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Was man gegen die Neigung oder wenigstens ohne tiefern Antrieb unternimmt, das verschiebt man meist unwillkürlich. So ließ auch Dr. Almeneuer folgenden Tages die eigentliche Besuchszeit vorüberstreichen und entschloß sich erst am spätern Nachmittag zu seinem Gang in das Patrizierhaus.
Schon machte sich um diese Jahreszeit das länger anhaltende Tageslicht freundlich bemerkbar, so daß in dem Salon, in den ihn das Dienstmädchen führte, alle die ziervollen Gegenstände, die den Hausrat und Schmuck des Gemaches bildeten, deutlich sichtbar waren. Er fand sich hier allein. Die französisch sprechende Zofe hatte verheißen, ihn bei der Herrschaft anzumelden und ihn ersucht, einstweilen hier einzutreten. Ein angenehmer Duft von Hyazinthen, die in hohen, schlanken Gläsern auf dem Kaminsims zu beiden Seiten der alten Bronze-Uhr stunden, erfüllte den großen und doch wohnlichen Raum. Dicke Teppiche durch die ganze Ausdehnung des Zimmers dämpften den Schritt. Die Wände zeigten braunes Getäfel aus edlem Holz, mit Goldleisten verziert. Die Decke des Saals war ein Prachtstück in Stukkaturornamentik. Längs den hohen Fenstern prunkten schwere rote Vorhänge von Sammet. Einzelne Mauerpfeiler zwischen den Fenstern und gegenüber die lange Hinterwand des Zimmers wiesen Ölgemälde auf, Männer und Frauen in der Tracht früherer Jahrhunderte, die Familienbilder des alten Geschlechts. Im Einklang mit der Vornehmheit des Wandschmuckes waren die nicht in steifer Regelmäßigkeit, sondern zwanglos, ja fast künstlich unordentlich umherstehenden einzelnen Stücke des Hausrats, da und dort ein alt-ererbter Prachtstuhl, wie ihn heutzutage kein Schreiner mehr verfertigt, daneben aber auch bequeme niedere Sofas und Diwans mit schwellenden Polstern, ein amerikanischer Schaukelstuhl, Tische zum Whistspiel, grün überzogen, andere mit türkischen Teppichen behangen und in einer Ecke ein neuer Stutzflügel mit geöffneter Tastatur.
Der Zauber dieser behaglichen, auf Reichtum und guten Geschmack gegründeten Einrichtung verfehlte nicht, eine gewisse Wirkung auf den jungen Gelehrten auszuüben. Insbesondere fühlte er heraus, daß hier nicht die gewöhnliche Anmaßung bloßen Geldstolzes walte, die jedem Besucher zuzurufen scheint: Sieh her, wie reich ich bin und beuge dich vor mir. Hier lebte etwas Besseres, ein feiner Sinn für den Genuß der Häuslichkeit. Die Leute, die hier wohnten, die mochten wohl am liebsten still für sich in ihrem Heim hausen. Draußen ist man dem Zufall des Tages, der rauhen Berührung des nächsten Besten ausgesetzt. Hier aber war man wie in einer stillen Burg, und unwillkürlich schwirrte dem jungen Manne durch den Kopf die Erinnerung an das stolze englische Wort: My house is my castle.
Das Schönste aber, was er mit ganz besonderer Wonne empfand, war dieser Blumenduft, diese Hyazinthen, die da mitten in das dicht verschlossene Zimmer des alten Patrizierhauses den vollen Frühling hineintrugen, der draußen noch nicht angebrochen war. Dieser Wohlgeruch übte auf die Seele des Einsamen einen geheimnisvollen Reiz aus und wiegte ihn in eine träumerische Stimmung, so daß er es gar nicht bemerkte, als eine Seitentür des Salons sich öffnete und über den Teppich mit leisem Schritt jemand gegangen kam. Erst als eine jugendlich weiche, aber tiefe Frauenstimme die Worte »Mein Herr …« hervorbrachte und dann zögernd innehielt, erhob er, in der Mitte des Saales stehend, die Blicke und sah sich zu seinem größten Erstaunen der Gestalt gegenüber, die seit dem Balle der vorletzten Nacht nicht mehr aus seiner Vorstellung gewichen war.
