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An einem Märzmorgen, sehr früh, als soeben der erste Tagesschimmer von den kleinen Vögeln des Wäldchens am Flusse begrüßt wurde, die sich freuten, wieder einmal die Kälte und die Gefahren einer Nacht überstanden zu haben, schritt ein junger, klaräugiger Mann in einem der Kühle des Morgens durchaus nicht entsprechenden eleganten Gesellschaftsanzuge am Ufer des Flusses hin, wo zwischen dem schnell strömenden Wasser und dem Wäldchen ein schmaler Pfad sich am Weidengebüsch vorüberschlängelte.
Seinen Châpeau claque hielt er zusammengeschoben in der Linken, so daß der Morgenwind freies Spiel hatte mit dem rötlich blonden, leicht gelockten Haupthaar, das die breite offene Stirn und die Schläfen des angenehmen Gesichtes umrahmte. Die Farbe der Gesundheit lag mit rosigem Anhauch auf diesem Antlitz, dessen regelmäßige und männlich energische Züge um so mehr hervortraten, als der feine Mund, das runde Kinn und die von traulichem Verkehr mit Wind und Sonne Zeugnis gebenden bräunlichen Wangen von jeder Spur des Bartes befreit waren. Der junge Mann hätte um des letztern Umstandes willen vielleicht für einen Bühnenkünstler können gehalten werden, hätte nicht in seiner sonstigen Erscheinung bei aller Elastizität in Gang und Bewegung eine gewisse ernste Zurückhaltung und in seinen blitzenden blauen Augensternen eine seltsame Mischung von Mannestiefsinn mit kindlicher Einfachheit gelegen, wie sie derjenige nicht bewahren kann, der alle Abende vor den Lampen seine eigene Persönlichkeit irgend einem fremden, von der Phantasie der Dichter erfundenen Charakter anpassen muß.
Der frühe Morgenwanderer am Flusse war der Dr. phil. Hans Almeneuer. Er hatte die Nacht durchtanzt und es nicht mehr der Mühe wert gehalten, da er als einer der letzten den Ballsaal verließ, das Bett aufzusuchen. Sondern so wie er ging und stand, in Frack und weit ausgeschnittener Weste, ohne Überrock, war er aus dem Ballhause über die nahe große Brücke zur Stadt hinausgeeilt auf dem Wege, der durch den Wald und dann weiter zum Ufer des Flusses hinabführte. Zum Glück für den Unvorsichtigen, der auf seine jugendliche Gesundheit trotzte, hatte seit einigen Tagen warmer Südwind geweht, der die immerhin noch empfindliche Kühle eines Märzmorgens doch wesentlich milderte. Übrigens – wer weiß? – vielleicht würde auch rauhere Luft dem Spaziergänger nicht erheblichen Nachteil gebracht haben; denn Hans Almeneuer, wie er so seine breite Brust und seinen gedrungenen muskulösen Körperbau dem Morgenwinde aussetzte, war sich wohl bewußt, der Abkömmling eines kernhaften Geschlechts von Alpenhirten und Gemsjägern zu sein, der seine eigene Jugend bis zum fünfzehnten Jahre als Hirtenbube zugebracht hatte, und der auch während seiner spätern Studienzeit immer wieder, in Ferien, mit freudig pochendem Herzen zu seinen Flühen und Gletschern zurückgekehrt war. Wenn diese seine Herkunft aus der niedern Hütte eines schlichten Mannes ihm manche Entbehrung auferlegt hatte, da er sich frühzeitig darauf angewiesen sah, das für seine Studien nötige Geld selbst zu verdienen, – wie er denn auch jetzt noch, was sein Anzug allerdings nicht vermuten ließ, arm war, so hatte diese Abstammung dafür das Gute, ihm in seinem Leibe, der jede Beschwerde leicht ertrug, einen zuverlässigen Diener des frischen, energischen Geistes auf den Lebensweg mitzugeben.
