagerte auf seinen Zügen.

Der Freund, der ihn aufmerksam von der Seite betrachtete, begann zu ahnen, daß hier ein Herzensgeheimnis mit im Spiele sei. Er drang nicht weiter in den jungen Gelehrten. Sie speisten noch gemeinschaftlich, wobei der Argentinier von seinen Reiseerlebnissen erzählte, während Almeneuer meist schweigend zuhörte. Dann trennten sie sich und der Hauslehrer nahm den zweiten Nachmittagszug, um noch vor Nacht, wie er versprochen hatte, in »Seeport« einzutreffen.

Es war ein unbeschreiblich lieblicher Frühlingsabend, als Almeneuer nach anderthalbstündiger Fahrt den Bahnzug, der bis über das Städtchen hinaus an das Ufer des Sees ging, mit elastischem Sprung verließ und, seinen Handkoffer tragend, den nächsten Schiffer anrief, der ihn auf leichter Barke noch über den See hinüberfahren sollte. An blühenden Gärten schwebte der Kahn vorüber, stolze Schlösser ragten über herrlichen Baumgruppen, oder grüßten von einsamen Hügeln. Dann entfernte sich das kleine Schiff vom Ufer und gewann allmählig die Breite des Sees, wo dann mit jedem neuen Ruderschlage die vorspringenden Landzungen und Ortschaften am obern Ende des Sees in den Bereich der bewundernden Blicke des jungen Mannes traten. Wie lange war er nicht mehr dagewesen! Über den Studien in der Stadt hatte er alle diese Herrlichkeiten der heimatlichen Natur vergessen können. In den ersten Jahren zwar war er öfter in Ferien auf Besuch nach Hause gegangen und dann allerdings auf dem Dampfboot über den See gefahren bis zu jener Station, von wo die Straße steil anhub, die in etwa sechs Stunden zu seinem heimatlichen Bergdorfe hinanführte. Aber in den letzten Jahren hatte er nur brieflich mit seinem alten Vater verkehrt und ihm die Sohnesliebe nur dadurch bewiesen, daß er von Zeit zu Zeit ihm kleine Geldsendungen zukommen ließ, die er mühsam vom Munde sich absparte. Er nahm sich fest vor, da er nun den Sommer hier am See verleben sollte, sobald es irgendwie angehe, den Vater einmal mit seinem Besuche zu überraschen. Dann, indem er dessen Armut und seine eigene Mittellosigkeit bedachte, fühlte er sich plötzlich von einem Widerwillen gegen diesen ewigen Kampf mit den ärmlichen Verhältnissen übernommen und der Wunsch nach einer sorgenfreien Existenz, nach einträglicher Lebensstellung, die ihm auch eine ausgiebigere Unterstützung des Vater gestatten würde, stieg in ihm empor. Die außerordentlich hohe Summe, welche mit der ihm angetragenen Stellung an jener Lehranstalt in Argentinien verbunden war, hatte für ihn etwas Lockendes. Von gemeiner Geldgier war ja nichts in ihm. Aber nach so manchem Jahre bittern Darbens, nach einer mühevollen Jugend, wo täglich die materiellen Sorgen ihm das Ringen nach hohen, idealen Zielen erschwert hatten, war der Wunsch nach einem glänzenden Einkommen in geachteter Stellung ein gewiß berechtigter.