Ja! sie war es! Dasselbe schlanke, hohe, blonde Mädchen, dessen seelenvolles Antlitz so seltsam wechseln konnte zwischen anmutigster Schalkhaftigkeit und hohem Ernste. Sie war es in all der weichen Fülle ihrer neunzehn Jahre, so jungfräulich unnahbar und so weiblich hingebend zugleich. Es war dieselbe kurze und etwas eigensinnige Stirn, um die sich Flüchtlinge des seidenweichen Haupthaares in hellen Spiralen lockten, und unter der Stirn diese Augen, die abwechselnd so blitzten und dann wieder so scheu hinter den langen Wimpern sich verbergen konnten. Es war derselbe leicht aufgeworfene Mund, der so kindlich lächeln, aber auch so verächtlich zucken konnte, dieser Mund voll Liebreizes, um den aber zuweilen ein leiser höhnischer Zug spielte.
Auch die junge Dame erkannte mit sichtlich eben so großer Überraschung in dem Besucher, den ihr die Zofe angemeldet, den Herrn wieder, für den ihre Tanzkarte keinen freien Platz aufgewiesen hatte.
Beiden drängte sich das jugendliche Blut nach den Wangen. Doch nur einen kurzen, gedankenschnellen Moment währte die Befangenheit. Dem Mädchen half die Sicherheit gesellschaftlichen Auftretens, die man sich in höheren Kreisen erwirbt, über das Peinliche dieses unvermuteten Wiedersehens hinweg, dem jungen Manne sein ernster Charakter und die von Kindheit auf im rauhen Kampf mit dem Leben oft geübte Selbstbeherrschung. Nur gab ihm die wirre Flucht der Gedanken zu schaffen, die sich an die Vorstellung knüpften, es handle sich also bei dieser Privatlehrerstelle, die ihn hieher führte, offenbar um einen jüngeren Bruder des Fräuleins. Denn daß letztere hier im eigenen Hause sich befinde und also die Tochter Herrn Finingers sei, konnte er nicht bezweifeln, da die junge Dame ohne Hut, im Hauskleide vor ihm stand.
»Ich wollte Ihren … ich wollte Herrn Fininger sprechen,« sagte er.
»Ah! so ist das ein Irrtum von Juliette, unserem Kammermädchen,« gab das Fräulein zur Antwort, ohne daß sie Miene machte, weder sich selbst zu setzen, noch den vor ihr Stehenden zum Sitzen einzuladen. »Juliette spricht nämlich nur französisch,« fügte sie hinzu, »da hat sie wahrscheinlich Ihre Frage nach meinem Papa nicht recht verstanden.«
Es lag etwas in diesem Zusatze, das den jungen Mann ärgerte. Er versetzte daher:
»Ich bitte sehr um Entschuldigung; natürlich konnte ich nicht vermuten, daß ich mitten in einer deutsch sprechenden Stadt vom Dienstmädchen in deutscher Sprache nicht würde verstanden werden.«
»Das ist in unsern Familien meistens so,« sagte das Fräulein und legte auf das Wort »unsern« einen besondern Nachdruck, als sollte damit ein Dornröschenhag errichtet werden gegen alle fremden Eindringlinge, wohl in erster Linie gegen den vor ihr stehenden.
Dieser aber war nicht so leicht zurückzuschrecken. »Das Französisch ist hier also die Sprache der feineren Dienstmädchen?« sagte er.
Ein zorniger Blick traf ihn aus den Augen der jungen Dame. »Sie irren durchaus, Herr …«
»Dr. Almeneuer ist mein Name,« fiel ihr der Besucher ins Wort, da sie stockte. »Ich hatte schon neulich die Ehre, mich Ihnen flüchtig vorzustellen.«
»Nun, Herr Doktor,« fuhr die junge Patrizierin fort, »so erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß das Französisch häufig in unsern Familien, wenn wir unter uns sind, die Haussprache bildet, der natürlich auch die Dienerschaft sich anpassen muß.«
»Ich finde das auch sehr begreiflich,« erwiderte er.
»Warum?« fragte pikiert das Fräulein.