Aber dieser wohlbeschaffene junge Mann, dessen Schritt in so früher Stunde die kleinen Bachstelzen vom Morgentrunke aufschreckte, ward von einer ihm ungewohnten Unruhe umhergetrieben. Es war nicht die noch nachzitternde Aufregung des Tanzes, es war nicht die in den labyrinthischen Gängen des Gehörs gleichsam gefangene Musik lustiger Walzermelodien, auch nicht der im Lauf der Nacht mäßig genossene Wein, was diesen Tumult in Hans Almeneuer hervorrief. Und wenn es, wie nun leicht zu vermuten, das seiner Phantasie vorschwebende Bild eines weiblichen Wesens war, das er in dieser Tanznacht geschaut und bewundert hatte, so kam doch noch ein besonderer eigentümlicher Umstand hinzu, den jungen Doktor der Philosophie, der gewohnt war, sich von seinen Gefühlen klar Rechenschaft zu geben, in so außerordentlicher Weise zu erregen und ihn sogar zu einem Selbstgespräch zu veranlassen, aus dessen murmelnden Lauten wiederholt die Frage heraustönte: Warum gerade diese?
Der Ball, auf welchem Dr. Almeneuer getanzt hatte, war der letzte sogenannte Professorenball des nun abziehenden Winters gewesen. In der mäßig großen Stadt, in welcher diese Begebenheiten sich zutrugen, bildeten die Professoren der Hochschule zwischen den anderen für gewöhnlich sich schroff ausschließenden Klassen der Gesellschaft ein vermittelndes Element und die Professorenbälle waren gewissermaßen ein neutraler Boden, auf welchem neben schlicht bürgerlichen Leuten auch einzelne Patrizierfamilien – bei weitem nicht alle oder auch nur die Mehrzahl! – sich einfanden.
Was diese Patrizierfamilien anbetrifft, so waren viele derselben eigentliche Adelsgeschlechter. Die Ahnen mancher von ihnen waren schon zur Zeit der Kreuzzüge als Grafen und Barone genannt worden und ihr Stammbaum war weniger bestritten, als der mancher europäischen regierenden Familie. Aber da die sonstigen politischen Landesverhältnisse, namentlich seit der französischen Revolution, den Adel jedes Vorrechtes beraubt hatten, war diesen alten Familien von all ihrem einstigen Glanze nicht viel anderes übrig geblieben als die in den Archiven aufbewahrte und durch mündliche Tradition aufgefrischte Erinnerung an die erlauchten Vorfahren, dazu das Wappen und das nicht von allen benützte Recht, zwischen den Tauf- und den Geschlechtsnamen ein »von« einzuschalten. Einzelne dieser Familien waren gänzlich verarmt, andere besaßen große, unbequem zu verwaltende Landgüter, die nicht so viel abwarfen, um den Eigentümern glanzvollen Luxus zu gestatten; doch gab es auch einzelne reiche Geschlechter. Es waren dies namentlich diejenigen Familien, in welchen die Männer das aus der alten Ritterzeit ererbte Vorurteil gegen industrielle Arbeit beiseite gesetzt und durch Handel, Beteiligung an Bankgeschäften usw. das ursprüngliche Vermögen bedeutend vergrößert hatten.
Trotz solchen Zugeständnissen an die moderne Zeit verhielten sich jedoch die ursprünglich adeligen Familien, welche sich im altrömischen Sinne Patrizier nannten, gegen die andern Stände der Bürgerschaft immer noch sehr ausschließend. Selbst sprachlich machte sich diese Ausschließlichkeit geltend, indem diese höhere Gesellschaftsklasse unter sich mit Vorliebe französisch sprach. Durch Wechselheirat in ihren Familien befestigten sie den Verband; nur ausnahmsweise holten sich die Männer im Auslande Frauen, in der Regel aus Geschlechtern, die im Gothaer Kalender stunden.
Für gewöhnlich also gab es keinen gesellschaftlichen, sondern bloß einen geschäftlichen Verkehr zwischen den Patriziern und den anderen Bürgern dieser Stadt. Aber die Professorenbälle hatten nicht ohne einigen Erfolg eine Annäherung der getrennten Stände versucht. Die Akademiker waren wohl auch die geeignetsten Vermittler. Ist doch die Universität ebenfalls ein aus dem Mittelalter her mit allerlei Vorrechten ausgestattetes Institut, das anderseits jedem im Volke – vorausgesetzt, daß er sich die nötige Vorbildung erworben – offen steht. Und abgesehen vom mittelalterlich Zünftigen, empfängt auf dem Boden akademischer Bildung der Bürgerliche den Ritterschlag des Geistes, das Talent erobert sich einen berühmten Namen und so schiebt sich diese Kaste europäischer Brahmanen als ein Bindeglied zwischen sonst ausschließliche Stände und erfüllt auch hiedurch einen Teil ihrer großen humanisierenden Aufgabe.