Zwar auch als Hauslehrer konnte er Ersparnisse zurücklegen; die Freigebigkeit Herrn Finingers war ihm in wahrhaft überraschender Weise entgegengekommen. Aber deutlich erinnerte er sich, wie eine Röte in seinem Antlitz aufgestiegen war, obwohl er sich ganz allein auf seinem Zimmer befand, als ihm durch die Post vor wenigen Tagen das Honorar für den ersten Monat zugegangen war. Er wußte dem Zartgefühl Herrn Finingers Dank, daß ihm derselbe das Geld nicht etwa in die Hand gedrückt hatte; dennoch – diese Goldstücke schienen ihm zu glühen und er hatte, so viel er davon entbehren konnte, alsobald seinem Vater geschickt, nur um dies Geld los zu sein das ihn beschämte. Denn ihm kam vor, als habe er seinen Lohn schon dahin durch alle die himmlischen Gefühle, die ihm das Bewußtsein der Nähe Dougaldinens wachrief. War es ihm auch bis jetzt erst zweimal vergönnt gewesen, ihr selbst näher zu treten, so hatte doch schon die Beziehung zu ihrem Familienkreise seinem Herzen täglich Nahrung gewährt, und bestund diese Nahrung auch nicht in deutlichen Hoffnungen oder in Phantasiegebilden einer glücklichen Zukunft, war sie sogar mit recht bittern Elementen der Zurücksetzung, der Demütigung gemischt, sie war doch seine Seelenspeise geworden, so daß ihm der Gedanke, zu alle dem noch vom Vater Dougaldinens in Geld bezahlt zu werden, ein peinlicher wurde. Hätte er wenigstens offen um sie dienen dürfen wie einst Erzvater Jakob um Rahel! Aber so lagen für ihn die Verhältnisse nicht. Und es mischte sich daher in die verschiedenen Zweifel, die sein Gemüt bewegten, auch die bange Frage, ob er nicht sogar den Vater Dougaldinens betrüge, indem er in dieses Haus nun einziehe mit Gedanken, die zwar noch fern waren von Ansprüchen oder auch nur bestimmten Hoffnungen auf die Hand der Tochter, aber doch erfüllt von dem Liebreize des vornehmen Mädchens.

Ich werde strenge gegen mich sein – so schloß er endlich das stille Selbstgespräch, das er mit sich führte, während der Nachen über die Fläche des Sees dahinglitt. Kein Wort, kein Blick soll verraten, wie es mir ums Herz ist. Aber wenn mir die Gottheit das unaussprechliche Glück sollte vorbehalten haben, daß dieses Mädchen, dem ich nicht gleichgültig bin, in Liebe sich mir zuwenden müßte, wenn sie selbst mir entgegenkäme, wenn ich inne würde, daß ich zu ihrem Glück notwendig bin, dann allerdings, dann dürfte ich eingestehen, wie es mir ums Herz ist, und dann würde ich kein Unrecht begehen, wenn ich sie und mich in den Kampf mit allen den Mächten verwickelte, die einem solchen Bunde sich natürlich entgegenstellen würden. Doch wenn es anders kommt, wenn ich mich täusche, wenn das, was ich für erwachende Neigung halte, bei ihr nur ein flüchtiges Interesse ist, dem ihr Stolz kein langes Leben gestattet, – dann freilich, dann fort, fort, so weit es möglich ist, fort ans andere Ende der Welt, um zu vergessen, wenn es … ein Vergessen gibt!

»Dougaldine! Dougaldine! Das ist Herr Dr. Almeneuer!« Diese Worte schwebten plötzlich wie von Geisterlippen gesprochen über den Wasserspiegel und weckten den jungen Mann aus seinen Betrachtungen und Zukunftsträumen. Aber wer hatte sie gesprochen? Es war unverkennbar die Stimme seines Zöglings gewesen. Doch wo befand sich dieser? Ziemlich fern, am Ufer, dem der Nachen zustrebte, fuhr eine leichte Schaluppe. Von dort allein konnte die Stimme ausgegangen sein. Und wirklich, – in jener Schaluppe saßen zwei Personen, ein rudernder Knabe und, am Steuer, eine Frauengestalt. Aus der großen Entfernung, welche die beiden Schiffe noch trennte, hatte das scharfe, gesunde Auge des Knaben den geliebten Lehrer erkannt. Wunderbar aber kam es letzterem vor, daß er über den weiten Zwischenraum noch die Worte so deutlich hatte vernehmen können. Er hatte niemals Gelegenheit gehabt, zu erfahren, wie unglaublich weit auf dem Wasser der Schall sich noch vernehmbar fortpflanzt.