»Ach, mein Gott! weil wir eben hierzulande alle einen holperigen deutschen Dialekt reden und selten jemand ein ordentliches Deutsch gelernt hat. Da klingt dann das Französische freilich besser, wenn auch vielleicht nicht für Pariser Ohren.«
Das junge Mädchen hatte die Unterhaltung, die sofort die Form eines Gefechtes angenommen, bis hierher andauern lassen, weil ihr wohl im Herzen ein heimliches Gefühl sagte, sie sei dem neulich auf dem Balle so schnöde Abgewiesenen eine kleine Entschädigung schuldig. Diese meinte sie nun reichlich abgetragen zu haben dadurch, daß sie den Saal nicht augenblicklich verlassen hatte, als sie erfahren, der Besuch gelte nicht ihr, sondern ihrem Vater. Wirklich hatte sie nach Juliettens Aussagen vermutet, einen ihrer Tänzer vom Balle im Salon anzutreffen. Jetzt glaubte sie der Pflicht der Artigkeit gegen diesen Fremden mehr als genügt zu haben, dies um so mehr, als er so unartig widersprach. Sie sagte daher, indem sie nachlässig auf einen Stuhl deutete: »Wenn Sie sich vielleicht setzen wollen, es kann noch eine halbe Stunde dauern, bis Papa nach Hause kommt. Er ist überhaupt immer am sichersten vormittags auf seinem Bureau zu treffen.« Damit wollte sie sich umwenden und den Saal verlassen.
Aber Dr. Almeneuer, den dieses Mädchen zugleich anzog und ärgerte, konnte die letzte Bemerkung, die wie ein Vorwurf klang, nicht unerwidert lassen.
»Ich suche Ihren Herrn Papa nicht in Geschäften auf,« versetzte er in etwas spitzem Tone. »Eine Angelegenheit hat mich vielmehr hierhergeführt, die ins Haus, in die Familie gehört. Denn – um es kurz zu sagen – ich bin von Professor Gregor damit bekannt gemacht worden, daß Ihr Herr Papa einen Hauslehrer sucht. In dieser Sache wollte ich mit ihm reden.«
Das junge Mädchen, das schon willens gewesen, jedes fernere Gespräch abzubrechen, hatte sich wieder voll dem Besucher zugewandt und sagte jetzt in wärmerem Tone: »O! wenn es das ist! Das wird Papa freuen, Herr Doktor. Und … ich darf wohl sagen, auch mich interessiert es. Denn um ehrlich zu sein, ich bin die Veranlassung, daß Amadeus aus der öffentlichen Schule weggenommen worden.«
»Sie, Fräulein?« ließ sich mit Erstaunen Dr. Almeneuer vernehmen.
»Gewiß ich!« wiederholte die Patrizierin, die in all ihrem Tun und Reden jene Reife und Festigkeit offenbarte, die jungen Mädchen, denen die Mutter frühe gestorben ist und die an jüngeren Geschwistern selbst teilweise Mutterstelle vertreten müssen, häufig eigentümlich ist. »Aber setzen wir uns,« fügte sie hinzu und nahm in einer Fensternische Platz, indem sie auf ein Tabouret deutete, auf dem Dr. Almeneuer sich niederließ.
»Nun, Fräulein,« begann er, »wenn es nicht unbescheiden ist, darnach zu fragen, so bitte ich Sie, mir den Grund zu nennen, warum Sie Ihren Bruder nicht länger das Gymnasium wollten besuchen lassen.«
»Ach! was könnte aus einer solchen öffentlichen Schule, die jedermann besucht, Gutes kommen!« erwiderte die junge Patrizierin.
Rasch antwortete Dr. Almeneuer: »Zum Beispiel vielleicht ein Lehrer, geeignet, die öffentliche Schule zu ersetzen.«
Das Fräulein ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Ja! ein Lehrer,« sagte sie etwas geringschätzig. »Aber ein Lehrer ist noch kein Erzieher. Man wird überhaupt nur durch Seinesgleichen erzogen.«
Der junge Mann ließ einen ernsten Blick über die Gestalt der schönen Patrizierin gleiten, als wollte er gleichsam sich vergewissern, ob wirklich in einem so lieblichen Wesen eine solche seltsame Mischung von Verstand und Unverstand wohnen könne, wie sie ihm in den Worten der jungen Dame zu liegen schien. Dann sagte er: »Man wird nur von Seinesgleichen erzogen, behaupten Sie, Fräulein. Aber stehen denn Kinder und Eltern auf gleicher Stufe? wird nicht überhaupt immer der weniger Entwickelte vom höheren erzogen? Ist somit nicht gerade Ungleichheit eine Bedingung der Erziehung?«
»Sie wollen mich nicht verstehen,« erwiderte das Fräulein. »Ich meine nicht die selbstverständliche Ungleichheit der geistigen Entwicklung, sondern ich meine Standesgleichheit, wie z. B. früher die Ritter ihre Söhne zu befreundeten Rittern oder an den Hof eines Herzogs und Königs als Edelknappen zur Erziehung gaben. Sie schickten sie nicht mit Krethi und Plethi in die Schule.«
Dr. Almeneuer lächelte; die Worte »Krethi und Plethi« machten sich in dem kleinen Munde, der diese fremdartigen Ausdrücke mit komischem Abscheu sprach, ganz besonders reizend. Aber trotz dieser kleinen Bezauberung blieb er doch die Antwort nicht schuldig.