Immerhin war die Vermischung auf jenem Professorenballe nicht wesentlich weiter gegangen als bis zur gemeinsamen Benützung desselben Tanzsaales. Es gab, wie in einem Parlamente, eine Linke und eine Rechte, nur daß zufälliger Weise die sich vornehm dünkende Gesellschaft ihre Sitze an der linken Wand des Saales einnahm, während die schlichteren Leute auf der rechten Seite sich zusammenhielten. Die Professoren mit ihren Familien verkehrten nach rechts und nach links, einige fast mit zu viel Bemühung nach links. Die Damen der Aristokratie aber tanzten nur mit Ihresgleichen; sie hatten es so einzurichten gewußt, daß ihre Tanzkarten schon in der ersten Viertelstunde ausgefüllt waren mit den Namen ihrer Standesgenossen. Wenn dann irgend einer der jungen Männer, Privatdozenten oder Studenten bürgerlicher Herkunft, sich ein Herz faßte und einer der patrizischen Frauen oder Fräulein sich vorstellte, so erwiderte dieselbe mit einem gewissen feinen Lächeln und mit fast spöttisch zwinkernden Augenlidern dem Kühnen, sie habe schon alle Tänze des Abends vergeben. Die Herren der Aristokratie freilich nahmen es nicht so genau; ein »Ritter« darf ja selbst mit Bauernmädchen tanzen und sie seiner Gewogenheit versichern, ohne sich damit etwas zu vergeben. Da aber diese Herren diesmal durch den Ritterdienst gegenüber ihren eigenen Damen hinlänglich in Anspruch genommen waren, tanzten auch sie wenig mit den einfacheren Bürgermädchen, wie verlockend auch der Flor derselben sich vor ihren Augen ausbreitete.
Hans Almeneuer war ebenfalls unter der Zahl derer, welche sich bei den adeligen jungen Damen einen Korb geholt hatten.
Schon von Anbeginn des Balles an war ihm ein etwa neunzehnjähriges Mädchen aufgefallen, das jener exklusiven höheren Gesellschaft angehörte. Ihren Namen kannte er nicht; zwei Bekannte, die er fragte, wer die junge Dame sei, wußten ihm nicht zu antworten. Noch andere zu fragen, scheute er sich, da er befürchtete, durch solches Fragen zu verraten, wie sehr ihn das Mädchen interessierte. Sie war von schlankem, ziemlich hohem Wuchs, aber zugleich von jugendlicher Fülle der Formen. Außerordentlich lieblich schien in seinen Augen das Spiel ihrer Glieder; es lag darin eine weiche Anmut, die ihn fesselte. Aus ihren Zügen lachte ein Schalk, wenn sie in heiter belebtem Gespräch war, und wundervolle Perlenzähne leuchteten alsdann im Verein mit den blitzenden Augen aus dem beseelten Antlitz, in welchem ein allerliebstes Stumpfnäschen und das weiche Oval von Wangen und Kinn angenehm übereinstimmten mit dem aschblonden Haar, das teils in lockigen, freien Spiralen an der Stirn sich kräuselte, teils, zu schweren Zöpfen zusammen genommen, am Hinterhaupte aufgesteckt war. Eine strahlende Schönheit war die junge Dame nicht; ein Maler würde an ihr allerlei Fehler entdeckt haben, zum Beispiel, daß dieselben hellblauen Augen, die so blitzen konnten, eigentlich zu klein waren und ein wenig verborgen durch die stark vortretenden Wölbungen der kurzen Stirn, durch jene von feinen Augenbrauenbogen besetzten Hügel, in denen nach der Lehre der Physiognomiker die Phantasie zu thronen pflegt. Auch mochte man die Gewohnheit des Fräuleins tadeln, die Augenlider oft halb zu schließen und dadurch den ohnehin nicht großen Durchmesser der Pupille noch zu verkleinern. Aber wer durch diese halb geschlossenen Lider hindurch dann einen Blick empfing, der wie ein leicht beschwingter Pfeil scharf ins Ziel geflogen kam, der fand gewiß nichts mehr zu tadeln an diesen Augen. Die Hautfarbe der jungen Patrizierin hätte brillanter, rosiger sein dürfen. Zwar im heiteren Gespräch belebten sich die Wangen, doch wenn das Fräulein ernst zur Seite blickte, stillen Gedanken nachhing, was selbst hier auf dem Balle einige Male zu geschehen schien, dann hatten die weichen Wangen einen seltsam matten, weißlichen Glanz, eine Art Perlgrau, das auch Hals, Nacken und Arme zeigten. Mochte nun ein Maler in dieser Weise einige begründete Kritik an der Erscheinung der Neunzehnjährigen üben, so hätte doch derselbe Maler, wenn er etwa auf den Einfall geraten wäre, eine Eva zu malen, sich für eine solche Verkörperung des Weibes nach seinem innersten Wesen kein besseres Modell wünschen können als dieses Mädchen, dessen biegsam geschmeidiger Leib alles in sich zu schließen schien, was im Begriff des echten Weibes liegt, Tugenden und Schwächen, die seit Anbeginn der Menschheit dem Mannesverstande so viele schwer lösbare Rätsel aufgegeben haben.