Schon wollte Hans Almeneuer sich von seinem Sitze erheben, den Hut schwenken und das andere Schifflein begrüßen, als abermals von dort Worte herüberschallten: »Aber Dougaldine! Du mußt ja Backbord steuern und hältst fortwährend Steuerbord! So können wir nicht zusammentreffen.«

Wenn die nautische Sprache, deren der kleine Seefahrer sich bediente, seinem Lehrer ein Lächeln abzwang, so verschwand dasselbe jedoch alsobald vor der Spannung, mit der er jetzt den Kurs der Schaluppe beobachtete. Derselbe blieb stetig derselbe. Noch einmal rief der Knabe: »Backbord, sage ich! Backbord! Und du ziehst immer mit dem rechten Arm! Das ist ja Steuerbord!« Aber das Schifflein fuhr in der bisherigen Richtung, die jedes Zusammentreffen vereiteln mußte, ruhig weiter. Und nun war etwas wie flüsternde Laute einer Mädchenstimme über den weichen Wasserspiegel geschwebt. Dougaldine mußte dem Bruder etwas gesagt haben; was – das konnte der Lauscher nicht verstehen. Nur sah er, daß jetzt Amadeus mit einer gewissen Heftigkeit die Ruder ins Wasser schlug, so daß unter ihren biegsamen Schaufeln ein kleiner Wellenschwall entstund. Es schien, daß er sich einer bestimmten Weisung der Schwester nur mit Unmut fügte, aber doch gehorchte er und die Schaluppe flog weiter hinaus in den See, einen rechten Winkel bildend zu dem Kahn, der mittlerweile dem Hafen des Landgutes sehr nahe gekommen war.

Sie hat die Begegnung nicht gewollt – sagte sich, schmerzlich betroffen, der junge Mann. Das wäre, hier auf dem Wasser, schon zu wenig förmlich, zu ungezwungen gewesen. Amadeus hätte mich wohl gar in die andere Schaluppe hinübernehmen wollen. Dem ist sie ausgewichen. Wohlan! auch ich werde mich streng in allen Schranken kühler Zurückhaltung bewegen.

Zwei Minuten später drehte der schwarzbärtige Schiffer, der infolge einer Erkältung bei seinem Berufe auf dem feuchten Element vor Jahren das Gehör beinahe verloren und daher jene Rufe vom andern Schiffe nicht vernommen hatte, seine leichte, aus Tannenholz gebaute kiellose Barke mit mächtigem Ruck herum, so daß das hintere Ende derselben mit leichter Erschütterung im Sande des seichten Strandes anstieß. Man war zur Stelle. Hans Almeneuer schwang sich aus dem Schiffe, der Fährmann reichte ihm seinen kleinen Koffer hinaus, nahm die vorher bedungene Bezahlung entgegen und stieß alsobald wieder vom Lande ab. Nach wenigen kräftigen Zügen mit den weit ausgreifenden Rudern schwebte er schon wieder über den Spiegel dahin, in dem der Himmel mit all seiner Abendglut ruhte.