»Sehen Sie, Fräulein,« sagte er, »ich glaube einfach und schlicht, man werde Tag für Tag durch jeden Menschen erzogen, der mit uns verkehrt. Hat nicht jetzt soeben unsere kurze Wechselrede uns genötigt, unsere Ansichten einen Augenblick innerlich zu revidieren und sie zu begründen, vielleicht teilweise zu berichtigen? Könnte das nicht auch eine Art Erziehung heißen?«
Dem Fräulein stieg eine leise Röte ins Antlitz, wahrscheinlich infolge der Vorstellung, dieser rechthaberische junge Mann bilde sich am Ende gar ein, eben jetzt noch an ihrer Erziehung allerlei zu vollenden, gewissermaßen ihr Mentor zu sein, bevor er noch der ihres Bruders geworden. Es war ihr daher erwünscht, drunten im Hausflur das große Tor gehen zu hören. Das ist Papa, dachte sie im stillen. Um inzwischen doch keine peinliche Stille eintreten zu lassen, sagte sie: »Wir brauchen übrigens gar nicht so ins allgemeine von Erziehung zu sprechen. Der Grund, warum ich nicht mehr wollte, daß Amadeus in die öffentliche Schule gehe, ist einfach der, daß er dort sichtlich roh wurde. Er ist ein so netter, liebenswürdiger Junge von Haus aus. Aber er brachte Ausdrücke nach Hause – es war zu unangenehm! Und überhaupt sein Sinn nahm eine gemeine Richtung. Selbst die Lehrer machen dort mit den Schülern vulgäre Spässe, von denen dann Amadeus beim Mittagessen mit Behagen erzählte. So trug er in unser sonst gut gehütetes Haus eine Luft – wäre es noch der Gasse – nein! der Bierstube. Und das ist der einzige Grund, weshalb ich darauf bestund, daß er fortan im Hause müsse unterrichtet werden.«
Dr. Almeneuer hatte schon zuweilen solche Argumente, wie sie jetzt von diesem schönen Munde vorgebracht wurden, gegen die öffentliche Schule anführen hören und sie hatten ihm niemals Eindruck gemacht. Anders ging es ihm jetzt. Hier befand er sich wirklich in einer anderen Luft als der des gewöhnlichen Alltagslebens. Wenn die junge Dame vor ihm von ihrem gut gehüteten Hause sprach, so war das sichtlich keine Übertreibung. Und wie glühte sie in ernstlichem Unwillen beim bloßen Gedanken an die schädlichen Einflüsse, denen ein wahrscheinlich ihr selbst ähnlich gearteter Bruder in jener öffentlichen Schule ausgesetzt war, von deren Verfall sie sich eine jedenfalls übertriebene Vorstellung machte! Wahrhaftig in diesem von Blumenduft durchhauchten, behaglich und geschmackvoll eingerichteten Saale mit der braungoldenen Vertäfelung und den Ahnenbildern, bekamen solche Reden den Schein des Natürlichen, des Selbstverständlichen auch ohne die mächtige Unterstützung, die vornehmlich von der Person der so anziehenden Sprecherin ausging. Zwar prinzipielle Konzessionen machte der junge Demokrat weder laut noch leise; aber Eines sagte er sich in aller Stille: Es ist ja begreiflich, da diese Aristokraten einmal existieren, daß sie so existieren wollen, wie es ihnen inneres Lebensbedürfnis ist. Der Fisch braucht sein nasses Element, der Vogel die freie Luft; diesen Leuten muß alles dran gelegen sein, ihre letzte Burg, ihr Haus, die engsten Familienbeziehungen rein zu erhalten von allem ihrer eigenen Art entgegengesetzten Wesen.
Ehe er noch zu antworten vermochte, war mittlerweile der Ankömmling, der vorhin unten am Haustor sich bemerkbar gemacht, oben angelangt und öffnete jetzt die vom Korridor hereinführende Tür des Salons. Aber nicht Herr Fininger trat ein, sondern in wilden Sätzen flog zuerst ein prächtiger Hühnerhund herein, dem fast ebenso schnell ein schlanker, feiner Knabe folgte.