Dr. Almeneuer hatte mit Recht bedacht, daß ein Ball nicht dazu da sei, dem Manne nur die stumme Betrachtung solchen Zaubers aus der Ferne zu gestatten, und so war er denn mit herzhaftem Entschlusse auf die Gestalt zugeschritten, der seine Blicke von dem Moment an gehuldigt, da er sie erspäht hatte. Wußte er auch ihren Namen nicht, – was tat's am Ende? da sie wohl im stillen voraussetzen konnte, er kenne denselben, und da er auf jeden Fall seinen eigenen Namen nennen und seine Karte überreichen wollte.
So war er denn auf einmal, da sie soeben nach einer beendigten Mazurka von ihrem Kavalier an ihren Platz war zurückgeleitet worden, an sie herangetreten, hatte mit artiger, doch vielleicht nicht genügend tiefer Verbeugung zu ihr die üblichen Worte gemurmelt: »Erlauben Sie, mein Fräulein, daß ich mich Ihnen vorstelle; mein Name ist Dr. Almeneuer,« und hatte sie dann gefragt, ob es ihm gestattet sei, sich für den nächsten Tanz oder für einen späteren in ihre Ballkarte einzuzeichnen.
Das junge Mädchen hatte ihn kommen sehen und für einen Augenblick war über ihr Antlitz etwas wie Wohlgefallen geglitten an der männlich stolzen Haltung des Mannes, der auf sie zuschritt. Als er jedoch vor ihr stand und seine Vorstellung und die darauf folgende Aufforderung beendigt hatte, nahm sie seine Visitenkarte, die er hinhielt, nicht an, sah für einen Augenblick ihm mit fast strenger Miene ins Antlitz und sagte dann, indem sie die blonden Wimpern senkte und auch nicht dem leisesten Lächeln eine freundliche Milderung ihrer Ablehnung gestattete, mit ruhiger Stimme: »Meine Tanzkarte hat keine leere Stelle mehr.« Und das Neigen des Kopfes, mit dem sie das letzte Wörtchen begleitete, war eine so entschiedene Gebärde der Ablehnung jeder allfällig weiter sich fortspinnenden Unterhaltung, daß dem jungen Manne, während er mit einer kurzen stummen Verbeugung sich verabschiedete, vor Unmut über eine so weit getriebene Zurückhaltung der jungen Patrizierin, das Blut in den Kopf schoß.
Trotz allem Ärger hatte er jedoch nicht vermocht, sie an diesem Abend aus den Augen zu lassen. So lange der Ball dauerte, wußte er immer ganz genau, wo im Saale sie sich befand; selbst wenn er nicht nach ihr ausschaute, schien er wie durch magnetischen Zauber ihre Nähe oder Ferne zu spüren. Und einmal, da er wieder zu ihr hinübersah, die sich soeben am Arme eines ihrer Standesgenossen im Walzer wiegte, kreuzten sich ihrer beiden Blicke und Dr. Almeneuer hatte die Empfindung, daß die Augen, die nun schnell hinter dem Fransenvorhang der Lider verschwanden, schon eine ganze Weile auf ihm geruht hatten. Diese Entdeckung, die aber vielleicht doch auf Täuschung hinauslief, hatte noch beigetragen, das Interesse des jungen Mannes für die seine Phantasie mehr und mehr beherrschende Erscheinung zu steigern. Das Fräulein war gleich ihm fast bis an den Schluß des Balles geblieben und hatte dann am Arme eines stattlichen Fünfzigers, wahrscheinlich ihres Vaters, den Saal verlassen. Unmittelbar darauf war auch Dr. Almeneuer die breite Treppe hinabgestiegen und in der frühen Morgenstunde zum Wäldchen am Flusse geeilt, wo er nun als einsam auf- und abgehender Spaziergänger sich über seine Gefühle Rechenschaft zu geben suchte.