Hans Almeneuer zögerte einen Augenblick am Strande. Unwillkürlich heftete sich sein Blick auf die kleine Schaluppe, die noch immer nicht Miene machte, ihren Kurs zu ändern. Ein bitteres Gefühl beschlich ihn darob. Ob sie wohl bedacht hat, – so fragte er sich, – daß ich den Ausruf ihres Bruders vernommen, daß es mir also bekannt ist, meine Ankunft sei ihr nicht fremd? – Er glaubte dies und grollte dem Mädchen. Doch tat er ihr mit dieser seiner Voraussetzung Unrecht. Sie hoffte wirklich, der junge Mann möchte auf die noch beträchtliche Entfernung die Worte seines Zöglings nicht gehört haben. Hätte sie gewußt, daß es sich anders verhielt, so würde schon ihre Höflichkeit sie veranlaßt haben, den Ankömmling zu begrüßen. So aber hatte sie den Bruder beschwichtigt mit der Bemerkung, daß ein Übersteigen von einem Kahn in den andern auf dem See zu gefährlich sein dürfte und daß man daher lieber Herrn Almeneuer wolle allein ankommen lassen. Und – siehe! – jetzt endlich ließ sie die Schaluppe einen mächtigen Kreisbogen beschreiben und dann strebte das elegante Fahrzeug dem Ufer zu, das es vielleicht schon in fünf Minuten erreichen konnte. Sollte er warten? Nein! Nun konnte auch er ignorieren, wer dort im Schiffe saß. Kurz entschlossen wandte er dem See den Rücken und, nur einen flüchtigen Blick auf die lieblichen Uferanlagen werfend, die den Landungsplatz schmückten, ging er auf dem breiten, kiesbestreuten Wege durch eine Allee hoher Platanen und im Abendwinde flüsternder Silberpappeln dem Landhause zu, das sich als ein stattlicher Bau aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts aus einem kleinen Hügel seinen Blicken darbot. Bruno, der Hühnerhund, kam mit zornigem Bellen von der Freitreppe des Hauses dem Ankömmling entgegengelaufen. Aber das feindliche Betragen des Hundes verwandelte sich in schmeichelnde Freundlichkeit, sobald das Tier den Hauslehrer erkannt hatte, zu dessen Füßen es zuweilen während den Unterrichtsstunden des Knaben zu liegen pflegte. Die Begrüßung des Hundes tat dem jungen Manne wohl. Hier ist noch einfache Ehrlichkeit und Eingeständnis des natürlichen Gefühls, sagte er, indem er den Kopf des Hundes streichelte und in die treuen braunen Augen des Tieres blickte.

Indessen sollte er sich auch über die Menschen nicht zu beklagen haben. Denn, da das Gebell Brunos zuerst Herrn Fininger und dann auch dessen Schwester, Fräulein Martha, auf die Terrasse vor dem Salon gelockt hatte, stieg ersterer jetzt, da er den Ankömmling erkannt, eilig die Stufen der Freitreppe hinab, um den Lehrer seines Sohnes herzlich willkommen zu heißen, während Fräulein Martha sich beeilte, der soeben den Tisch zum Abendbrot deckenden Juliette den Auftrag zu geben, sie sollte schleunigst dem jungen Herrn den Koffer abnehmen, da nicht mehr Zeit sei, den Kutscher Johann zu diesem Dienst herbeizurufen. Das flinke Mädchen tat, wie ihr geheißen wurde. Und so erstiegen Herr Fininger und der junge Mann gemeinschaftlich die Freitreppe, auf deren Terrasse vor der offenen Salontür Dr. Almeneuer der Schwester Herrn Finingers vorgestellt wurde.

»Die Kinder sind draußen auf dem See,« sagte Fräulein Martha, nachdem sie den Hauslehrer mit einer Höflichkeit begrüßt hatte, die nicht ohne Herzlichkeit war und verriet, wie viel Gutes sie schon über ihn zu hören bekommen. Dann, zum Strande hinabblickend, setzte sie hinzu: »Nein! Da landen sie soeben; wie wird sich Amadeus freuen, Sie schon hier zu finden! Ich glaube, er wollte Ihnen entgegenfahren, muß aber Ihr Schiff nicht rechtzeitig bemerkt haben.«