»Dougaldine! Dougaldine!« rief der Knabe, indem er stürmisch auf die Schwester zueilte, die des tänzelnden, wedelnden und vor Freuden laut ausschreienden Tieres sich kaum zu erwehren vermochte und dies zu tun auch nicht ernstlich beabsichtigte, indem sie vielmehr den Hund freundlich liebkoste, – »Dougaldine! er ist ganz kuriert! Wir haben ihn wieder, unsern lieben Bruno! Ich hatte kaum gehofft, daß ich ihn heute schon bekommen würde. Aber der Tierprofessor sagte, der Biß sei ganz geheilt. Und künftig machen wir ihm ein Stachelhalsband, damit sich so ein gemeiner Milchkarrenhund zweimal besinnt, bevor er über unsern Bruno herfällt. Denn ins Spital möchte ich ihn nicht wieder geben. Es ist unbeschreiblich, wie es dort im Hundezwinger stinkt. Und stelle dir vor, Dougaldine, diesen Zwinger hat die Regierung für zehntausend Franken bauen lassen. Der Tierprofessor hat es mir selbst gesagt. Und doch haben sie das wichtigste vergessen, nämlich den Ablauf für die Unreinigkeit. O! wie froh bin ich, daß wir unsern Bruno los haben aus der Stinkbude.«
Der Junge hatte das alles so schnell herausgesprudelt, daß die Schwester nicht die Möglichkeit fand, seinen Redefluß zu unterbrechen. Übrigens schien sie selbst sich für alles zu interessieren, was der Knabe vorbrachte. Und während sie so den wiedergeschenkten Hund krauend zu beschwichtigen suchte und zugleich dem Bruder lauschte, erinnerte sich Dr. Almeneuer plötzlich, daß er das Fräulein im letzten Herbst zum erstenmal gesehen hatte, wie sie damals, eben diesen braunen Hühnerhund an der Leine, frühmorgens an einem Weiher der Stadtpromenade vorübergeschritten war, ziemlich hoch geschürzt, einen breiten, hohen Hut keck auf dem stolzen Haupte. Er hatte sie nur flüchtig von einem Seitenpfade aus gesehen und damals der jungen Diana mit einem seltsamen Gefühle von Sehnsucht nach etwas nur im Fabellande der Poesie Vorhandenem nachgeblickt. Jene schöne Jägerinnen Ariosts waren ihm in den Sinn gekommen, auch gewisse Gemälde der guten alten Niederländer und der spätern französischen Meister. Also sie war es damals gewesen! Wie sie jetzt mit dem Hunde sich abgab, stund jene früheste Begegnung wieder vor seiner Seele.
Und wie hatte der Knabe die Schwester genannt? Dougaldine! Welch ungewöhnlicher Name, wenigstens bei uns. Vielleicht nach irgend einer Ahnfrau englischer oder schottischer Abkunft. Die Männer dieser Familien suchten ja oft ihre Frauen im Auslande.
Der letzte derbe Ausdruck, mit dem der Knabe seine Rede schloß, hatte dem jungen Mädchen mißfallen. »Was ist das für ein Wort, Bruder!« sagte sie. Und dann, indem sie auf ihr Gegenüber wies, setzte sie hinzu: »Du hättest überhaupt zuerst diesen Herrn begrüßen sollen, ehe du zu sprechen anfingst. Tue es jetzt. Es ist Herr Doktor Alm … entschuldigen Sie, ich habe den Namen noch nicht ganz gemerkt …«
»Almeneuer« half der junge Mann nach.
»Herr Doktor Almeneuer,« wiederholte Dougaldine. »Der Herr Doktor wird die Güte haben, dein Hauslehrer zu sein.«
Der Knabe war mit freimütigem Anstand auf den jungen Mann zugeschritten und hatte sich vor demselben in aller Form verneigt. Als er aber nun den Zusatz vernahm, Dr. Almeneuer solle sein Hauslehrer werden, trat er dicht an ihn heran und reichte ihm treuherzig die Hand, ohne ein Wort zu sprechen. Nur die dunkelblauen Augen richteten sich mit dem Ausdrucke bescheidener Neugier auf den fremden Herrn. Dieser nahm die Hand seines Zöglings in spe und musterte seinerseits den feinen Knaben, der schon durch seine etwas ungewöhnliche Kleidung auffiel. Er trug ein kurzes schwarzes Sammetwams und schwarze Kniehosen. Solange er die Schule besucht hatte, war diese Tracht sein Sonntagsanzug gewesen; jetzt trug er sie auf den besonderen Wunsch seiner Schwester auch an Wochentagen. Er erinnerte sie in dieser Kleidung an jene edeln englischen Königsknaben auf dem weltbekannten Gemälde von Rubens.