»Warum gerade diese?« Das war die Frage, die er mit dem Hauch seines Mundes der kalten Luft des Märzmorgens übergab. Unleugbar waren schönere Mädchen auf dem Balle gewesen als dieses stolze Patrizierkind. Er vergegenwärtigte sich einzelne von ihnen. Da war die von blendenden Reizen strahlende Grethe S**, die Tochter des vermöglichen Eigentümers einer mechanischen Holzschneidefabrik, eine schlanke Blondine, vom Scheitel bis zur Sohle ein entzückendes Bild von Jugendfrische, heiterer Grazie und mädchenhafter Zurückhaltung, wahrlich, ein süßes Geschöpf Gottes, dem jede Neigung des Hauptes gut stand, jede Bewegung der vollen, edel geformten Arme, die federleicht wie eine Sylphide tanzte und doch bei stattlichem Wuchs reife Fülle des schmiegsamen Körpers offenbarte. Sie war bei weitem die Schönste gewesen im ganzen Ballsaale. Neben ihr waren aber doch auch andere bemerkt worden, so besonders die kleine zierliche Franziska, die Apothekerstochter, ein Mädchen von schwärmerisch-idealem Ausdruck der vornehm geschnittenen Züge, auffallend auch durch den Gegensatz der schweren schwarzen Zöpfe zur Feinheit der Gestalt und zum leuchtenden Blau der Augen, wie es sonst nur bei Blondinen vorkommt. Noch anderer angenehmer Erscheinungen erinnerte sich der junge Mann. Jenes schlanke, etwas blasse Töchterchen einer vermöglichen Witwe, wie sehr hätte ihn das liebliche Kind interessieren können, da dem sanften Mädchen, das wohl einer nur sehr subtilen Gesundheit sich erfreute, das leichte Rot der Wangen, das Glänzen der sonst halb verschleierten Augen einen eigentümlich rührenden Ausdruck verlieh. Die Hingebung eines solchen zarten Wesens hat für den starken Mann oft wunderbare Zauberkraft. Aber, wie sehr sich auch Dr. Almeneuer dieses holde Kind und alle die anderen freundlichen und angenehmen Tänzerinnen dieser Ballnacht vergegenwärtigte – immer wieder kehrten seine Gedanken zu der Einen zurück, die seinen Arm nicht angenommen hatte.
Ist's Eigensinn? fragte er sich. Er hatte diesen Charakterzug sonst nicht an sich entdeckt.
Oder blendet dich ihr gesellschaftlicher Rang? Der junge Mann lachte auf bei der bloßen Supposition dieses Gedankens. Ihm, der einst nahe am Gletscher oben seine Geißenherde gehütet hatte, ihm, dem einfachen Sohn der Hütte, schien eine solche Voraussetzung ganz absurd. Denn, wenn er zunächst gemäß seiner Herkunft sozusagen naiver Demokrat gewesen, so war während seiner Studienzeit diese ihm angeborene demokratische Lebensauffassung längst auch grundsätzlich, infolge reifen Denkens, ihm zur zweiten Natur geworden. Adelsprätensionen in einem freien Lande hielt er für nichts anderes als gleichsam für einen merkwürdigen antediluvianischen Knochen, den man im Museum vorzeigt. Einst, ja einst stöhnte die Erde unter der Last solcher ungeheurer Tiere und ungemütlich mochte es sein, neben Mammut und Riesenhirsch als kleine Existenz seinen Pfad sich zu suchen. Aber das war ja alles längst vorüber, in der Natur wie in der Geschichte. Vorsintflutliche Stoßzähne und mittelalterliche Ritterschwerter – die waren seit geraumer Zeit stumpf geworden. Eine von solchen Räubergiganten ziemlich gut gesäuberte Erde lag im Lichte des Sonnenscheins des neunzehnten Jahrhunderts, im Lichte des über die rohe Materie siegenden Menschengeistes. Was war da noch alles Tändeln mit alten Ritterwappen anderes als ein in ernsthafte Lebensverhältnisse törichterweise übertragenes Fastnachtsspiel?