Der junge Mann hütete sich, zu zeigen, daß er in letzterer Beziehung vom Gegenteil Beweise habe, und als Herr Fininger ihn fragte, ob ihm vielleicht angenehm sei, zuerst von dem Zimmer Besitz zu ergreifen, woselbst er wohnen solle, verbeugte er sich zustimmend und wurde von Juliette, die mit dem Koffer abseits der Gruppe stand, durch den Salon in das Vorhaus und eine breite Treppe hinan in den ersten Stock der Wohnung geleitet. Dort, am östlichen Ende des langen Flurs, lag, als letztes in der Reihe, das Zimmer, das ihm zum Aufenthalt dienen sollte. Es war ein hellgrün getäfelter großer Raum mit einem Alkoven, in welchem das ausgerüstete Bett stand. Altmodischer, aber reichlicher Hausrat gab der Stube ein gemütliches Ansehen. Die etwas niedern Fenster waren alle weit geöffnet und durch dieselben drang die mit Blütenduft gewürzte Abendluft herein. Das östliche Eckfenster gestattete den Ausblick nach den soeben in letzte Purpurglut getauchten Schneeriesen der Alpenwelt; nur noch die Spitzen leuchteten. Die näheren vorgelagerten bewaldeten Berge lagen schon in blauschwarzer Dämmerung. Durch die zwei gegen Norden gelegenen Fenster blinkte die jetzt silbergrau gewordene Fläche des Sees herauf, wo immer die Baumkronen des Gartens sie nicht verdeckten; das jenseitige Ufer mit seinen Hügeln und Bergen überragte teilweise die Wipfel und bot ein herrliches Landschaftsbild dar.

Juliette hatte den Koffer bei der Tür hingestellt und sich leise entfernt. Aber der junge Mann blieb nicht lange allein. Kaum, daß er soviel Zeit behielt, sich Gesicht und Hände aus einem mächtigen altertümlichen Porzellanbassin zu erfrischen, so stürmte schon mit Bruno sein Zögling ins Zimmer und begrüßte den Hauslehrer in fröhlich kindlichen Worten, die er heraussprudelte.

»Nicht wahr! hier ist es schön, auf unserm Gute, Herr Doktor! Wie froh bin ich, daß Sie da sind! Überall hat es herrliche Schattenplätze. Wir brauchen unsere Stunden nie in der Stube abzuhalten. Nicht einmal bei Regenwetter. Da können wir zum Beispiel in das Rindenhäuschen gehen, hinten gegen den Berg hinauf. Das ganze Wäldchen dort gehört zu unserem Gute. Und haben Sie den kleinen Kiosk unten am See bemerkt beim Landungsplatz? Wahrscheinlich nicht! Er liegt ein wenig versteckt. Wer vom See kommt, sieht ihn selten. Aber man kann von dort desto besser den See überblicken. Und – nicht wahr? – die Felsblöcke im Wasser, ganz nah beim Ufer, sind sie nicht wie Inseln? Aber das wäre ein armer Robinson, der auf einer solchen leben müßte. Denn jeder Block ist nur gerade so groß, daß man bequem daraus sitzen kann. Das werden Sie auch, wenn es einmal warm genug ist zum Baden. Ich bade immer dort im Freien. Aber Dougaldine hat ganz am äußersten Ende dort seeaufwärts ein verschlossenes Badehaus. Das wäre mir zu langweilig; es kommt gar keine Sonne hinein. Übrigens, wenn kein Schiff auf dem See ist, schwimmt sie auch manchmal hinaus ins Offene. Heute abend aber, – denken Sie, – da hat sie sich gefürchtet, obwohl sie doch schwimmen kann, mit dem Schiff zusammenzutreffen, mit dem Sie anlangten. Ich bemerkte Sie gleich. Aber sie wollte nicht leiden, daß ich nahe hinzuruderte. Sie meinte, wenn Sie in unsere Schaluppe überstiegen, könnte es ein Unglück geben.«

»Darin muß ich deiner Fräulein Schwester Recht geben,« sagte der junge Mann. »Es wäre wirklich nicht vorsichtig gewesen! ich würde es übrigens auch nicht getan haben.«

Drei oder vier Schläge einer Glocke, die unten im Hausflur geläutet wurde, unterbrachen das beginnende Gespräch. »Ach ja!« rief Amadeus, »das ist das Zeichen zum Abendessen. Ich sollte Sie holen. Kommen Sie.«