Dr. Almeneuer fand in dem etwas blassen Antlitz des Bruders die Züge der Schwester wieder. Bei ähnlicher guter Begabung und natürlicher Intelligenz schien jedoch im Bruder größere Gutmütigkeit zu wohnen, als in der Schwester. Jedenfalls befriedigte diese kurze Musterung den jungen Mann vollkommen, denn er sagte: »Amadeus! ich sehe schon, wir werden gute Freunde werden.« Dann aber, indem er sich plötzlich erinnerte, wie er eigentlich hierher gekommen mit dem Vorsatze, diesen jungen Patrizier der öffentlichen Schule wiederzugewinnen, setze er hinzu: »Aber möchtest du nicht lieber wie alle andern Knaben das Gymnasium weiter besuchen, statt einen Hauslehrer zu bekommen?«
»Dougaldine will es so haben, wie es nun ist,« sagte der Knabe, indem er der Schwester einen freundlichen Blick zuwarf, den diese, über diese Antwort erfreut, hell erwiderte.
Der junge Mann fühlte merkwürdigerweise ebenfalls eine große Befriedigung über diese Antwort. Dennoch aber glaubte er seiner Pflicht als guter Demokrat noch genügen zu sollen durch die Frage: »Aber mit den andern Jungen allen zu spielen, war das nicht schön?«
»Manchmal, ja!« erwiderte der Knabe. »Ich denke, ein paar werden mich doch zuweilen besuchen. Und nun ist Bruno wieder da. Und dann, im Sommer gehen wir alle auf unser Landgut am See, da hätte ich ohnehin die Schule aussetzen müssen, sagt Papa.«
Dr. Almeneuer hielt es weder für pädagogisch, noch sonst für taktvoll, dem Knaben gegenüber einen ferneren Versuch zu machen, die nun einmal getroffene Anordnung umzustürzen. Eben, als er zu dieser Einsicht gelangte, fuhr der Hühnerhund, der sich ruhig vors Kamin hingestreckt hatte, jählings empor und lief gegen die Tür. Im nächsten Augenblick trat, von Brunos Winseln und lautem Freudengebell begrüßt, Herr Fininger in den Saal.
Die Vorstellung erfolgte durch Dougaldine in wenigen Worten. Dann zog sich das Fräulein mit einer artigen kurzen Verbeugung gegenüber dem jungen Manne mit ihrem Bruder zurück in ein Seitengemach und versprach, alsobald Juliette mit einer Lampe herüberzuschicken, da es stark zu dunkeln begann.
Herr Fininger, der mit Dr. Almeneuer allein zurückblieb, war ein stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren. Lebhafte Augen milderten den Ausdruck von Strenge, der auf der hohen Stirn und in den fast marmorglatten Zügen des regelmäßigen Antlitzes lag. Auch um den Mund spielte etwas wie Wohlwollen, das jener Härte des Angesichts zu widersprechen schien.
Er begrüßte den jungen Mann freundlich. »Herr Professor Gregor hat Ihnen also meine Bitte ausgesprochen,« sagte er, »und Sie wollen der Hauslehrer meines Sohnes werden?«
»Eigentlich gestehe ich,« versetzte Dr. Almeneuer, »daß ich mit der Absicht hierher kam, Ihnen zuzureden, Sie möchten doch auch fernerhin Ihren Knaben in die meiner Ansicht nach vortreffliche öffentliche Schule schicken. Wenn's noch um ein Mädchen sich handelte! Da hätte dieses ängstliche Behüten vor der Zugluft des öffentlichen Lebens mehr Sinn. Dagegen für künftige Männer ist es doch gewiß gut, wenn sie frühzeitig mit der Welt in Berührung kommen, ihre Kräfte an den Kräften anderer messen, sich gegenseitig abreiben …«
»Abreiben!« rief Herr Fininger. »Das ist das Wort! Ich wußte, daß es kommen würde. Immer dieses Abreiben! Und das bedenkt man dabei nicht, daß auch vortreffliche Eigenschaften, die das Haus kultiviert, abgerieben werden können? Man gibt sich in der Familie alle Mühe, die Kinder in höflicher, guter Lebensart zu erziehen, ihnen feinere Gefühle, weichere Empfindungen zur zweiten Natur zu machen, und dann – dann kommt das berühmte Abreiben der öffentlichen Schule, das heißt, schlechter erzogene Kinder als unsere eigenen werden zufällige Miterzieher an den unsrigen und man soll ihnen wohl noch Dank wissen, wenn nach Jahren aus einem ursprünglich zart angelegten, pietätvollen Kinde ein unausstehlicher Bengel geworden ist.«