Und nicht einmal an jene Reinhaltung guter Rasse glaubte er, auf die sonst der moderne Adel Wert legt. Er kannte solche junge Adelige, die man, wenn sie im schwarzen Frack steckten, ohne weiteres für Kellner ansehen mußte, andere die dem Portier ihrer Eltern verzweifelt ähnlich sahen. Er bemerkte wohl auch manche stattliche Figuren in dieser exklusiven Schar; aber da war dann wieder häufig die Talentlosigkeit, die geistige Nullität, ihre Unbrauchbarkeit zu jeder tüchtigen Arbeit eine notorische. Mit vollem Bewußtsein ermaß er dagegen den Wert des niedern Volkes und insbesondere des einfachen Landvolkes für die Auffrischung der ganzen Gesellschaft. Zwar war es ihm nicht verborgen geblieben, wie durch Armut und Darben eine schwere Menge der Plebejer seines Landes leiblich dahinsiechte. Aber da gab es doch auch urwüchsige Naturen, wie er selbst, denen alle Entbehrungen der frühen Jugend den gesunden Aufwuchs nicht hatten verkümmern können. Und in der Zufuhr solcher kraftvoller Elemente aus einem gleichsam jungfräulichen Boden erkannte er die Rettung der Gesellschaft, die ohne solche Elemente abdorren würde, wie ein Weinberg stirbt, in den nicht von Zeit zu Zeit neue Reben eingesenkt werden. Die Menschheit braucht den Neumenschen, den » homo novus«, wie ihn die Römer nannten, die mit diesem Ausdruck freilich eine gewisse Geringschätzung verbanden. Aber Dr. Almeneuer wußte, was ein solcher Neumensch auszurichten vermochte. Stund nicht auf einem Hügel oberhalb der Stadt das erzgegossene Brustbild eines Staatsmannes, der auch einst als Bauernknabe in die Stadt gekommen war und dem später das Land die erfolgreichste Umwälzung verdankte und daher auch die höchsten Ehren zugestand?
Nein, nein! ihr Adel imponiert mir nicht! sagte sich der junge Mann. Ich bin so adelig wie sie, gerade so, wie jeder Tag, nicht bloß der Sonntag, ein Gottestag ist!
Aber je schärfer auf diese Weise Dr. Almeneuer seine Empfindung zu analysieren versuchte, desto rätselhafter wurde ihm dieselbe, bis er endlich, unwillig mit dem Fuß stampfend, sich selbst zurief: Ein Narr bist du! Ein Narr! – Denn das wollte er nun einmal nicht einsehen, daß bei der so wunderbaren Zusammensetzung des Menschen aus unendlich vielen, dem Einzelnen selbst verborgenen Elementen, oft zwischen zwei Menschen durch ein ihnen unbewußtes Wirken dieser Elemente eine Zuneigung zu entstehen vermag, die aller logischen Zergliederung spottet. Hätte man ihm dergleichen gesagt, so würde er es poetische Schwärmerei genannt und nicht geglaubt haben. Denn ihm selbst war es nur in der Klarheit wohl, wie die Forelle am liebsten im hellen Bergbache wohnt.
Bei aller dieser Abneigung gegen Schwärmerei brach er nun doch, wie ein verliebter Page, vom nächsten Weidengebüsch Zweige der gelben stäubenden Dolden und steckte sie sich, halb träumend, ins Knopfloch seines Frackes. Und wohin er eigentlich die Schritte lenkte, war ihm gänzlich unbewußt, bis, weiter oben am Flusse, wo eine Fähre zum andern Ufer hinüberleitet, der im Schiffe schon früh mit Angeln beschäftigte Fährmann ihn plötzlich anrief, ob der Herr vielleicht wolle übergesetzt sein.
Ohne zu antworten trat er in das schwankende Fahrzeug. Dann, als er drüben war, stieg er, immer in Gedanken verloren, den schmalen Pfad des Uferhügels hinan, kam auf die Landstraße, die durch ein Dörfchen führte und wandte sich zuletzt rechts einwärts, einen Berg zu besteigen, der als höchste Erhöhung die südliche Seite der Stadt beherrscht. Die Sonne war inzwischen in aller Herrlichkeit über der Landschaft aufgegangen und mit ihrem Heldenlichte zog sie triumphierend ein in den Wäldern der Höhenzüge, in den glitzernden Fenstern der ländlichen Gehöfte, und in den Mauern der im Rücken des einsamen Morgenwanderers liegenden, jetzt erwachenden Stadt.