Wenige Augenblicke später trat Dr. Almeneuer in die im Erdgeschoß gelegene Eßstube, wo Herr Fininger, Fräulein Martha und Dougaldine schon um den gedeckten Tisch saßen. Noch hatte man die bereitstehende Lampe nicht angezündet, da die Tageshelle nur allmählich der Dämmerung wich; immerhin war der Schein der Spiritusflamme unter dem zur Seite Dougaldinens stehenden Teekessel schon bemerkbar und ließ das Antlitz des Mädchens geisterhaft blaß erscheinen.

Dr. Almeneuer, der sie allein von allen Anwesenden noch nicht hatte begrüßen können, trat auf sie zu und hatte eine Regung, ihr die Hand hinzuhalten, während er einige höfliche Worte sprach. Sie wußte es aber so einzurichten, daß sie in demselben Augenblicke das siedende Wasser in den Teetopf goß und keine Hand frei hatte. Mit Kopfnicken bloß und einem von ihren Lippen geflüsterten »Guten Abend, Herr Doktor« begrüßte sie ihn. Nicht einmal einen Blick durfte sie ihm gönnen, so sehr war sie von dem häuslichen Geschäft in Anspruch genommen.

Er setzte sich schweigend neben Amadeus, ihr gegenüber, wohin ihn eine Handbewegung Herrn Finingers eingeladen hatte.

Eine Stille drohte zu entstehen. Doch der lebhafte Knabe brachte alsobald ein Gespräch in Fluß. »Denke nur, Dougaldine,« rief er, »der Herr Doktor würde nicht in unser Schiff gestiegen sein, wenn wir schon mit ihm zusammengetroffen wären. Und er gibt dir Recht, er sagte, es sei so vorsichtiger gewesen. O! wenn er erst mit dem See und unserer Schaluppe ein wenig nähere Bekanntschaft wird geschlossen haben …«

»Dann werde ich doch nicht aufhören, so glatten Dingen gegenüber vorsichtig zu sein,« unterbrach der Hauslehrer den Redefluß des Knaben.

Jetzt zum ersten Male warf ihm Dougaldine einen Blick zu, einen hurtigen aber forschenden Blick, der ihr entdecken sollte, ob mit dem Ausdruck »glatte Dinge« vielleicht noch mehr gemeint sei als nur See und Schiff. Rasch senkten sich wieder die langen Wimpern, als das Antlitz des jungen Mannes diesen Blick mit unerschütterlicher Ruhe aushielt.

»Es ist aber wirklich zu dunkel hier,« sagte sie und auf ihren Wink steckte die aufwartende Juliette die Lampe an, die ein mildes Licht verbreitete.

»Ich bin froh, Herr Doktor,« hob nun in ruhigem Tone Dougaldine an, »daß Sie solche gute Grundsätze der Vorsicht hegen. Wer in Seeport wohnt, tut wohl daran, nicht waghalsig zu sein, wozu allerdings Gelegenheit sich darbietet.«

Jetzt war es an dem jungen Manne, nachzudenken, ob in diesen Worten ein Doppelsinn liege. Doch gab er sich den Anschein, alles wörtlich zu verstehen und erwiderte: »Nun! ein Furchthase bin ich gleichwohl nicht. Dieser See ist ja bekannt als einer der friedlichsten des Landes. Was ich allein nicht ratsam fand, war das Umsteigen aus dem einen Kahn in den andern.«

»Und ich wiederhole nur, daß Sie darin sehr Recht hatten,« versetzte die Patrizierin, und diesmal spielte ein Lächeln um ihren Mund, das in der Tat mehr zu enthalten schien als die bloße Beziehung auf den geringfügigen Umstand, von dem die Lippen sprachen. Dieses Lächeln und ein gleichzeitiger Blitz der Augen mochte bedeuten: Denke immer so, junger Mann! und hüte dich, daß du dein Lebensschifflein dem meinen zu nahe bringst und aus dem einen ins andere hinüber zu voltigieren dir einfallen lässest. Hüte dich!