»Ihr Amadeus hat mich in der kurzen Zeit, daß ich ihn hier sah, neuerdings davon überzeugt, daß diese Gefahr nicht so groß ist. Ich habe den besten Eindruck von Ihrem Sohne erhalten.«
»Nun ja, Gott sei Dank! Dougaldine hat auf den Bruder ein besonders aufmerksames Auge und wir haben sogleich bei den ersten Anzeichen die Maßregel getroffen, die mir das Vergnügen Ihrer Gegenwart verschafft. Sie sind also bereit, Herr Doktor?«
Dem jungen Manne schwebte noch ein ganzes Arsenal von guten Beweismitteln vor, die er gegen die exklusive Privaterziehung hätte ins Feld führen mögen. Aber dieses Arsenal war nicht so massiv gebaut, daß nicht eine Gestalt voll Huld und Reiz jenseits aller Gegengründe sichtbar geworden wäre. Und es war nicht bloß die Mädchengestalt. Auch der Knabe, ihr Bruder, hatte es ihm angetan. Sein Herz zog ihn zu diesen Menschen. Der Gedanke, mit ihnen fortan in nahe Berührung zu kommen und zwar durch das edelste Bindemittel, durch die Vermittlung geistiger Bildung, dieser Gedanke hatte etwas unwiderstehlich Lockendes.
Daher antwortete er: »Ich rechne es mir zur Ehre, Ihren Knaben zu unterrichten. Am Ende ist es ja wahr, daß die Erziehung im Hause das natürlichste wäre. Schon Rousseau sagt es. Nur die Art unserer Lebenseinrichtungen, die den meisten Eltern nicht gestatten, sich selbst, wie mit der Ernährung, so auch noch mit der Bildung ihrer Kinder zu befassen, hat es dahin gebracht, daß man die Kinder täglich auf viele Stunden dem Hause entfremden muß.«
» D'accord! d'accord!« rief, die Hände sich reibend, eifrig der Patrizier. »Sehen Sie, wir verstehen uns. Ich möchte es natürlich jedermann gönnen, daß er seine Kinder zu Hause könnte erziehen lassen. Wenn es aber andere nicht imstande sind, ist das für mich eine Raison, zu entbehren, was ich mir verschaffen kann und was mit meinen Lebensansichten übereinstimmt? Aber nun … Ihre Bedingungen, Herr Doktor.«
»Ich habe nur Eine!« sagte der junge Mann mit vielleicht zu viel Selbstgefühl.
»Und welche?« fragte Herr Fininger, indem er gespannt sein Gegenüber betrachtete.
»Vertrauen.«
Herr Fininger lachte kurz. »Das versteht sich von selbst,« sagte er. »Sie sind in Ihren Stunden, die doch die Hauptfächer umfassen werden, in betreff der Methode, der Schulbücher und so weiter ganz allein Meister.«
»In meinen Stunden?« wiederholte der junge Mann. »Aber ich wünsche, daß Amadeus zunächst, bis er sich an mich gewöhnt hat, gar keine andern Stunden erhalte.«
Herr Fininger machte ein etwas verdutztes Gesicht und dachte eine Weile nach. »Gar keine andern Stunden?« sagte er dann. »Ich glaubte, das heißt Herr Professor Gregor glaubte, Ihre Tätigkeit würde sich auf Latein und Griechisch und auf ein paar Realfächer beschränken. Französisch wollte Dougaldine mit ihm betreiben. Aber möchten Sie denn auch dieses Fach und Gymnastik und Zeichnen und Musik und Religion und was weiß ich noch alles übernehmen? Freilich, wenn es Ihre Zeit gestattet …«
»Meine Zeit gestattet mir vorläufig nicht mehr als drei Stunden täglich. Aber diese Stunden möchte ich ganz nach Gutdünken, nach den Bedürfnissen des Augenblicks, wenn auch selbstverständlich innerhalb eines größeren, mir deutlich vorschwebenden Planes ausfüllen dürfen.«
»Und die ganze übrige Zeit soll Amadeus müßig gehen? bloß drei Stunden Unterricht im Tage?«
»Den Unterricht in der französischen Sprache, den ihm Ihre Fräulein Tochter geben will, gestehe ich zu. Im übrigen aber möchte ich, wie Jehova, keine andern Götter neben mir dulden. Denn sehen Sie, Herr Fininger, wenn etwas gegen die Schulbildung und für derartige Privaterziehung spricht, so ist es der glückliche Umstand, daß bei letzterer eine einzige erzieherische Persönlichkeit nach einheitlichem Plane auf den Zögling einzuwirken imstande ist. Die Vielheit von Lehrern unterrichtet vielleicht sehr gut, erzieht aber schlecht oder gar nicht.«
»Aber dann müßten Sie wenigstens ganz bei mir Wohnung nehmen und auch die freie Zeit meines Knaben überwachen.«
Dr. Almeneuer besann sich einen Augenblick, dann erwiderte er: »Dies geht wenigstens vorläufig nicht an; meine andern Arbeiten gestatten es mir nicht. Dennoch möchte ich Sie bitten, vor Sommers Anfang Ihren Knaben mit allen andern Lehrmeistern zu verschonen. Nur, bis er einigermaßen meinen Unterricht recht erfaßt hat.«
»Nun, im Sommer, – ja so, im Sommer. Da müssen Sie sich aber doch entschließen, ganz der unserige zu werden, Herr Doktor. Denn da ziehen wir auf unser Landgut am See. Wenn Sie mir versprechen, dorthin mitzukommen, so will ich mich Ihrer Bedingung fügen, obschon mir bange ist, bei nur drei Stunden im Tage werde Amadeus alle Gewohnheit des Lernens verlieren.«
»Haben Sie keine Furcht. Ich hoffe so mit ihm vorwärts zu gehen, daß er von selbst sich auf eine seinem Alter angemessene Weise mit den Wissenschaften abgeben wird, ungefähr wie ein Erwachsener, der aus Liebe zum Gegenstande studiert.«
»Und im Frühling ziehen Sie mit uns aufs Land?«
»Ich verspreche es Ihnen.«
Es war Herrn Fininger peinlich, einem Manne gegenüber, der seinen neuen Beruf mit solchem Feuer und mit solcher Idealität auffaßte, auch die Honorarfrage zu berühren. Doch tat er es, als Hans Almeneuer sich bereits erhoben hatte, um sich zu verabschieden. Er bat den jungen Gelehrten, seine Forderung zu stellen und nannte, als dieser versicherte, daß er alles Herrn Fininger überlasse, denselben außerordentlich hohen Ansatz, den er schon dem Professor angegeben hatte, als er dessen Vermittlung nachgesucht. Dr. Almeneuer wollte protestieren. Herr Fininger schnitt aber alle weitere Erörterung dieses Themas mit der Frage ab: »Und auf wann legen Sie Ihre Stunden?«
»Täglich von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr.«
»Sie sind ein Frühaufsteher,« sagte lachend der Patrizier. »Nun, meinem Jungen wird's auch nicht schaden. Dagegen werden Sie uns andere Hausgenossen wohl selten so früh zu sehen bekommen. Darf ich schon für morgen die neue Hausordnung für Amadeus ansagen?«
»Für morgen.«
Mit einer Verbeugung wollte der junge Mann sich empfehlen. Herr Fininger aber ergriff die Hand des Gehenden, drückte sie herzlich und begleitete ihn bis zur Tür, dort erst ihn verabschiedend.
»Nette Leute,« murmelte Hans Almeneuer, als hinter ihm die schwere Pforte des Hauses ins Schloß fiel und in der Dunkelheit der Gasse die kühle Luft eines Märzabends ihn anwehte. Aber dieses nicht besonders enthusiastische »Nette Leute« war nur die gewohnheitsmäßig bescheidene Einkleidung eines sehr warmen Gefühls, das, wenn es in seiner eigentlichen Sprache sich hätte äußern wollen, etwa folgendermaßen gelautet hätte: Welche wirklich adeligen Menschen! Hoch über dem Gemeinen ihrer ganzen Gesinnung nach! Dougaldine wie die Sonne in ihres Vaters Hause! Aber auch dieser Vater und dieser Bruder ihrer nicht unwert.
Daß auch er selbst dieser so gut beschaffenen Menschen wert war, kam ihm den ganzen Abend nicht in den Sinn. Er gedachte der andern ohne Beziehung auf sich selbst; die reinste Ruhepause, die es auf dem Pfade der Liebe gibt, war für ihn angebrochen.