Die unbehagliche Empfindung, hier fortan einen gleichsam unterirdischen Krieg führen zu müssen, wo die beiden Gegner einander nur durch Minen sich nähern, während auf der Oberfläche von solchem Streite nichts darf bemerkt werden, diese Empfindung beschlich Doktor Almeneuer. Er konnte ihr aber nicht nachhängen, da inzwischen Amadeus, der seinen See nicht zu einem ganz ungefährlichen Wasserbecken wollte erniedrigt wissen, an den Vater appelliert hatte mit den Worten: »Nicht wahr, Papa, wir haben auch unsere Stürme? Erzähle es doch dem Herrn Doktor, wie das damals war, vor zwei Jahren glaube ich, als da plötzlich am hellen Sonntag nachmittag ein Gewitter ausbrach, so heftig, so schrecklich, daß nach wenigen Minuten schon die Wellen vier Fuß hoch gingen und vielleicht noch höher. Und weißt du, wie da die fremde Schaluppe in unsern Hafen einlief, der Herr mit zwei oder drei Kindern, und wie sie nur gerade noch ins Seichte kommen konnten, als schon die Wellen die Schaluppe zum Sinken brachten, freilich nicht tief, weil dort der Grund flach ist. Aber sie wurden doch naß wie die Wassermäuse und wir halfen ihnen später das Schiff heben und es ausschöpfen, der Johann und du und ich und sogar Dougaldine stund dabei.«

»Nun, die Geschichte brauche ich nicht mehr zu erzählen,« sagte lächelnd Herr Fininger, indem er das lebhafte Mienenspiel im Angesicht seines Knaben mit Wohlgefallen betrachtete. »Das hättest du gründlich besorgt. Aber im ganzen hast du Recht. Stürme gibt's hier allerdings. Selbst die Dampfschiffe spüren das mitunter.«

Und nun erzählte Herr Fininger verschiedene Vorfälle aufregender Art, die zuweilen schon den Dampfschiffpassagieren Schrecken verursacht hatten, und das Gespräch, an dem auch hie und da Fräulein Martha sich beteiligte, verbreitete sich ausführlich über die Eigentümlichkeiten des Sees und seiner Schiffahrt, dann auch über den Fischfang und ähnliche Dinge, die hier mehr als anderswo Interesse bieten mußten. Dougaldine aber und Dr. Almeneuer warfen nur hie und da ein Wort ein, wenn jemand direkt an sie die Rede richtete. Verstohlen beobachteten sie einander, und dies mit so großer Vorsicht, daß keines jemals den Blick des andern auffangen konnte, obwohl jedes immer es fühlte, wenn das Auge des andern auf ihm ruhte.

Später forderte Herr Fininger den Hauslehrer auf, mit ihm draußen auf der Terrasse noch eine Zigarre zu rauchen. Die Tante ließ es sich nicht nehmen, ihren Liebling Amadeus, der seine Schlafstube neben dem Zimmer Dr. Almeneuers hatte, selbst zu Bett zu bringen, wie sie dies in den vorangegangenen Sommern getan. Dougaldine ging unten am Seestrand noch eine Weile spazieren, bis das Verstummen der Unterhaltung auf der Terrasse ihr verriet, daß der Hauslehrer sich zurückgezogen habe. Jetzt suchte sie ihren Vater auf, der am nächsten Tage zur Stadt zurückkehren wollte, und besprach mit ihm noch über die Hausordnung dasjenige, was ihr zu vernehmen nötig schien. Eine Stunde später ruhte das Landhaus im tiefsten Schweigen und kein anderes Licht als das der Mondessichel glitzerte in den Fenstern und trieb noch ein schwaches Schattenspiel auf dem Kiesweg der Platanenallee.


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